Merkel spricht im AfD-Sound

Das hätte so auch Tino Chrupalla sagen können: Die Altkanzlerin gibt Polen und den baltischen Staaten eine Mitschuld am russischen Angriffskrieg. Ausgerechnet in Ungarn

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08.10.2025

Sebastian Sasse

Ausgerechnet in Ungarn. Angela Merkel galt bisher nicht unbedingt als politische Freundin von Viktor Orbán. Doch was sie jetzt in einem Interview mit dem ungarischen Portal “Partisan” über die Rolle Polens und der baltischen Staaten in der Zeit unmittelbar vor dem Ausbruch des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gesagt hat, dürfte der Budapester Regierungschef gerne hören. Passen die Aussagen der Altkanzlerin doch genau in das Geschichtsbild, das auch Orbán vertritt.

Doch was hat sie gesagt? Merkel, so erklärte sie, habe danach gestrebt, dass die EU nach einem gemeinsamen Gespräch mit Putin gesucht habe. Doch Polen und die baltischen Staaten hätten das verhindert. Sie hätten Angst gehabt, “dass wir keine gemeinsame Politik gegen Russland haben”. Ihr Dialogversuch sei also gescheitert. Dann sei sie als Kanzlerin ausgeschieden und Russland habe den Krieg begonnen. Der Subtext: “Ich war die ehrliche politische Maklerin Europas.” Und: “Ich wollte den Dialog mit Russland, aber Polen und das Baltikum haben sich aus egoistischen Gründen stur gestellt. Jetzt haben wir den Salat.”

Balten werfen Merkel mangelnde Sensibilität vor

Entsprechend wurden die Äußerungen der Altkanzlerin auch in Warschau und in Estland, Lettland und Litauen aufgenommen. Besonders irritiert zeigte man sich dort über die mangelnde Sensibilität Merkels für die legitimen Sicherheitsinteressen dieser Staaten und das Bedrohungsgefühl, dem sie sich ausgesetzt fühlen. Eine Gefahr, die ja gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte Politikern der Generation Merkel bewusst sein müsste – zumal gerade die Altkanzlerin so ein Geschichtsbewusstsein für sich stets in Anspruch genommen hat.

“Es ist ungeheuerlich”, erklärte der lettische Verteidigungsminister Artis Pabriks gegenüber der “Deutschen Welle”. “Im Grund beschuldigt sie uns, die Invasion ermöglicht zu haben.” Die Altkanzlerin stelle damit die Tatsachen auf den Kopf. Und auch der estnische Außenminister Magnus Tsakhna schrieb auf X: Der Grund für Russlands Aggression liege darin, dass Putin den Zusammenbruch der UdSSR nie akzeptiert habe. Die Schuld erkennt er eher bei westlichen Politikern, dazu zählt dann wohl auch Merkel, die die Warnsignale wie die russische Aggression gegen Georgien im Jahr 2008 und die Annexion der Krim 2014 nicht richtig gedeutet hätten. Die polnische Ministerin Katarzyna Pelczynska-Nalecz erklärte schließlich, die Aussagen Merkels seien völlig unangebracht und spielten der russischen Propaganda in die Hände.

Lob gab es denn auch aus Moskau: Die EU sei in außenpolitischen Fragen tatsächlich “leider von der fanatischen Politik der baltischen Staaten und Warschaus als Geisel gehalten”, so der Kreml-Sprecher Dimitrij Peskow.

Ein langfristiges innenpolitisches Problem

Neben diesen außenpolitischen Äußerungen, die nicht nur der Linie von Merkels Nach-Nachfolger und Parteifreund Friedrich Merz (CDU) in die Parade fahren, zeigt sich auch ein langfristiges innenpolitisches Problem. Merkel, die im linksliberalen Lager gerne noch als politische Ikone verehrt wird, verrät hier eine Grundprägung, die vielen ihrer Fans nicht schmecken dürfte. Zustimmung, denn in offiziellen Verlautbarungen dieser Partei zum Krieg gegen die Ukraine hört es sich bisher nicht sehr anders an, müsste sie eigentlich von der AfD bekommen. Tino Chrupalla, neben Alice Weidel Vorsitzender und ostdeutscher Wortführer seiner Partei, hätte es im Ton vielleicht etwas schärfer, aber inhaltlich durchaus deckungsgleich formulieren können. Nun gilt Angela Merkel mit ihrer Flüchtlingspolitik aber in der AfD gemeinhin als die Mutter aller Probleme, die Deutschland schwächen. Es dürfte interessant sein, wie die Partei künftig damit umgehen wird. Dabei zeigt sich auch, wie wichtig das Thema Ukraine mittlerweile für das Selbstverständnis der Partei geworden ist.

Die Kritik an der EU dominierte die erste Phase der AfD-Geschichte. Dann wurde die Kritik eben an Merkels Flüchtlingspolitik zum zentralen Element. Da diese Kritik aber zumindest in Teilen der Partei auch mit einer Kritik an der politischen Kultur, zunehmend auch an dem politischen System der Bundesrepublik generell einherging, verschoben sich hier die Akzente. Waren viele der westdeutschen AfD-Unterstützer der ersten Stunde in der Wolle gefärbte Nostalgiker, die der “Bonner Republik” als “CDU-Staat” hinterhertrauerten und in der Politik Merkels keine konservative Handschrift mehr erkennen konnten, sammelten sich in den ostdeutschen Landesverbänden die Systemkritiker, antiwestlich gesinnt und national-sozial denkend.

Mit dem Europa eines Konrad Adenauer konnte Merkel nie viel anfangen

Im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen und dann eben durch eine sich vom westdeutschen Mainstream absetzende Sicht auf den russischen Angriffskrieg bekamen diese Systemkritiker immer mehr Zulauf. Sie sind jetzt entscheidender für das Selbstverständnis der AfD. Es ist fast schon eine Ironie der Geschichte, wenn sich gerade an der Haltung zum Geschichtsbild der ehemaligen Bundeskanzlerin dies entscheiden könnte.

Dass Angela Merkel nicht viel mit dem karolingischen Europa eines Konrad Adenauer oder Robert Schuman anfangen kann, hatte sie schon immer gezeigt. Zuletzt mit ihrer Kritik an der Rede von Emmanuel Macron beim Tag der Deutschen Einheit. Wächst jetzt zusammen, was irgendwie zusammengehört? Schwarz-blaue Verknüpfungen werden hier erkennbar, nur ganz anders als erwartet.

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