“Bewusstsein erschreckend degeneriert”

20 Jahre Abtreibungsurteil

Die Tagespost, 31. Mai 2013, von Clemens Mann

20 Jahre Abtreibungsurteil: Der Jurist Christian Hillgruber sieht schwerwiegende Defizite bei der Umsetzung.

Herr Professor Hillgruber, vor 20 Jahren hat das Bundesverfassungsgericht Abtreibung für rechtswidrig, aber straffrei erklärt. Jetzt hat der ehemalige Verfassungsrichter Ernst-Wolfgang Böckenförde kritisiert, dass der Staat seine “Beobachtungspflicht” in dieser Frage verletze und zu wenig für den Lebensschutz tue. Stimmen Sie dem zu?

Ich teile die Einschätzung vollständig. Es haben sich die Erwartungen, die der Senat damals mit dem Beratungskonzept verbunden hatte, nicht erfüllt. Zwar ist die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche in absoluten Zahlen rückläufig, doch ist dies im Wesentlichen darauf zurückzuführen, dass zugleich die Zahl der Frauen im gebärfähigen Alter zurückgegangen ist. Rechnet man diesen Effekt heraus, dann kann man sogar noch von mehr Abtreibungen sprechen. Durch die Beratung sollte aber die Bereitschaft, das Kind auszutragen, substanziell erhöht werden. Und das hat sich nicht erfüllt. Das liegt daran, dass man die Beratung nicht wirklich ernst nimmt.

Welche Korrekturen sind notwendig?

Es wäre angebracht, dass die Beratungsstellen, die einen Schein ausstellen, einer sorgfältigen Überprüfung unterzogen werden. Es gibt erhebliche Zweifel, ob Beratungsstellen wie Pro Familia, – wie es das Gesetz vorsieht – eine ergebnisoffene, aber zum Schutz des Lebens orientierte Beratung anbieten. Pro Familia wirbt auf ihrer Internetpräsenz offen damit, dass Frauen sich in der Beratung in keiner Weise rechtfertigen müssten und auch nicht bedrängt würden, ihre Gründe zu nennen oder ihre bereits getroffene Entscheidung zu ändern. Man kann hier nicht von ernsthaften Bemühungen sprechen, die Frau von einer Abtreibung abzuhalten und ihr Wege für ein Leben mit Kind aufzuzeigen.

Müsste Pro Familia aus diesem Beratungskonzept rausfliegen?

Wenn Pro Familia die Beratung so betreibt, wie es die Organisation derzeit ganz offen bewirbt und bekennt, ja.

Bräuchte es in Sachen Abtreibung nicht auch einen Bewusstseinswandel?

Ja, selbstverständlich. Es muss wieder in das Bewusstsein der Bevölkerung gerückt werden, dass es sich bei dem Embryo im Bauch der Mutter um ein eigenständiges menschliches Wesen handelt, das ein eigenes Recht auf Leben und eine eigene Würde hat. Umfragen zeigen, dass dieses Rechtsbewusstsein erschreckend degeneriert ist. Ich persönlich glaube, dass dazu auch die Formel “rechtswidrig, aber nicht strafbar” beigetragen hat. Diese Konstruktion ist für Juristen nachvollziehbar, für Laien aber nur schwer verständlich.

Müsste diese Konstruktion nicht dann komplett zur Diskussion gestellt werden?

Ja, denn es gelang ja nicht, es so umzusetzen, wie es konzipiert und gedacht war. Und das liegt am mangelnden Willen des Gesetzgebers, der es verwässert hat. Viele Hinweise des Bundesverfassungsgerichts zum Lebensschutz wurden nicht umgesetzt. Ein Beispiel: Der Zweite Senat hatte nahegelegt, dass man den Vater des Kindes in das Beratungsgespräch miteinbezieht. Ich halte das für sinnvoll, weil häufig nicht zuletzt aus dem persönlichen Umfeld der Frau Druck hin zur Abtreibung ausgeübt wird und es gleichzeitig ein Signal gewesen wäre, dass der Vater selbstverständlich in gleichem Masse Verantwortung für das Leben des Kindes trägt. Doch das hat man nicht berücksichtigt. Das wirkliche Problem ist aber doch, dass das Beratungskonzept derzeit nicht das leistet, was das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Letztlich steht es der Frau am Ende frei, sich für oder gegen das Kind zu entscheiden. So überträgt man aber die Entscheidung über die Fortexistenz einer anderen menschlichen Person, die sich noch dazu nicht selbst dazu äussern kann und für den sich niemand stark macht, an jemanden, der selbst am Schwangerschaftskonflikt beteiligt ist. Das halte ich auch von der Grundstruktur nicht für akzeptabel. In einem Nachbarschaftskonflikt würde ja auch niemand auf die Idee kommen, einem der Nachbarn das Entscheidungsrecht darüber zu gewähren, ob der Baum an der Grundstücksgrenze gefällt werden muss oder nicht. Jemand, der mit Eigeninteressen beteiligt ist, kann nicht unparteiisch diesen Konflikt entscheiden.

Warum nimmt sich die CDU, die ja das “C“ im Namen trägt, nicht diesen Mängeln an?

Für den Schutz ungeborenen menschlichen Lebens sollte man sich auch dann einsetzen, wenn man keine tiefe christliche Überzeugung hegt. Denn es handelt sich hier um geltendes Verfassungsrecht. Abtreibung ist natürlich eine politisch hochumkämpfte Materie. Und in der Union besteht nicht die geringste Neigung, sich hier die Finger zu verbrennen oder entschieden Partei zu ergreifen. Ich selbst bedauere das ausserordentlich. Denn mit einer klareren Haltung könnte man durchaus auch Wähler mobilisieren. Die Unionsspitze scheint aber der Auffassung zu sein, dass man an solchen Fragen lieber erst gar nicht rühren sollte.

Eine Antwort auf “Bewusstsein erschreckend degeneriert”

  • Altkatholik:

    Da will der Herr Professor die katholische Moraldoktrin per Strafgesetzbuch allen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes aufzwingen.

    Bin gespannt, ob das gut geht. Nach den letzten Verlautbarungen des Kassationshofes zu Themen, bei denen die Religionen konstante Neinsager waren, wie zum Beispiel bei der Eheschliessungen gleichgeschlechtlich Liebender, ist zu befürchten, dass die Durchsetzung katholischer Doktrin auch bei Schwangerschaftsabbrüchen im Strafgesetzbuch nicht klappen wird.

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