Asche – nicht Staub, sondern fruchtbarer Dünger
Eine Erwiderung auf die sogenannte “Pro-Vokation” von Abt Martin Werlen OSB
Ein Gastkommentar von Michael Gurtner
Salzburg, kath.net, 30. November 2012
Der gegenwärtig amtierende Abt von Einsiedeln hat mit seiner jüngsten Schrift, welche er selbst als Pro-Vokation bezeichnet, einen Text vorgelegt, welchen er selbst als Arbeitspapier verstanden sehen will, welches er kritisiert und diskutiert sehen möchte. In diesem heisst es zwar eingangs, dass sich dessen Zeilen nicht als Lösung verstehen, aber doch auf Wege hinweisen möchten, welche man beschreiten solle. Es ist also nicht die Lösung selbst, zeigt aber den Weg zur Lösung auf.
Bei der Lektüre des Textes stellt man schnell fest, dass die darin enthaltenen Gedanken tatsächlich keine wirklichen Lösungsansätze beinhalten, welche die Kirche aus der Krise führen könnten, die sie derzeit zumindest im Okzident durchlebt. Der Text des Abtes löst also keine Probleme, sondern im Gegenteil, er ist selbst Teil eines gravierenden Problems, welches die Kirche derzeit in Europa hat. Die Broschüre will den Weg aus der Krise weisen, doch die im Text angezeigte Richtung führt gerade nicht aus der Krise heraus, sondern nur noch tiefer in diese hinein. Gerade auch wegen solchen theologischen Ansätzen, wie wir sie in der Pro-Vokation des Benediktinerabtes finden, stehen wir da, wo wir eben nun stehen. Nicht zuletzt ist dieser Text, wenn man ihn im Kontext des aktuellen kirchlichen Zeitgeschehens sieht, auch eine mehr oder minder offene Kritik an der Position des Apostolischen Stuhles und an jenen Priestern und Bischöfen, welche diese Positionen teilen. Die Anspielungen auf manche kirchliche Personen sind offensichtlich.
Die Broschüre gäbe viel Stoff zur Debatte, welche in diesem Rahmen freilich nicht sehr ausführlich stattfinden kann. Allerdings treten in ihr einige Grundlinien des Denkens deutlich zum Vorschein, welche nicht allein die des Abtes sind, sondern in manchen Gegenden und in manchen mehr oder minder kirchlichen Kreisen gleichsam Allgemeingut sind – mitsamt allen enthaltenen Mängeln. Deshalb erscheint es angebracht, diesen Text zum Anlass zu nehmen, auf einige grundlegende Defizite hinzuweisen, welche gewiss nicht auf den diskutierten Text alleine zutreffen, sondern welche bereits weite Kreise gezogen haben. Dies kann freilich nur an einigen punktuellen Beispielen geschehen.
Die Krise ist schwerpunktmässig eine ekklesiologische
Die Krise der Kirche ist vielschichtig, weil viele verschiedene Bereiche, welche betroffen sind, untereinander eng verwoben sind. Wenn wir aber einen dogmatischen Kernpunkt des Problems benennen sollten, dann ist dieser eindeutig in der Ekklesiologie gelegen, was sich freilich in sämtlichen damit verbundenen Bereichen niederschlägt. Von daher könnten wir sagen, daß sich die Kirche in manchen Ländern – und ein geographischer Schwer- und Ausgangspunktpunkt ist da sicher in den D/A/CH-Ländern zu finden – in einer Art Identitätskrise befindet. Eine Identitätskrise in der Kirche führt aber auch zwangsläufig weiter zu einer Identitätskrise des Klerus. Der Beginn dieser Entwicklung ist ausgerechnet nach dem letzten Konzil zu finden, in welchem die Kirche besonders über sich selbst nachdenken wollte, wobei sie auf andere Glaubensrichtungen schielte und auf Kompromissformulierungen abzielte, was für den Moment vielleicht Probleme verdeckte, die aber nun ob mangelnder Eindeutigkeit und verschiedenen Interpretationsansätzen, welche die Texte an sich zulassen, mit noch mehr Wucht zutage treten.
Dass die gegenwärtige Krise in den westlichen Ländern eine vornehmlich ekklesiologische Krise ist, spiegelt sich deutlich im Arbeitspapier des Abtes wieder. In diesem wird ein allgemeines Problem konkret: es ist nicht mehr klar, was die Kirche ist, worin deren Auftrag gelegen ist und worin ihr Ursprung, die Rolle des Amtes ist folglich ebenso betroffen wie die Frage, was die Quellen theologischer Erkenntnis sind.
Das Gift wird mit der Aufschrift Medizin verabreicht
Von der formalen Seite her ist besonders darauf hinzuweisen, dass im Dokument eine Mischung von richtigen Konstatationen mit falschen Schlussfolgerungen vorliegt, was den Text zu einer verführerischen Mischung, einer Art “süssem Gift” werden lässt. Das Gift wird im Glas mit der Aufschrift “Medizin” verabreicht, nachdem teilweise richtige Diagnosen gestellt wurden. So ist beispielsweise die Aussage an sich richtig, dass das Auswahlverfahren der Bischöfe neu überdacht und überarbeitet werden müsste – doch der entsprechende Vorschlag für eine Verbesserung geht haargenau in die falsche Richtung.
Ebenso ist anzumerken, dass sich der Autor der sogenannten Pro-Vokation zwar den Anstrich einer grösstmöglichen Neutralität geben möchte, indem er sich gewissermassen über- oder ausserhalb der Kategorien “Progressiv” und “Konservativ” gestellt sieht, allerdings schlägt er sich letztlich eindeutig auf die Seite der Progressiven, wobei er diese Positionen durch Bezugnahme auf Texte und Personen, welche bei den “Konservativen” allgemein anerkannt sind, ebenso “konservativ” tünchen möchte.
Diese Aspekte sollte man bei der Lektüre des Textes unbedingt vor Augen behalten. Im Folgenden wollen wir nicht eine Forderung nach der anderen Stück für Stück behandeln – dazu würde es genügen, zu den einzelnen Themen entsprechende Beiträge zu suchen und zu studieren, weil es Themen sind welche seit Jahren und Jahrzehnten immer wieder hervorgewürgt und wiedergekaut werden -, sondern wir wollen anhand einiger Beispiele das unter dem Text schlummernde Kirchenbild etwas freilegen.
Ein Problem gilt erst dann als gelöst, wenn es der gewünschten Entscheidung zugeführt wurde
Mit dem eben Gesagten, nämlich dass es um Themen geht, welche seit Jahren und Jahrzehnten immer wiedergekaut werden, ist dabei auch schon der erste Punkt angesprochen: der Abt sagt in Nummer V wörtlich: “Es gibt Kirchenmänner, die heute darüber klagen, dass seit 40 Jahren immer die gleichen Probleme thematisiert werden. Das sollte eigentlich einen durchschnittlich intelligenten Menschen nicht überraschen. Die gleichen Probleme werden immer wieder thematisiert, weil sie noch nicht gelöst sind“.
In Wirklichkeit steht der Gedanke dahinter, dass ein Problem erst dann gelöst sein kann, wenn es der gewünschten Entscheidung zugeführt wurde. Um genau zu sein ist dieser Hintergedanke bei beiden “Richtungen” zu finden. Mit diesem Ansatz jedoch entsteht eine Pattsituation, weil es immer eine Seite geben wird, welche mit der Entscheidung – wie auch immer sie ausfällt – nicht zufrieden ist, und deshalb diese Frage als ungelöst betrachtet und folglich einen Handlungsbedarf sieht. So ist für die einen die Frage nach dem Frauenpriestertum längst eindeutig und endgültig gelöst, für die anderen eben genau nicht. Wäre die “Entscheidung” (welche im Grunde keine solche ist, weil in diesem Falle eine absolute Bindung besteht) anders ausgefallen, so wäre diese für diejenigen eine “gelöste” Frage, welche jetzt meinen sie wäre ungelöst und umgekehrt. Gibt es also keine objektiven Kriterien, ob eine Frage noch gelöst oder ungelöst ist? Ist immer alles noch offen? Steht immer “gelöst“ gegen “ungelöst“?
Wenn man auf einer subjektiven Ebene stehenbleibt, dann wohl schon. Und genau darin ist das dahinterstehende Grundproblem gelegen: man hat die objektive theologische Ebene verlassen, und zieht alles auf eine reine Wollens-Ebene, deren Massstab nicht mehr die objektive Offenbarung Gottes ist, welche in der Theologie ergründet wird, sondern man begibt sich auf die Ebene der gesellschaftlichen Soziologie. Die Kirche soll im Grunde der öffentlichen staatlichen Gesellschaft nachgebaut werden. Um den Glauben geht es nur den Worten nach, gleichsam als Deckmantel um die Existenz der Kirche rechtfertigen zu können. Diese wird jedoch im Grunde durch Vorschläge wie jene der pro-Vokation in ihrem Glaubensgut vollkommen ausgehöhlt. Das entscheidende Kriterium, ob eine Frage gelöst ist oder nicht, ist also objektiv feststellbar: die Lösung ist dann erfolgt, wenn die Lehre oder Praxis der göttlichen Offenbarung oder den rechten Ableitungen aus dieser entspricht. Auch die Neuerer werden zwar behaupten, nicht gegen die göttliche Offenbarung zu verstossen, ja diese geradezu erst zu verwirklichen als ob bislang alles gegen den Glauben gestanden hätte, doch ist es schon von den geforderten “Lösungen” und deren Argumentationen her eindeutig, dass sie vom Menschen auf die Offenbarung schliessen und nicht von der Offenbarung auf die Kirche. Auf Grund dieses bereits in der Wurzel unterschiedlichen Grundansatzes – man könnte den einen als theologischen, den anderen als anthropologischen Grundansatz bezeichnen – werden die einen immer das für subjektiv ungelöst halten was objektiv gelöst ist, und umgekehrt.
Veränderungen müssen näher zur Wahrheit führen
Dieser Ansatz wird im Punkt VI noch ein Stück deutlicher und klarer: das immer Neue, das immer Andere wird gewissermassen zum Soll erhoben. Die erschreckende Bereitschaft zur Auflösung theologisch gut begründeter Zusammenhänge wird hier sehr deutlich. Es geht dabei nicht einmal so sehr um die einzelnen Dinge selbst – jemand könnte sagen, die Frage nach der Sichtweise des Ministranten ist eine eher akademische Frage oder ändere für die Praxis wenig –, sondern um die damit verbundenen weiteren Schlussfolgerungen, welche dann am Ende zu einer auch im innersten ihres Wesens verkehrten Theologie führen und in Forderungen oder gar Entscheidungen münden, welche letztlich dem katholischen Glauben direkt entgegenstehen.
Auf das konkrete Beispiel angewandt: die Ministranten sind von ihrer Funktion her tatsächlich der “niedere Klerus“, auch wenn sie gleichsam dessen “Ersatz“ in Abwesenheit sind. Dies findet zurecht, ja geradezu notwendiger Weise auch seinen Niederschlag in der praktischen Handhabung: in deren Kleidung, in der Art und Weise wie die liturgischen Funktionen verrichtet werden, ja auch in der Tatsache, dass es von der Sache her tatsächlich angemessen und richtig ist, diesen Dienst jenen vorzubehalten, welche zumindest theoretisch das werden könnten, was sie ersetzen, nämlich Kleriker.
Man hat diese theologische Herleitung jedoch fallengelassen und die Ministranten somit auf eine rein funktionale Ebene gestellt, wodurch die Zuordnung von Ministrant und Priester einerseits aufgebrochen war, andererseits aber doch nicht ganz aufgehoben, weil sich zugleich auch das ontologische Verständnis des Priestertums in Richtung einer speziellen Funktion eines allen gemeinsam zukommenden Priestertums verlagerte. Die Sichtweise von Ministrant und Priester hat sich zugleich mit der Auflösung der Zuordnung und als Konsequenz von dieser in dieselbe (falsche) Richtung verlagert. Der Ministrant war somit nichtmehr der “kleine Kleriker“, weil auch der Priester nichtmehr als “Kleriker“ verstanden wurde, sondern als eine reine Funktion (oder ein “Dienst“, was nicht in sich selbst falsch ist, aber falsch wird wenn es auf dieses Moment verkürzt wird), der speziell aus der Taufe entwächst und daher irgendwie allen gemeinsam ist, ohne zwischen dem allgemeinen und dem speziellen Priestertum noch genau zu differenzieren.
Somit wurde auch aus dem Ministranten als dem “niedrigen Kleriker“ eine rein funktionale Einrichtung, wie auch der Priester eine reine Funktion wurde. Der Ministrant wurde zum Handlanger dieser “Funktion“, nicht zum Ersatz des nicht vorhandenen niederen Klerus. Es fand also eine Verlagerung von einer theologisch-ontologischen Ebene auf eine funktionale Sichtweise statt. Das führte in weiterer Folge dazu, dass man plötzlich auch meinte: wenn das ein rein funktionaler Dienst ist, bei dem es nur auf das “können“ ankommt und nicht auf das “Sein“, dann kann dieser auch von Frauen ausgeübt werden. Dasselbe rein funktionale, von jeglicher Theologie abgelöste Denken findet sich jedoch auch in der Forderung nach dem Frauenpriestertum, der Pfarreileitung durch Diakone bzw. Laien oder nach der Laienpredigt wieder. Was man für das Priestertum wünschte, nämlich die Öffnung für die Frauen, versuchte man im Kleinen zu beginnen, indem man bei den Ministranten begann. Dadurch wurde aber auch der Idee des Frauenpriestertums der Weg ein Stück weit geebnet. Wir erkennen also dieselbe denkerische Grundlage, und von daher eine gewisse Logik, wenn man von der Forderung nach Ministrantinnen auf die Weihe von Frauen zu Priesterinnen “hinarbeitet“.
An diesem Beispiel, welches auch der Abt bringt, sehen wir ein Stück weit, welche Grundlagen dem Denken über die Kirche zugrundeliegen. Es geht davon aus, dass Veränderungen zunächst einmal als solche gut sind und ja nicht der Eindruck entstehen darf, alles bliebe beim Alten. (Dabei wird aber übersehen, dass auch der gegenteilige Vorwurf mindestens ebenso stark ist: “nichts ist mehr wie es einmal war”).
Es fehlt also an der Frage: waren die bisherigen Änderungen sinnvoll oder gerechtfertigt?
Entsprechen die von Abt Werlen gepriesenen Änderungen nun mehr der Wahrheit Gottes und der Theologie, in welcher diese erforscht wird? Er würde diese Fragen zwar vermutlich mit Ja beantworten, aber die Theologie, auf welche man hier aufbaut,
wäre von komplett anderen Grundpfeilern getragen. Bestimmend für die Veränderungen wäre der gesellschaftliche Konsens: das “Man” wäre ausschlaggebendes Kriterium, nicht “Christus”. Anstatt a priori davon auszugehen, dass gewisse Veränderungen der letzten Jahrzehnte gut und ein “Fortschritt” waren täte es gut, auch einmal die Frage danach zu stellen, ob der Fortschritt nicht manchmal ein “Rückschritt” war und mindestens indirekt am Glaubensabfall mitbeteiligt war, indem er ein falsches Verständnis gefördert und begünstigt hat, welches auch am Glauben der Menschen nagte.
Am Beispiel der Ministrantinnen: hat deren Einführung wirklich dazu beigetragen, das Amtsverständnis in der Kirche besser verständlich zu machen, oder hat es nicht eine feministische Idee begünstigt? Sind die weiblichen Orden dadurch mit mehr Mitgliedern gesegnet worden? Hat man nicht bewusst ein anderes Bild von Kirche zu zeichnen versucht und damit eine Stimmung “und jetzt noch ein Schritt” geschaffen? Hat die Einführung wirklich genügend theologisches Fundament gehabt, oder wurde der Ministrantendienst dadurch nicht irgendwie zu einem “Mitmachen” bei der Liturgie abgestuft?
In der Veränderung wird leider ein gewisser Grundwert gesehen, nicht bloss eine Möglichkeit unter bestimmten Voraussetzungen. Doch dann muss sich jede Veränderung auch zugleich mit dieser selbst erst recht wieder hinterfragen lassen, woraus deren Forderungen entwachsen. Wo etwas (scheinbar oder wirklich) Äusseres geändert wird, entsteht sofort ein Bewusstsein dafür, dass diese Veränderung auf Grund einer tieferliegenden Veränderung in der Sicht des Wesentlichen zustande kam. Deshalb ist die Konstanz ein so wichtiger Faktor. Wo diese verlorenging, ist sie wiederherzustellen. Änderungen haben oft weitreichendere Folgen als man zunächst meint und sind daher nur mit Vorsicht zu gebrauchen, ohne sie freilich auszuschliessen wenn die entsprechenden Voraussetzungen gegeben sind. Veränderungen sind dann gerechtfertigt oder gar nötig, wenn sie aus einer vertieften Erkenntnis der Offenbarung Gottes entstammen. Wird eine Veränderung gefordert, so hat sie – falls sie nicht von vorne herein willkürlich ist – entweder eine andere Motivation als die göttliche Wahrheit und die Angleichung an diese, oder aber die Schlüsse aus der Offenbarung, und damit der Glaube selbst, haben sich verändert. Die Offenbarung als solche ist ebenso unveränderlich wie Gott selbst.
Das gilt sicher in erster Linie für die zentralen Glaubensaussagen und die damit verbundenen Praktiken, aber es führt genauso in die “Verästelungen” und Feinheiten weiter, welche nicht ganz unmittelbar aus der Offenbarung stammen und somit nicht zum Glaubensgut der Kirche im engen Sinne gehören, aber dennoch nicht völlig freischwebend und losgelöst von diesem sind – dazu zählen etwa die Kardinäle.
Eine Ekklesiologie ohne Metaphysik
In der Forderung des Abtes, auch Laien – befristet – in das Kardinalskollegium zu berufen, wo sie das engste Beraterorgan des Heiligen Vaters bilden würden, mit dem Hinweis darauf, dass es sich bei Kardinälen ja um kein Glaubensgut handeln würde, sehen wir deutlich eine Ekklesiologie, welche nicht mehr in der Metaphysik verankert ist. Die Kirche und deren inneren Strukturen werden eindeutig unter vornehmlich praktischen Gesichtspunkten betrachtet, welche dann freilich auch “kreativ” sein können, wie der Abt selbst anregt. Genau solche “kreativen” Ansätze aber sind von der übernatürlichen Wirklichkeit der Kirche losgelöst und allein im menschlichen Geist gegründet. Freilich ist dieser gottgegebener menschliche Geist, welcher sich in Intelligenz und Kreativität ausdrückt, ein Aspekt der Gottähnlichkeit des Menschen – aber eben noch etwas vollkommen anderes als der Geist Gottes selbst, aus welchem die Offenbarung hervorgeht.
Diese lehrt uns, dass das Leitungsamt ein wesentlicher Teil des Weiheamtes ist und nicht unter rein praktischen Aspekten vom Sakrament losgelöst werden kann. Die Bischofsweihe ist die Fülle des Priestertums, weshalb in dieser die Weihegewalten (und somit auch die Leitungsgewalt) erst voll ausgefaltet sind. Der selige Papst Johannes XXIII. hat darum im Jahre 1962 zurecht festgelegt, dass die Kardinäle die heilige Bischofsweihe empfangen müssen. Davon kann zwar dispensiert werden (wobei eine andere Frage ist, ob eine solche Dispens sinnvoll ist; unter Papst Benedikt XVI. wurden sinnvoller Weise auch schon Kardinäle zu Bischöfen geweiht, welche teils weit über 80 Jahre alt sind). Doch selbst diese Kardinäle mit Weihedispens haben mindestens die Priesterweihe empfangen, durch welchen sie ebenfalls Anteil am Leitungsamt haben, wenngleich dieses nicht voll ausgefaltet ist. (Kardinäle, welche lediglich die Diakonenweihe empfangen haben sind seit 1899 Vergangenheit).
Gerade weil Kardinäle eine so potente Aufgabe wahrnehmen, ist die Kardinalswürde an das Weihesakrament zu binden – wodurch die mit dem Kardinalat verbundenen Aufgaben aber auch zu einem dauerhaften Auftrag werden und nicht periodisch abgetauscht werden können. Der Kardinal übt nämlich gerade in seiner Einbindung in die Leitung der Kirche ein geistliches Amt aus, kein weltlich-administratives. Darüber hinaus sind die Kardinäle auch gleichsam der “Klerus der Urbs” und aus diesem entstanden. Das Kardinalat auch Laien zu übertragen würde bedeuten, Weltlichen ein geistliches Amt zu übertragen – ähnlich wie es analog leider und irriger Weise in der Schweiz oft geschieht, dass Laien oder Diakone die Pfarreileiter sind und nicht der Priester. Dies ist keine organisatorische Frage des administrativen Geschicks, sondern eine theologische! Es würde auch nichts nützen, den Vorschlag des Abtes aufzugreifen, aber auf die Bezeichnung “Kardinäle” zu verzichten, da es in der Sache nichts ändern würde.
Solche Vorschläge zeigen deutlich, dass der Denkansatz von Grund auf ein verkehrter ist, da er nicht von der sakramentalen Struktur der Kirche her denkt und die metaphysische Wirklichkeit ausser acht lässt, sondern die Kirche letztlich unter rein weltlichen Aspekten betrachtet und auch dementsprechend “organisieren” will. Der Weisung Gottes wird die Kreativität des Menschen entgegengesetzt.
Der Mensch muss Gott gerecht werden, nicht Gott dem Menschen
Anhand der ausgewählten Beispiele aus der Pro-Vokaton von Abt Werlen haben wir einige Grundfehler im Ansatz aufzeigen können. Den Ausführungen des Einsiedler Abtes liegt nicht der Gedanke zugrunde: “wie müssen wir Menschen uns ändern, damit wir Gott gerecht werden?”, sondern sie implizieren das genaue Gegenteil: “Wie müssen wir die Kirche ändern und Gestalten, mit allem was dazugehört wie Lehre, Moral und Praxis, damit sie dem Wollen und subjektiven Wohlfühlen der Menschen entspricht?” Es genügt wohl, die zugegeben etwas kecke Frage zu stellen, wie wohl das Votum ausgefallen wäre, hätte Moses der um das goldene Kalb tanzenden Menschenmasse die zehn Gebote Gottes zum Dialog mit anschliessender Abstimmung freigegeben.
Zwar sagt Abt Werlen zurecht, dass es nicht darum geht, sich dem Zeitgeist anzupassen – doch die Ideen, welche in dem vorgelegten Text beworben werden, sind eben doch genau diese Anpassung an den Zeitgeist. Ausgangspunkt des Denkens, welches dem Text des Abtes zugrundeliegt, ist nicht Gott, sondern der Mensch. Das Wesen der Kirche ist ihrem strukturellen Gefüge vorgängig. Die hier vorliegenden Pro-Vokationen hingegen verkehren diese Reihung und setzen an den Anfang die Frage, wie es denn die Mehrheit der Menschen gerne hätte. Daraus leitet sich dann eine scheinbare Theologie ab, welche im Grunde genommen aber gar keine solche ist. Man fühlt sich bei der Lektüre des Textes schnell an den Existentialismus erinnert, welcher genau eine solche Verdrehung von Wesen und Existenz vornahm.
Die philosophische Entblössung ist längst auch in kirchlichen Kreisen vollzogen und schlägt sich in einer Profantheologie nieder, welche das objektive Dogma durch subjektives Wollen ersetzt. Die anthropologische Wende Rahners, welche den Menschen an den Beginn aller Theologie setzte, ist längst in das Denken zahlreicher Theologen eingedrungen. Eine solche anthropozentrische Theologie garantiert zwar einen anfänglichen Applaus, doch wird sie schnell fad, weil es ihr an ihrem Eigentlichen fehlt: der Mensch findet darin nicht Gott und dessen Wahrheit, sondern nur sich selbst und sein eigenes Denken, welches aber nicht über sich selbst hinausführt, sondern dort stehenbleibt, wo es sich befindet. Das relationale Gefüge von Schöpfer, Geschöpf und Schöpfung ist aus den Fugen geraten, was zur Folge hat, dass man auch die Ekklesiologie nicht mehr von Gott her betreibt, sondern vom Menschen und seiner zeit- und ortsgebundenen, zufälligen Situation ausgeht. Im Grunde genommen haben wir es mit einer Spielform der sogenannten “kontextuellen Theologie” zu tun, mitsamt all deren Irrtümern in deren fundamentalen Ansätzen, wie etwa der Verengung der Kirche auf eine kulturelle Gruppe, was seinen deutlichsten Niederschlag darin findet, die “Lösung vor Ort” überzubetonen, wodurch die Einbindung in die Gesamt- und Universalkirche (sowohl was die sichtbare, als auch die unsichtbare Kirche anbelangt) verlorengeht. Am Ende würden Nationalkirchen stehen, die untereinander immer weiter abdriften.
Was die Kirche zusammenhält ist letztlich der gemeinsame Glaube, was im Wesentlichen auch eine Uniformität fordert, ohne gewisse kulturelle Prägungen (Volksfrömmigkeit, Lokalriten etc.) dabei völlig auszuschliessen. Das setzt aber ein metaphysisches Kirchenverständnis voraus.
Schluss
Es handelt sich bei den Vorschlägen des Abtes nicht so sehr um falsche Schlussfolgerungen, sondern bereits die Grundlagen sind falsch. Diese falschen Grundlagen haben ihren Ursprung in der irrigen philosophischen Ansätzen, welche sich nahezu alle im deutschsprachigen Raum bildeten und von dort aus in die benachbarten Länder und darüber hinaus ausbreiteten, wenngleich ihr Schwerpunkt doch in den D/A/CH – Ländern geblieben ist, wo deren Verbreitung durch dort herrschende Strukturen, wie etwa das Kirchensteuersystem, begünstigt sind. Diese Forderungen sind Ausdruck eines von Grund auf falschen Ansatzes, wie die Kirche gedacht wird.
Solche Ansätze, welche schliesslich in Vorschlägen und Forderungen wie jenen der Pro-Vokation von Abt Werlen münden, gilt es zu überwinden, weil sie die gegenwärtige Krise des Glaubens nicht überwinden, sondern selbst diese mitverursacht haben und Teil dieser sind.
Dass es nicht so sehr eine Krise der Zahlen ist, anerkennt auch der Abt, wenn er sagt: “Die Situation der Kirche ist dramatisch – nicht nur in den deutschsprachigen Ländern. Dramatisch ist sie nicht nur wegen massiv zurückgehender Zahlen von Priestern und Ordensleuten oder dem kontinuierlichen Rückgang des Kirchenbesuchs. Das sind Fakten, die leicht feststellbar sind. Das wirkliche Problem ist nicht numerischer Natur. Das wirkliche Problem ist: Es fehlt das Feuer! Wer versucht, mit Zahlen aus anderen Kontinenten die Situation gut- oder schlechtzureden, bleibt bei der Asche stehen. Wir müssen uns der Situation stellen und dahinter schauen.”
Allerdings zieht er dann die falschen Konsequenzen und bietet die Ursache des Problems als Lösung an. Es ist nicht die Frage, wieviele Menschen sich auf dem Papier zur Kirche bekennen – das Bekenntnis zur Kirche ist nur im wahren Glauben gegeben. Die Frage ist also nicht: Wieviele Köpfe sehe ich in der Kirche? Sondern: Wieviele Köpfe, die ich in der Kirche sehe, teilen den rechten Glauben? Es ist also die Frage danach, wozu die Menschen in die Kirche kommen, und nicht, ob man alle Sitzplätze füllen kann. Das alleine ist noch zu wenig: Ziel muss es sein, jeden Sitzplatz mit jemandem zu besetzen, der den vollen Glauben der Kirche teilt. Ändert man den Glauben dahingehend, dass das Geänderte von möglichst vielen geteilt wird, hat man nichts erreicht sondern viel verloren, weil es nicht mehr das ist, was das Glaubensgut der Kirche ist. Die Kirche ist keine Demokratie und kann niemals eine solche sein.
Die eigentliche Diskussion, welcher es derzeit bedarf, ist weitab von den angesprochenen Themen. Nicht: “was müssen wir verändern?“ ist die Frage, sondern: “was haben wir verloren, was für den Glauben aber notwendig und förderlich war“?
Wenn wir also das ausgelöschte Feuer neu entfachen wollen, um im Bild des Abtes zu bleiben, dann müssen wir es nicht neu erfinden – so wird kein Feuer entstehen. Viel zielführender wird es aber sein, die Alten zu fragen, wie sie es am Lodern hielten, um es ihnen dann im Wesentlichen gleichzutun.
Mag. theol. Michael Gurtner ist katholischer Theologe aus der Erzdiözese Salzburg
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