Literaturland Norwegen: Ein Schatz, den es zu heben gilt
Norwegen ist Gastland der diesjährigen Leipziger Buchmesse. Das dünn besiedelte Königreich verfügt über einen erstaunlichen Fundus an begnadeten Autoren
Quelle
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Die Prinzen vom Birkensee: Roman
27.03.2025
Das Motto der diesjährigen Leipziger Buchmesse “Worte bewegen Welten” erschließt sich sofort. Was es mit dem “Traum im Frühling”, den das norwegische Gastland über seine literarische Präsentation gestellt hat, auf sich hat, versteht man erst auf den zweiten Blick: Es sind die ersten Verse aus dem Gedicht “Det er den Draumen” des norwegischen Lyrikers Olav H. Hauge (1908–1994). Damit knüpft es an das Motto “Der Traum in uns” an, das über dem letzten Gastland-Auftritt Norwegens zur Frankfurter Buchmesse 2019 stand und aus eben diesem Gedicht stammt.
Norwegen hat vier Literaturnobelpreisträger hervorgebracht: Bjørnstjerne Bjørnson (1903), Knut Hamsun (1920), Sigrid Undset (1928) und Jon Fosse (2023). Das mit 5,5 Millionen Einwohnern eher dünn besiedelte Land weist eine erstaunlich hohe Dichte an Schriftstellern auf.
In Leipzig werden 50 Autoren erwartet, darunter auch der Kultautor Karl Ove Knausgård, der Band 4 seiner “Morgenstern”-Reihe vorstellen wird. In “Die Schule der Nacht” erzählt Kristian Hadeland, der in Band 3 als Nebenfigur auftritt, seine Geschichte: die vom Aufstieg und Fall eines berühmten Künstlers, der es mit seinen Fotografien bis ins New Yorker MoMA geschafft hat. Der Narzisst war seiner Karriere sehr verhaftet und verfolgte rücksichtslos seine Interessen, bis zwei existenzielle Katastrophen sein Leben grundlegend veränderten. Tod und Vergänglichkeit, Schuld und mögliche Erlösung sowie das Ringen mit sich selbst sind auch hier wieder vorherrschende Themen.
Neuerscheinungen mit Schwerpunkt Familie
Auffällig bei den Neuerscheinungen ist die Beschäftigung mit der Familie, der prägende familiären Konstellationen und der damit verbundene Suche nach dem eigenen Standort. Diffuses Unbehagen führt dazu, der mehr oder weniger verdrängten Kindheit und Jugend nachzuspüren und erlebten Schmerz zuzulassen, um sich aus vorgegebenen Rollenmustern zu befreien. Zwar sind es vor allem Autorinnen, die sich diesem Sujet widmen, doch auch männliche Autoren wie der als Maler bekannte Lars Elling in seinem Romandebüt “Die Prinzen vom Birkensee” nehmen sich dieser Thematik an. Im Jahr 1985 ist Filip 19 Jahre alt und lebt mit seinen Eltern und dem Großvater auf einem geteilten Grundstück, dessen andere Hälfte von Großvaters Bruder bewohnt wird.
Die Brüder haben seit Jahren nicht mehr miteinander gesprochen, und Filip versucht zu verstehen, was dem Schweigen zugrunde liegt. Die Geschichte führt zurück in die Zeit kurz vor dem Ersten Weltkrieg, als beide Brüder von ihrem Vater jeden Sommer in die riesigen Wälder geschickt wurden, um dort das Überleben zu lernen. Was als Abenteuer beginnt, endet im letzten Jahr in einer Tragödie, die das enge Band zwischen den Brüdern zerreißt. Elling ist nicht nur ein talentierter Maler, sondern erzählt auch in eindringlichen Bildern.
Ein Drama, das die Familie zerstört hat, ist auch das Thema in Carl Frode Tillers Roman “Halt”. Elisabet und Sakarias haben ihren einzigen 12-jährigen Sohn bei einem Autounfall verloren. Der Schmerz hat sie getrennt; sie leben nicht mehr zusammen, gehen jedoch am Nachmittag des Heiligen Abends gemeinsam zum Grab des Jungen und verbringen dann doch den Abend zu zweit in dem Haus, in dem sie einst als Familie lebten. Trauer und Erinnerungen verbinden sich an diesem besonderen Abend zu einer Brücke zwischen den Eltern. Auch der tote Junge kommt zu Wort und erzählt seine sehr eigene Geschichte. In dieser Nacht erscheint er beiden Eltern. Es ist ein zarter, beglückender Roman, der getragen scheint von der Musik Johann Sebastian Bachs.
Frauenquote mehr als erfüllt
Linn Strømsborg lässt in “Verdammt wütend” ihre 43-jährige Protagonistin Britt einen radikalen Schritt wagen: Immer hat sie alles richtig gemacht, alle Erwartungen als Ehefrau, Mutter einer kleinen Tochter, Familienmitglied und Freundin erfüllt, bis sie eines Urlaubsmorgens im Sommerhaus ohne konkreten Grund alle Anwesenden zusammenbrüllt und verschwindet, begleitet von einer Freundin ihres Mannes. Nur einmal alles zurücklassen, einmal kurz die Freiheit der Verantwortungslosigkeit spüren, einmal sie selbst sein. Als die beiden am nächsten Morgen zurückkommen, muss Britt sich fragen, woher ihr unbändiger Zorn kommt und wohin ihr weiterer Weg führen soll.
Als die Person, die man wirklich ist, wahrgenommen und geliebt zu werden, und nicht als das Wunschbild, das Eltern und Umgebung in sie hineinprojizieren, ist auch der sehnlichste Wunsch von Hanne in Marie Auberts Roman “Eigentlich bin ich nicht so”. Aus dem dicken Mädchen hat sich eine schlanke und erfolgreiche Frau entwickelt, die zur Konfirmation ihrer Nichte zum ersten Mal nach Jahren ihre Familie besucht. Dass die Veränderung der äußeren Erscheinung nicht zwangsläufig die inneren Ängste und familiären Konstellationen gleich mit transformiert, wird Hanne sehr schnell bewusst. Auch die anderen Familienmitglieder, die alle zu Wort kommen, tragen ihre Vergangenheit mit sich und würden sich gerne daraus befreien.
Der Reigen soll enden mit der Grand Dame der norwegischen Literatur: Torborg Nedreaas’ Roman “Nichts wächst im Mondschein” (erstmals erschienen 1947) führt uns in einen kleinen Küstenort zu einer nächtlichen Begegnung zwischen zwei Fremden: einer am Bahnhof ankommenden Frau mit einem kleinen Koffer und einem dort lebenden Mann. Er lädt sie ein, ihn nach Hause zu begleiten. Sie willigt ein, unter der Bedingung, dass sie ihm ihre Lebensgeschichte erzählen darf: die bittere und doch unendlich poetische Geschichte einer Scheherazade der 1940er Jahre, die für eine Nacht einen Handel eingeht, der für beide Beteiligten zum richtigen Zeitpunkt kommt.
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