30 Jahre nach Srebrenica – Keine Versöhnung in Sicht

Das ‘Nie wieder!’ ist Konsens, aber die vielen ‘Warum’ der entsetzlichen Bluttat von Srebrenica sind noch nicht geklärt

Quelle
Srebrenica: Kampf der Mütter für Gerechtigkeit sollte uns alle inspirieren – Portal
Virtuelles Museum Srebrenica

14.07.2025

Thomas Schumann

Munira Subašić, mit dem weißen Trauerschleier das Haar bedeckt, spricht klare Worte. Die in ihren Achtzigern stehende Präsidentin der Organisation “Mütter von Srebrenica” trägt mit fester Stimme das Motto des 30. Gedenktags vor: “Erinnere dich an gestern, handle heute: Es gilt sich daran zu erinnern, dass unsere Väter, Brüder, Ehegatten, Söhne, Brüder grundlos, für nichts – ohne, dass sie sich für oder gegen etwas eingesetzt haben, nur, weil sie bosnische Serben, bosnische Muslime, mit ebensolchen Namen gewesen sind – umgebracht wurden. Wir müssen unserer ermordeten Angehörigen gedenken, ihnen ihre Würde zurückgeben, sollten uns nicht traumatisieren und dadurch lähmen lassen – jedenfalls nicht verharren in Starrheit.”

Frau Subašić sagt, es gelte aktiv zu werden, uns vor Hass, Menschenverachtung, extremen Vorurteilen, Intoleranz und jedweden nationalistischen und faschistischen Einstellungen zu schützen. “Gewalt darf nie das letzte Wort haben. Die Würde eines jeden Menschen muss im Zentrum aller unserer Gesellschaften stehen”, redet sie den Zuhörenden ins Gewissen. “Wir müssen reflektiert in die Zukunft gehen. Es ist wichtig, aus der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen”, so diese einfache Frau, die ihren Sohn Nermin und den Ehemann Hilmo Subašić verloren hat.

Tief berührender Redebeitrag

Sie spricht im Angesicht von Hoheiten, Staatsoberhäuptern und Vertretern von Staaten der ganzen Weltgemeinschaft, darunter vielen Vertretern islamischer Staaten. Mit ihrer Stimme, ihrer Aura, bewegt die alte Dame die Herzen aller bei der bewegende Gedenkfeier im Genocide-Memorial-Center des ostbosnischen Dorfes Potočari.

In der alten Fabrikhalle einer Batterien-Produktion waren zuletzt Blauhelm-Soldaten als UN-Schutztruppe stationiert, dann in die Defensive gedrängt und zum tatenlosen Zuschauen verurteilt, bevor ausgerechnet dort die Erschießungen und Gräueltaten gegen Zivilisten begannen.

Ihr tief berührender und mit langanhaltendem Applaus bedachter Redebeitrag wird prominent gerahmt durch Gedenkreden des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft für Bosnien-Herzegowina, Christian Schmid, des deutschen Altbundespräsidenten Joachim Gauck und von König Charles von England. Munira Subašić spricht “ohne jeden Groll und Hass”, wie es der Hauptgeschäftsführer des Osteuropa-Hilfswerks Renovabis, Thomas Schwartz, wahrnimmt. “Sie hat einen eindringlichen Appell gegen jeden Nationalismus, gegen jeden Fanatismus und gegen jede Menschenfeindlichkeit vorgetragen.” Das ist ein Unterschied zu den Gedenkreden, die alle unter der Überschrift “Nie wieder!” zusammengefasst werden können, weniger aber unter dem Appell “Jetzt gemeinsam aktiv werden!”

Christian Schmidt räumt ein Versagen der westlichen Kräfte während des Massakers ein: “Ich danke Ihnen für die Einladung an diejenigen von uns, die 1995 nicht gegen Mladić und seine Komplizen vorgegangen sind”, sagt er. Der deutsche CSU-Politiker repräsentiert die internationale Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina aufgrund des Friedensabkommens von Dayton von 1995. König Charles lässt durch die Herzogin von Edinburgh, Sophie Helen, seine Botschaft verlesen und den Bürgern von Bosnien-Herzegowina seinen Respekt erweisen: “Drei Jahrzehnte später ist es wichtiger denn je, all derer zu gedenken, die gelitten haben, und unsere Anstrengungen zu verdoppeln, um allen Bürgern Bosnien-Herzegowinas eine friedliche und stabile Zukunft zu sichern. Eine gemeinsame Zukunft kann es nicht geben, wenn die Ereignisse der Vergangenheit geleugnet oder vergessen werden. Nur wer aus der Vergangenheit lernt, kann den Verlust des anderen teilen und gemeinsam in die Zukunft blicken.” Bundespräsident Gauck fokussierte seinen Beitrag auf “Nie wieder Srebrenica!”

Keinerlei Platz für Genozid-Leugnung

Ähnlich äußern sich die zugeschaltete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und der persönlich anwesende EU-Ratspräsidenten António Costa, der betont: “Es gibt keinerlei Platz in Europa oder anderswo für Genozid-Leugnung, Geschichts-Revisionismus oder die Verherrlichung der Täter.” Die Präsidentin des für Ex-Jugoslawien zuständigen UN-Gerichts, Graciela Gatti Santana, erklärt: “Der beste Weg, Genozid-Leugnung zu bekämpfen, besteht darin, an den Urteilen des Haager Tribunals festzuhalten, etwa indem wir den Fokus auf Bildung legen.” Anteilnahme und Solidarität bekundeten unter den angereisten Regierungschefs auch diejenigen der jugoslawischen Nachfolgestaaten Kroatien, Slowenien, Kosovo und Montenegro: “Es ist unsere Pflicht zu erinnern, aufzustehen und niemals wegzuschauen, wenn Menschenrechte in Frage gestellt und die Würde anderer untergraben wird”, sagt die aus Slowenien stammende EU-Erweiterungskommissarin Marta Kos.

Sloweniens Präsidentin Natasa Pirc Musar hebt hervor, dass “Srebrenica nicht nur eine schmerzhafte Erinnerung ist; es ist eine moralische Verantwortung. Frieden, Toleranz und Menschenwürde sind nicht selbstverständlich: Sie müssen jeden Tag aufgebaut und geschützt werden.” Im Gespräch mit Renovabis-Leiter Thomas Schwartz erinnert sich der kosovarische Ministerpräsident Albin Kurti bei der Gedenkfeier von Potočari an ähnliche menschenverachtende Vorkommnisse im Sinne von Völkermord in seinem Land Ende der 1990-er Jahre. Kurti setzt auf sensible Erinnerungs-, Dialog- und Versöhnungsarbeit, soweit dies die tief verletzten Gefühle der Angehörigen der Opfer erlauben, äußert er sich sinngemäß.

Erwartungsgemäß nicht erschienen in Potočari ist indes Serbiens Staatschef Aleksandar Vučić. Er nannte die Gräuel von 1995 auf der Online-Plattform X ein “schreckliches Verbrechen” und erklärte: “Wir können die Vergangenheit nicht ändern, aber wir müssen die Zukunft ändern. Im Namen der Bürger Serbiens möchte ich den Familien der bosniakischen Opfer erneut mein Beileid aussprechen und bin überzeugt, dass sich ein ähnliches Verbrechen nie wieder ereignen wird.” Unisono das “Nie wieder!” betonen der per Video zugespielte NATO-Generalsekretär Mark Rutte, die Staatschefs Italiens und Frankreichs, Sergio Matarella und Emmanuel Macron, sowie der österreichische Bundespräsidenten Alexander Van der Bellen. Der per Video übertragene Präsident der Türkei, Recep Tayyip Erdoğan, erinnert an die Solidarität seines Landes gegenüber den Bosnienflüchtlingen. Nur der vor Ort leidenschaftlich, eindringlich und laut sprechende türkische Ex-Parlamentspräsidenten Mustafa Şentop setzt einen ganz anderen Akzent: Der AKP-Spitzenpolitiker nutzt seinen Auftritt auf internationalem Parkett, um israelfeindliche Parolen zu verbreiten.

“Die Gräber der Opfer sind ein moralisches Gebot”

Der Genozid von Srebrenica sei nicht allein eine Schuld der serbischen Armee, sondern auch ein Versagen der Völkergemeinschaft, meint Thomas Schwartz am Rande der Gedenkfeierlichkeiten zum 30. Jahrestag des Massakers. Er vertritt als einziger Repräsentant eines deutschen kirchlichen Hilfswerks die katholische Osteuropa-Solidaritätsaktion Renovabis bei der Gedenkveranstaltung in Potočari. Die exklusive Einladung der bosnischen Regierung dazu versteht der Hilfswerks-Chef auch als Anerkennung des langjährigen Engagements von Renovabis im Westbalkan. Als Zeichen der Hoffnung hat Schwartz in Potočari die Begegnung mit einem hochbetagten serbisch-orthodoxen Metropoliten wahrgenommen, der spontan die Delegation zum Gräberfeld begleitete. “In seinem Gesicht habe ich gesehen, dass ihn das unendlich berührt hat, was damals geschehen ist”, sagt Schwartz und geht selbst von der Gedenkstätte hinüber zum Gräberfeld, wo bislang 6.772 Menschen namentlich bestattet werden konnten. “Die Gräber der Opfer sind ein moralisches Gebot, wonach Dialog der einzige Weg zur Konfliktlösung sein darf”, hatte bereits am Vortag des Gedenkens in Potočari der römisch-katholische Metropolit, Erzbischof Tomo Vuksić von Sarajevo, verlautbaren lassen.

Hintergrund

Die Schwierigkeit, den Begriff “Genozid” anzuerkennen

Während sich auf bosniakischer Seite ein einhelliges Gedenken etabliert hat, tun sich viele Serben schwer mit der juristischen und moralischen Einstufung der Ereignisse als Völkermord. Dass in Srebrenica großes Unrecht geschehen ist und sich ein schweres Kriegsverbrechen ereignet hat, gilt in Serbien und auch in der Republika Srpska als Konsens. Den Angehörigen der Opfer wird dabei auch Beileid und Mitgefühl ausgesprochen. Es wird argumentiert, dass Frauen und Kinder nicht systematisch getötet wurden und dass es auch keine Selektionen gegeben habe; dies wird aber von internationalen Experten für juristisch nichtzutreffend abgewiesen und für durch anderslautende Beweise widerlegt. Häufig verweisen serbisch-bosnische Stimmen zudem auf Verbrechen der bosniakischen Seite vor dem Fall Srebrenicas, etwa Übergriffe der Truppen des Kommandeurs Naser Orić im Umland von Srebrenica, etwa in Kravice, wo serbische Dörfer niedergebrannt und Zivilisten getötet wurden. Diese Verbrechen seien kaum geahndet und selten Teil des öffentlichen Diskurses, vor allem nicht im Westen, so der serbische Vorwurf. Ein großer Teil der politischen Vertreter Serbiens verurteilt das Massaker von Srebrenica als schweres oder “monströses Verbrechen”, wie es der serbische Präsident Aleksander Vučić einmal formulierte. Doch der Begriff “Genozid” bleibt für viele inakzeptabel. 30 Jahre nach dem Völkermord bestimmen vielerorts nationalistische Narrative und tiefes Misstrauen den Diskurs.

Nicht bloß moralische Schuld, Erinnerungen, Menschlichkeit und die Würde der Ermordeten von 1995 stehen zur Debatte, sondern auch Folgen für das aktuelle Zusammenleben in den beiden Entitäten in dem fragilen Staatsgebilde von Bosnien-Herzegowina. Die Zentralregierung in Sarajevo strebt seit Jahren eine größere Machfülle an, um das oftmals bürokratisch blockierte Land regierbarer zu machen. Ein formelles Eingeständnis, eine Anerkennung des Genozids von Srebrenica, könnte zu neuen Versuchen führen, der Serbenrepublik ihre Legitimität abzusprechen, befürchtet man in Banja Luka in der Republika Srpska. Entschädigungsforderungen könnten zu den Konsequenzen gehören.

Der Autor ist Pressesprecher von Renovabis.

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