Der Frevel der Sünde
Das biblische Sündenverständnis ist nicht aus einem veralteten Geist der Strafe gedacht, sondern erweist dem Menschen die Ehre, indem es seine Möglichkeiten im Guten und Bösen aufzeigt
23.05.2025
Die Sünde gibt es nur dort, wo es Gott gibt; erst ihm gegenüber erweist sich der Mensch als das einzigartige Wesen, das “fehlen” und sich dabei grundsätzlich und katastrophal verfehlen kann.
Das ist nicht aus einem veralteten Geist der Strafe gedacht, sondern erweist dem Menschen die Ehre, indem es seine Möglichkeiten im Guten wie im Bösen tiefer auslotet und ihn dadurch weiter und wesentlicher definiert als es mit philosophischen Gemeinplätzen – animal rationale, vernunftbegabtes Tier – möglich ist.
Ohne Sünde keine Erlösung
Mit dem Sündenfall beginnt das Alte Testament, mit der Lösung-Erlösung von der Sünde beginnen die Evangelien. Da sagt etwa Johannes der Täufer noch vor jeder anderen Schilderung: “Seht, das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt wegnimmt.” (Joh. 1, 23) Das Alte Testament, vor allem auf das Volk Israel bezogen, fasst auch die Sünde häufig kollektiv: “Weh, sündiges Volk, / schuldbeladene Nation, / nichtswürdige Brut”, ruft der Prophet Jesaia (1, 4). Gott selbst spricht zu einer Mehrzahl: “Sind euere Sünden auch wie Scharlach, / sie sollen weiß werden wie Schnee; / sind sie auch rot wie Purpur, / sie sollen weiß werden wie Wolle.” (Jes. 1, 18)
Noch ist ein individuelles Sündenbekenntnis selten. Die Psalmen-Stimme ist in der Regel die des Gerechten, der in Not geraten sein mag; “Schaffe mir Recht, o Herr, denn gewandelt bin ich in Unschuld, / und ohne Wanken habe ich vertraut auf den Herrn.” (Ps 26, 1) Seltener ist das offene Bekenntnis zu finden: “Ich sprach: Bekennen will ich dem Herrn meine Bosheit! / Und du hast mir die Schuld meiner Sünde vergeben.” (Ps. 32, 5) Ergreifend die Bitte um Vergebung: “All die Opfer erfreuen dich nicht, / (…) Mein Opfer, o Gott, ist ein reuiger Sinn”. (Ps. 51, 18-19)
Abkehr von vermeintlicher antiker Sündenlosigkeit
Dagegen gehalten, fällt nun auf, dass kein antiker Held jemals ein schlechtes Gewissen gehabt hätte. Ein großer Begriff der Sünde fehlt, man könnte sagen, die Form der Tragödie mit ihren schuldig-unschuldigen Helden und Heldinnen sei gerade erfunden worden, um der Sünden-Kategorie auszuweichen. Was es stattdessen gibt, ist der Frevel. Dieser ist aber nicht in Geboten ausdefiniert – obwohl jeder, der Zeuge eines Frevels wird, sofort weiß, woran er ist. Frevel gibt es nur dort, wo es eine Sitte mit ihren ungeschriebenen Gesetzen gibt.
Vor Troja besiegt der Griechenheld Achilles den trojanischen Hektor, der seinen nächsten Freund Patroklos im Kampf getötet hatte. Bis dahin ist alles in der Ordnung. Aber wie Achilles beständig von übermäßigem, rasendem Zorn bewegt ist, so auch hier. Er übt “schändlichen Frevel an Hektor, dem edlen”, wie Homer im 22. Gesang der “Ilias” meldet: Er durchbohrt die Fersen des tapferen Feindes, bindet sie zusammen und dann an seinen Streitwagen, mit dem er dreimal ein Grabmal umkreist: “Ach, es umwölkte Staub den Geschleiften!” Apollon macht sich vor den Göttern zum Ankläger des Achilles, der “kein Erbarmen” und “keine Scham” kenne. “Das ziemet ihm nicht und wird ihm nicht frommen”. So tapfer er auch sei, habe er doch in seinem unbezähmten Zorn “die tote Erde misshandelt”.
Die Würde nicht nur des Menschen, sondern auch der Natur ist verletzlich –das sagt der Begriff “Frevel”.
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