Die Familie als Paradies der Kinder
Beim Fest wurde Benedikt XVI. ganz persönlich
Aber auch zwei Beben überschatteten den Aufenthalt des Papstes in Mailand. Von Guido Horst
Mailand, DT, 4. Juni 2012
Als die kleine Cat Tien aus Vietnam dem Papst ihre Eltern und ihren Bruder vorstellt und ihn bittet, etwas von seiner Familie zu erzählen – aus der Zeit, “in der Du so klein warst wie ich” –, da wird Benedikt XVI. zum Grossvater, oder Urgrossvater, den die Erinnerung wieder einholt. Und vor den knapp vierhunderttausend Jungen und Mädchen, Müttern und Vätern, Omas und Opas, die auf dem Flughafengelände Bresso bei Mailand zusammengekommen waren, zeichnet der Papst das Bild einer einfachen Familie auf dem Land nördlich von Salzburg, die für ihn, den siebenjährigen Bub, das Paradies auf Erden war. Das gemeinsame Singen, Beten und Essen, der Vater, der auf der Zither spielte, die Wanderungen und Spaziergänge im Wald, die Spiele und kleinen Abenteuer, vor allem aber die Freude und gegenseitige Liebe, die die Eltern und die drei Geschwister untereinander verband.
Es war das vielleicht persönlichste Zeugnis, das in diesen Tagen des siebten Weltfamilientreffens in Mailand zu hören war. Es kam von Papst Benedikt selber. Mit “Ciao, Papa” hatte ihn die kleine Cat Tien begrüsst. Und dieser hatte nicht als Papst, sondern als Grosspapa geantwortet. “Wir waren glücklich2, schloss der Papst, “und ich denke, im Paradies dürfte es so sein wie in meiner Jugend. In diesem Sinn hoffe ich ,nach Hause‘ zu kommen, wenn ich ,in den anderen Teil der Welt‘ gehe.” Dabei hatte es in Mailand bis zu diesem Samstagabend viele Zeugnisse gegeben. Seit Beginn des Treffens am Dienstag nach Pfingsten waren die unterschiedlichsten Stellungnahmen zum Thema Familie zu hören – soziologische, theologische, kulturelle. Sehr persönlich war es dann jetzt geworden, beim “Fest mit den Familien der Welt” auf dem Flughafen von Bresso, wo Papst Benedikt frei und ohne Manuskript auf die Worte der kleinen Cat Tien und vier weiterer Ehepaare antwortete.
Aber so, wie während der drei Tage des Aufenthalts von Benedikt XVI. in der ambrosianischen Diözese trotz oft bewölktem Himmel ein schwül-warmes Wetter auf das Familienfest drückte, so hing über dessen Teilnehmern noch eine andere dunkle Wolke. Selbst die Tausende, die aus dem Ausland nach Mailand gekommen waren, hatten inzwischen erfahren, dass in Rom, im Vatikan, Dinge geschehen waren, die den Papst schmerzlich getroffen hatten.
So war es kein Wunder, dass alle Begegnungen mit Benedikt XVI. zum Anlass wurden, ihm mit Applaus, Sprechchören oder expressis verbis, wie es der Mailänder Kardinal Angelo Scola mehrfach tat, Solidarität und Zuneigung zu zeigen. Dass fast alle Samstagszeitungen nach der Ankunft des Papstes in der lombardischen Hauptstadt am Vorabend Titel wie “Mailand umarmt den Papst” gewählt hatten, war dabei unter- und übertrieben zugleich. Denn nicht nur Mailand umarmte den Papst, sondern Gläubige aus aller Welt. Aus allen fünf Kontinenten und insgesamt 153 Nationen waren Delegierte zum Familienkongress gekommen – auf dem Domplatz, wo Benedikt XVI. am Freitagabend eine gewaltige Menschenmenge begrüsste, fiel vor allem die starke Präsenz von Lateinamerikanern und Afrikanern auf. Zugleich übertrieben waren die euphorischen Titel mit der “Umarmung Mailands”, weil auch die Hauptstadt der Lombardei zu einer der vielen post-christlichen Metropolen Europas geworden ist und bei aller Aufmerksamkeit der örtlichen Medien für den Besuch aus Rom viele Mailänder keine Notiz von ihm nahmen. Aber immerhin, über hunderttausend Menschen hatten den Weg des Papamobils vom Flughafen Lainate zum Domplatz gesäumt, gab später Vatikansprecher Federico Lombardi SJ bekannt.
Neben dem Beben, das die fortgesetzte Veröffentlichung vertraulicher Dokumente aus der unmittelbaren Umgebung des Papstes im Vatikan ausgelöst hat, war auch das wirkliche Beben beim Familientreffen in Mailand immer wieder ein Thema, und zwar das in der Emilia-Romagna, wo Erdstösse in der zweiten Maihälfte allein 305 Kirchen beschädigt oder sogar zerstört hatten. Ob der Papst am Freitagabend nach dem Konzert in der Mailänder Scala über den “Schatten des Erdbebens” sprach, der über der Aufführung von Beethovens neunter Symphonie gelegen habe, ob beim Abend der Zeugnisse im Brezzo per Videoübertragung eine junge Familie zugeschaltet war, die jetzt in einem Zeltlager für obdachlos Gewordene leben muss und an die sich Papst Benedikt über die Distanz hinweg mit tröstenden Worten wandte, ob man am Freitagabend in mehreren Kirchen Mailands Spenden für Betroffene sammelte, ob Bischof Roberto Busti von Mantua, in dessen Diözese mehr als hundert Kirchen beschädigt wurden, im Mailänder Dom über die Lage in seinem Bistum berichtete – immer wieder kam das Erdbeben zur Sprache.
Und zum Abschluss der grossen Messe mit dem Papst am Sonntagvormittag in Bresso gab der Mailänder Weihbischof Erminio de Scalzi bekannt, dass Papst Benedikt von den in Mailand an ihn gegangenen Spenden fünfhunderttausend Euro für die Opfer des Bebens zur Verfügung gestellt habe, das Geld würde an die Bischöfe der betroffenen Bistümer Mantua, Modena, Ferrara, Carpi und Bologna verteilt. Vor einer Woche hatte der Papst bereits mit hunderttausend Euro Soforthilfe geleistet, die italienischen Bischöfe gaben eine Million Euro.
Der Schatten des Erdbebens in Norditalien, die medialen Stösse, die vom Fall “Vatileaks” ausgehen, dann aber drei Tage in der Stadt des heiligen Ambrosius – es war der bisher längste Pastoralbesuch Benedikts XVI. innerhalb Italiens –, um mit tausenden von Familien aus aller Welt zusammenzukommen: Es war eine Papstreise ganz besonderen Charakters, bei der Benedikt XVI. aber nicht nur Familienthemen ansprach. Über das Zeugnis der geweihten Personen sprach der Papst am Samstagvormittag beim Gebet der “Hora media” mit Priestern und Ordensleuten im Mailänder Dom. Dieses Zeugnis zeige der Welt die Schönheit der Hingabe an Christus und seine Kirche. Papst Benedikt bekräftigte den Wert des Zölibats und hob die besondere Bedeutung einer lebendigen und vertrauensvollen Liebe zu Jesus Christus hervor. Diese Liebe gelte für alle Christen. Sie nehme jedoch eine einzigartige Bedeutung für den zölibatären Priester und für alle an, die der Berufung zum geweihten Leben nachgekommen seien: “Wenn sich Christus zum Aufbau seiner Kirche den Händen der Priester übergibt, so müssen sich diese ihm ihrerseits vorbehaltlos anvertrauen: Die Liebe zu Jesus, dem Herrn, ist die Seele und der Grund des priesterlichen Dienstes.”
Am Nachmittag gab es dann eine kleine “lectio magistralis” im Thronsaal des Erzbischöflichen Palastes für die Vertreter der Politik, der Wirtschaft, des Militärs und der staatlichen Behörden. Ausgehend von der Wahl des jungen – und noch nicht einmal getauften – Gouverneurs Ambrosius zum Bischof von Mailand zählte der Papst die notwendigen Grundeigenschaften der Regierenden auf. Deren erste Tugend müsse die der Gerechtigkeit sein, die allein jedoch nicht reiche. Der heilige Ambrosius habe ihr die Liebe zur Freiheit hinzugefügt, die “kein Privileg für einige, sondern ein kostbares Recht für alle” sei und die von den zivilen Autoritäten garantiert werden müsse. Freiheit aber bedeute nicht Willkür des Einzelnen, sagte Papst Benedikt, “sondern erfordert vielmehr die Verantwortung eines jeden”. Dies sei ein grundlegendes Element des laikalen Staats. Der Staat, so der Papst, stehe im Dienst an der Person und ihres Wohlergehens in ihren vielfältigen Aspekten, angefangen beim Recht auf Leben, dessen willentliche Beseitigung nie erlaubt sein könne.
Aufgabe des Staates sei es auch, der Familie gerecht zu werden. Hier sei die Zusammenarbeit mit der Kirche wertvoll, nicht um Rollen und Zuständigkeiten zu vermischen, sondern aufgrund des Beitrags, den die Kirche in der Gesellschaft mit ihrer Erfahrung, Lehre, Tradition sowie mit ihren Einrichtungen und Werken im Dienst der Menschen leisten könne.
Am späteren Vormittag jedoch hatte der erste Höhepunkt dieses Samstags stattgefunden: die Begegnung Benedikts XVI. mit achtzigtausend Firmlingen, ihren Eltern und Firmpaten aus den elfhundert Pfarreien der Erzdiözese Mailand im San Siro-Stadion. Der Ort des Geschehens, die voll gepackte Fussballarena der Stadt, bot natürlich eine Steilvorlage, um den Papst richtig hochleben zu lassen – so etwa, als der Firmling Giovanni den Heiligen Vater mit den Worten begrüsste: “Wir wollen dir sagen, dass du für uns der grösste Champion bist und auch der Trainer dieser Riesenmannschaft, die die Kirche ist.” Diese Worte und der tosende Applaus waren es, die den Papst aufleben liessen und manche Zeitung am Montag titeln liess: “Der Papst kehrt gestärkt nach Rom zurück.”
Am Samstagabend dann das “Fest der Familien der Welt” und am Sonntagvormittag die grosse Messe zum Abschluss, beides auf dem Flughafen von Bresso. Zum Gottesdienst kamen eine Millionen Menschen zusammen, und hier in der Predigt kam Benedikt XVI. nochmals auf die Not der Familien zurück, die von der Erfahrung des Scheiterns und der Trennung gezeichnet sind. Die Worte, die er am Abend zuvor beim Fest der Familien zu den wiederverheiraten Geschiedenen gefunden hatte, waren es auch gewesen, die in den Fernsehnachrichten und in den Zeitungen die meiste Aufmerksamkeit fanden: Dass diese Paare nicht “draussen” stehen, sondern voll und ganz in der Kirche leben und von dieser getragen werden sollen – auch wenn sie nicht die Sakramente der Versöhnung und der Eucharistie empfangen können. Einen anderen Satz aus den Antworten des Papstes auf die Zeugnisse der Eheleute gaben die Medien nicht so oft wieder: Dass nämlich der Weg vom Verliebtsein über die Verlobung zur Hochzeit verschiedene Entscheidungen und innere Erfahrungen erfordere. So frage die Kirche, fügte Papst Benedikt an, bei der Zeremonie der Eheschliessung nicht: “Bist Du verliebt?”, sondern: “Willst Du?”, “Bist du entschieden?”. In jedem Fall: Der Heilige Vater war nicht nach Mailand gekommen, um Anatema auszusprechen.
Beim Gottesdienst zum Abschluss der Mailänder Tage gab Benedikt XVI. dann bekannt, dass das kommende katholische Weltfamilientreffen im Jahr 2015 in der Stadt Philadelphia in den Vereinigten Staaten stattfinden werde.
Ich kann bezeugen, dass es eine wunderbare Erfahrung war, mit meiner Frau und unseren Kinder, an der Sonntagsmesse teilzunehmen. Persönlich, in solchen Momenten, spüre ich in besonderer Weise die Anwesenheit und die Liebe Gottes. Meine Erfahrungen haben wir hier kurz zusammengefasst: http://polureg.blogspot.ch/p/vii-weltfamilientreffen-mit-papst.html