Ägypten ist tief gespalten

Islamisten und ihre Gegner stehen sich unversöhnlich gegenüber

Kirchenvertreter: Umsturz in Ägypten war nicht anti-islamisch

Muslim: “Beten Sie, dass Jesus Ägypten von den Muslimbrüdern befreit”

Ägypten ist tief gespalten – Islamisten und ihre Gegner stehen sich unversöhnlich gegenüber – Eindrücke aus Kairo. Von Oliver Maksan

Kairo, Die Tagespost, 1. Juli 2013

Das mit so viel Anspannung erwartete Wochenende hat Ägypten einigermassen glimpflich überstanden. Die bürgerkriegsähnlichen Zustände, die befürchtet worden waren, sind ausgeblieben.

Mehr als eine Million Menschen sollen im ganzen Land auf die Strasse gegangen sein, schätzt die Armee. Mindestens sieben Tote und einige hundert Verletzte waren dabei zu beklagen. Viel war darüber spekuliert worden, wie gewalttätig die angekündigten Demonstrationen zum ersten Jahrestag des Amtsantritts Muhammad Mursis als Präsident Ägyptens enden würden. Die Ermordung eines 21-jährigen US-Amerikaners in Alexandria am Freitag jedenfalls verhiess für Ausländer nichts Gutes. Viele von ihnen verliessen fluchtartig das Land. Angeblich soll es keinen freien Platz mehr für Flüge nach Europa und in die USA gegeben haben. Vorsorglich hatten sich viele Ägypter mit Lebensmitteln eingedeckt und mit Geld aus dem Automaten versorgt. Die Krankenhäuser des Landes waren in Alarmbereitschaft. Hundertschaften der Polizei und des Militärs bewachten kritische Objekte in Kairo wie das Innenministerium. Doch trotz der Vorsichtsmassnahmen ging das öffentliche Leben am Wochenende weitgehend normal weiter. Tatsächlich waren die Teestuben und Kaffeehäuser Kairos mit Schischa-rauchenden Männern auch am Sonntagabend, dem Höhepunkt der Demonstrationen, bis auf den letzten Platz gefüllt. Kinder spielten auf den Strassen. Einzig die Geschäfte rund um den Tahrirplatz hatten ihre Türen am Sonntag vorsorglich geschlossen gehalten.

Seit mehreren Tagen schon kampierten Mursi-Gegner auf dem legendären Platz, wo die ägyptische Revolution im Januar 2011 ihren Anfang genommen hatte. Nervös gaben sich die jungen Leute an den stacheldrahtbewehrten Eingängen gegenüber allem, was nicht ägyptisch oder irgendwie verdächtig aussah. “Sind Sie Israeli?” Eine starke Hand packt die Schulter. Schnell bildet sich eine aufgeregt schnatternde Menschentraube. Viele Ägypter sind fest davon überzeugt, dass der verhasste jüdische Nachbar an der Misere Ägypten mit Schuld trägt. Erst ein Blick in den Pass beruhigt die Lage. Kein Israeli. Der feste Griff lockert sich und wird zum Schulterklopfen. “Ahlan, willkommen zu unserer zweiten Revolution”. Auf dem Platz dann herrscht am Sonntag Volksfeststimmung. Ganze Familien sind mit der ägyptischen Fahne bewaffnet gekommen. Händler bieten Süssigkeiten an. Musik schallt ohrenbetäubend aus den Lautsprechern. “Irhal, hau ab”, ist der Slogan der Mursi-Gegner. Nationalisten, Liberale, Linke und Christen bevölkern den Platz. Ein bunter Haufen ist es, der bald Bilder des Präsidenten Nasser, bald solche Sadats hochhebt. Das Konterfei Mursis wird auf Plakaten auf jede erdenkliche Weise entstellt: als böser, bluttriefender Wolf, als Jude mit Schläfenlöckchen, als Stiefellecker Amerikas. Daneben ist Anne Patterson die meistgehasste Person auf dem Platz. Die amerikanische Botschafterin in Ägypten gilt als Stütze der Muslimbrüder. Immer wieder geht ihr Bild in Flammen auf. Es finden sich viele verschleierte Frauen unter den Demonstranten, darunter solche mit Niqab, dem Gesichtsschleier. Gehören Sie nicht eher auf die andere Seite? “Nein, wir sind zuerst Ägypter. Es geht um unser Land, nicht um Religion. Die Muslimbrüder glauben, sie hätten ein Monopol auf den Islam und erklären alle, die ihnen nicht folgen, zu Ungläubigen. Wir sind aber gute Muslime, dennoch lehnen wir Mursis Kurs ab”, sagt eine Vollverschleierte mit glühenden Augen. Am Stand der Graswurzelbewegung “Tamarod”, die in den letzten Tagen über 22 Millionen Unterschriften für den Rücktritt des Präsidenten gesammelt haben will, stehen westlich gekleidete junge Leute. Wer sollte denn Mursi angesichts der Zerstrittenheit der Opposition nachfolgen? “Das ist mir egal”, meint der 28-jährige Hani Garas. “Ich habe letztes Jahr in der ersten Runde für den linken Nasseristen Hamdin Sabbahi gestimmt. Optimal ist keiner der Kandidaten gewesen. Mit Mursi haben wir aber sicher den schlechtesten bekommen. Alles ist besser als er.”

Aktivisten der koptischen Maspero-Jugend sind auch auf dem Platz. So wie der 26-jährige Kamil Michael aus Kairo. “Das ist nicht unser Präsident. Wir Christen werden zu Bürgern zweiter Klasse. Mursi arbeitet nur für die Macht der Muslimbruderschaft. Er muss abtreten.” Eine katholische Ordensschwester aus Ägypten, die ungenannt bleiben möchte, ergänzt: “Freiwillig wird Mursi nicht gehen. Aber er muss. Er hat jetzt ein Jahr Zeit gehabt. Aber statt besser wird alles immer schlimmer hier. Wir Christen haben so viel Hoffnung, dass diese Demonstrationen zum Erfolg führen.” Ein muslimischer Passant erkennt das Ordensgewand. “Jesus war als Baby hier in Ägypten”, sagt er zur Schwester. “Bitte beten Sie zu ihm, dass er uns heute von den Muslimbrüdern befreit.” Die Schwester nickt freundlich. “Hier sind Christen und Muslime gegen Mursi vereint. Und alle sind freiwillig hier”, sagt sie und zeigt auf die Zehntausenden ringsherum. “Die Muslimbrüder hingegen sind zu ihrer Demo aus ganz Ägypten mit dem Bus angekarrt worden. Viele Unterstützer hat man auch mit ein paar hundert Pfund motivieren müssen zu kommen.”

Fahrt zu den Muslimbrüdern und Salafisten. Ägypten ist bis in die U-Bahn hinein gespalten dieser Tage. Anhänger und Gegner des Präsidenten liefern sich hier hitzige Wortgefechte. Die Islamisten haben sich viele Kilometer vom Tahrirplatz entfernt um eine Moschee im Stadtteil Nasr-City versammelt – oder eher verschanzt. Mehrere Reihen von mit schweren Holz- und Eisenstöcken bewaffnete Bärtigen muss man passieren, um das Gelände betreten zu können. Pass- und Taschenkontrollen sind obligatorisch. “Wir haben diese Stöcke nur, um uns zu verteidigen”, sagt einer, der die Zweifel im Blick des Besuchers sieht. “Wir werden hier nicht weggehen. Wir werden auch niemanden angreifen. Wir sind aber dafür gerüstet, wenn es die andere Seite tut.” Von überall hört man, dass Kräfte des alten Regimes Unruhe schüren wollen.

Dennoch ist die Stimmung auch hier gut und entspannt. Fellachen aus Oberägypten führen ihre traditionellen Gruppentänze auf. Hunderte Männer dösen Seit’ an Seit’ in den Zelten. Die Sonne brennt. Getränke- und Süssigkeitenverkäufer haben regen Zulauf. “Wir sind hier, um den legitimen Präsidenten Ägyptens zu verteidigen”, sagt ein Mann, der Jahre in Frankreich gelebt hat. “Hollande in Paris hat im Moment auch niedrige Zustimmungswerte. Aber fordert ihn die französische Opposition deswegen gleich zum Rücktritt auf?” Ein anderer ergänzt: “Die Ägypter haben nicht verstanden, was Demokratie heisst. Man muss eine rechtmässige Wahl akzeptieren. Ja, der Präsident hat Fehler gemacht. Das hat er am Mittwoch in seiner Ansprache zugegeben. Aber man gibt ihm auch keine Chance.” Westliche Besucher sind rar bei der Veranstaltung und fallen schnell auf. Sichtlich sind die Muslimbrüder bemüht, sich im besten Bild darzustellen. Von allen Seiten wird dem Gast Wasser und Saft gereicht. Eine Kappe mit dem Emblem der Bruderschaft soll vor der Sonne schützen. “Spüren Sie den Unterschied zu dem Haufen auf dem Tahrirplatz?”, heisst es immer wieder. “Wir hier halten zusammen. Wir wollen Ägyptens Revolution und Demokratie voranbringen. Die Chaoten vom Tahrir haben keinen Plan für unser Land.” Ein älterer Mann aus Assiut in Oberägypten meint: “Wir wollen keine Türkei hier, wo Staat und Religion getrennt sind. Ägypten ist ein islamisches Land. Nur der Islam ist die Lösung für unsere Probleme.” Eine Gruppe junger Männer hebt zur Unterstützung eine Taschenbuch-grosse Ausgabe des Koran in die Höhe. Im Chor rufen sie: “Wir sind bereit, für unseren Präsidenten unser Leben zu geben”.

Dessen Rücktritt fordert das Oppositionsbündnis “Tamarod” auch nach den Protesten zum 30. Juni. Mursi, so heisst es auf der Internetseite der Organisation am Montag, habe bis Dienstag, 17 Uhr, Zeit, die Macht abzugeben und Neuwahlen vorzubereiten. Ansonsten werde es eine “Kampagne des vollständigen zivilen Ungehorsams geben”. Ägypten bleibt gespalten.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel