Zeitenwende – Obacht bei der Achtsamkeit

Ob in der Wirtschaft oder im Privaten: Der Trend zur Achtsamkeit ist ein Ersatzprodukt für eine Gesellschaft ohne echte Spiritualität

Quelle
Produktives Missverstehen | Die Tagespost
Eisblumen. Nonkonformistische Lyrik im Dritten Reich. Eine Anthologie

15.12.2024

Maja Maletzki

Mittlerweile gibt es in Deutschland über 1.000 zertifizierte sogenannte Achtsamkeitstrainer. Die Seriosität der Qualifikation dieser “Coaches” sei mal dahingestellt. Aber eines scheint klar: Aus dem Achtsamkeitstrend ist längst ein Milliardengeschäft geworden, welches im Mainstream angekommen ist. Arbeitgeber buchen solche Seminare für ihre Mitarbeiter, Krankenkassen bezuschussen sie für ihre Versicherungsnehmer. Ein nicht unerheblicher Teil des Buchhandels besteht aus Ratgebern von Mindfullness-Gurus und die Flut an gesponsorten Instagramposts, TikTok- und Youtube-Videos kennt keine Grenzen.

Für viele ist das Thema längst ein täglicher Begleiter. Vor jeder zwischenmenschlichen Interaktion und jeder Entscheidung wird gefragt: “Tut mir das jetzt gut?” Es wird empfindsam “in sich hineingehorcht” und sich regelmäßig in die Wohlfühl-Einsamkeit zurückgezogen. “Me-Time” nennt man das. Wird man selbst nicht dadurch zum Maß aller Dinge? Wenn Entscheidungen danach getroffen werden, ob sie sich gut anfühlen und nicht danach ob sie gut sind, gibt es keine objektive Moral mehr.

Ein billiges Ersatzprodukt

Genau wie bei den westlichen Formen des Yoga handelt es sich bei dem Achtsamkeitstrend um eine weichgespülte und kommerzialisierte Entlehnung aus der hinduistischen beziehungsweise buddhistischen Tradition. Wir sind eine Gesellschaft leer von jeder echten Spiritualität.

Und so versucht man die Lücken mit einem billigen Ersatzprodukt zu füllen. Dieses lässt sich gewinnbringend vermarkten und fordert keinerlei persönliche Opfer von einem. Sicherlich hat diese Art der esoterischen Nabelschau schon die ein oder andere Freundschaft “toxischen” Eindruck machen können? Gibt es nicht immer auch Gespräche, die man nur sehr widerwillig führt und Situationen, die einem nicht gut tun? Beziehungen zwischen Menschen werden so beliebig – fast wie ein Konsumprodukt. Erfüllt sie ihren Zweck nicht mehr, gehört sie, metaphorisch gesprochen, in die Altkleidersammlung. Ist es da ein Wunder, dass sich 50 Prozent aller Ehepaare scheiden lassen?

Selbstbezogene Aktivitäten

Eine abgeflachte Philosophie ohne objektive Moral, ohne echte Spiritualität, ohne Werte wie Treue und Opferbereitschaft wird zur Antwort auf unsere hektische Welt. Von multimedialen Sinneseindrücken überflutet und von einer sich immer schneller veränderten Arbeitswelt gestresst, richtet man den verwirrten Blick auf sich selbst und versucht dort Halt, Zuflucht und Sicherheit zu finden. Trägt eine solche Philosophie auch in allen Lebenslagen? Wenn man mit Tod und Krankheit zu tun hat, gibt einem die Mindfullness-App dann wirklich Halt? Gibt es meinem Leben wirklich einen Sinn, alles danach zu bewerten, wie es sich anfühlt?

Dabei sind Achtsamkeitsübungen häufig Tätigkeiten für eine Person. Gemeinschaft sucht man hier vergeblich. Selbst wenn man im Gruppen-Retreat “zusammen” meditiert, oder in demselben Raum “in sich hineinfühlt”, bleiben die Aktivitäten doch zutiefst selbstbezogen. Das ist nicht, wie wenn man zur Chorprobe oder in den Tennisverein geht, wo es tatsächlich um ein Miteinander geht, wo man auf die anderen Menschen achten muss und sich aufeinander verlassen kann.

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