Bildung in Russland – Patriotismus als Pflichtfach
Mit der zunehmenden Propagierung patriotischer Werte verfolgt der Kreml das Ziel, die nächste Generation für den Staat zu formen. Ein bedenklicher Trend, der sich tief im russischen Bildungssystem verankert
Quelle
Es gibt ein anderes Russland
Russland: ein neues Schulfach mit alten Wertvorstellungen – News – SRF
Krieg in der Ukraine – Russlands Annexion ukrainischer Gebiete und die Folgen
08.11.2024
Daria Boll-Palievskaya
Am 30. September beging Russland den zweiten Jahrestag der sogenannten “Wiedervereinigung” – ein Euphemismus für die Annexion der ukrainischen Gebiete Saporischschja, Donezk, Luhansk und Cherson. Präsident Wladimir Putin hielt zu diesem Anlass eine Fernsehansprache, in der er erneut den “befreienden Charakter” der “militärischen Sonderoperation” betonte, den Westen für den Konflikt verantwortlich machte und die russischen Soldaten in der Ukraine lobte.
Die Feierlichkeiten beschränkten sich jedoch nicht auf die Worte des Präsidenten. Auch in russischen Schulen fanden obligatorische Veranstaltungen zum Jahrestag der Annexion statt. Das unabhängige Journalistenprojekt “Agentstwo” zählte fast 800 Beiträge im populären russischen sozialen Netzwerk VK, die dokumentieren, wie dieser “bedeutende” Tag in den Schulen begangen wurde. Schüler fertigten Zeichnungen an, hielten Vorträge über Sehenswürdigkeiten der “neuen” Regionen Russlands und nahmen an der Aktion “Stärke in der Einheit” teil, in deren Rahmen sie Videos mit Glückwünschen für die “historischen Regionen” aufnahmen.
Förderung patriotischer Werte
Die Schulen folgten dabei den Anweisungen des Russischen Kinder- und Jugendzentrums, einer staatlichen Einrichtung, die allein im Vorjahr über 570 Millionen Rubel (etwa 5,7 Millionen Euro) für “Erziehungsberater” an Schulen erhielt. Der Kreml scheut offensichtlich keine Kosten, um die kommende Generation in seinem Sinne zu formen.
Bereits 2022 wurden die “Gespräche über das Wichtige” eingeführt – verpflichtende Klassenstunden zur Förderung patriotischer Werte. Damit starten russische Schüler in die Woche. Die Themen reichen von der Rechtfertigung der militärischen Sonderoperation in der Ukraine bis hin zu den vermeintlichen Bedrohungen durch den “kollektiven Westen”. Wer anfangs dachte, diese Stunden würden zur bloßen Formalität verkommen, lag falsch. Inzwischen gibt es eine speziell dafür eingerichtete Website des Bildungsministeriums, die Lehrmaterialien für diese Unterrichtseinheiten bereitstellt – wenn auch als “Empfehlungen” deklariert. Doch das Ziel bleibt klar: die Erziehung zum Patriotismus.
So hieß es im Unterrichtsleitfaden für die ersten und zweiten Klassen, dass das Ziel des Unterrichts am Tag des Wissens darin bestehen sollte, die Liebe zum Vaterland zu fördern. Als Anschauungsmaterial wird ein Video von Wladimir Putins Treffen mit Schülern vorgeschlagen.
Gezielte Propaganda
Der Prozess der Ideologisierung des Schulwesens in Russland nimmt zu. Davon ist Dima Sizer, ein in Russland für sein modernes Schulkonzept bekannter Buchautor, überzeugt: “Vor zwei Jahren konnte man das noch als lokale Initiative abtun, heute ist es ein fest verankertes System”, so der im Exil lebende Pädagoge.
Ein Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International vom Mai dieses Jahres beschreibt, wie russische Behörden Kinder durch Propaganda ideologisch beeinflussen. Unter anderem werden in dem Bericht die “Gespräche über das Wichtige” als Methode der “patriotischen Erziehung” und “verpflichtenden Indoktrination” erwähnt. Zu diesen Methoden zählt Amnesty International auch die neuen Schulgeschichtsbücher. Erstmals wurden diese im vergangenen Schuljahr einheitlich für die Oberstufe eingeführt.
Einheitliches Narrativ für eine ideologische Bildung
Dort wurden die Kapitel über die 1970er bis 2000er Jahre umgeschrieben und Abschnitte zur “Rückkehr” der Krim und der “militärischen Sonderoperation” hinzugefügt. Das Lehrbuch beginnt mit Putins berühmtem Zitat, dass der Zerfall der Sowjetunion die “größte geopolitische Katastrophe” des 20. Jahrhunderts sei. Die Autoren kritisieren Gorbatschow, bezeichnen die USA als Hauptnutznießer des Ukraine-Krieges und stellen die Ukraine als “ultra-nationalistischen Staat” dar, in dem die Opposition verboten ist und alles Russische als feindlich erklärt wurde.
Der russische Historiker Alexander Stefanow sieht jedoch im Geschichtsunterricht allein nicht die Macht, das Weltbild einer ganzen Generation zu prägen. Auch wenn die Geschichtsbücher zunehmend ideologisch gefärbt seien, sei die Situation nicht hoffnungslos, meint der in Russland zum ausländischen Agenten erklärte YouTuber. Doch der Trend sei eindeutig: Das Lehrbuch ist in diesem Schuljahr bereits ab der fünften Klasse obligatorisch. Mit einem einheitlichen Narrativ soll die ideologische Ausrichtung über den gesamten Bildungsprozess hinweg zementiert werden.
Schüler lernen Umgang mit Kalaschnikows
Mitautor des Lehrbuchs ist der Berater des Präsidenten und Kurator des Bildungsbereichs, Wladimir Medinski. Der ehemalige Kulturminister sorgte einst für Aufsehen, als er behauptete, die Russen hätten “ein zusätzliches Chromosom”, also eine Art biologische Überlegenheit gegenüber allen anderen. Laut der Politologin Jekaterina Schulmann hat Medinski “großen Anteil an der Zerstörung des Bildungssystems in Russland”. Vor kurzem erklärte er, dass die elfjährige Schule ein unannehmbarer Luxus sei und “verdichtet” werden soll, um einen früheren Einstieg in die Berufsausbildung zu ermöglichen.
Das neue Schuljahr, das in Russland traditionell landesweit am 1. September beginnt, brachte noch eine weitere Überraschung: Das Fach “Grundlagen der Sicherheit und des Schutzes des Heimatlandes” wurde eingeführt. Schüler lernen darin den Umgang mit Kalaschnikows, das Ausheben von Schützengräben und den Einsatz von Drohnen. Trotz der Eile, mit der das Fach eingeführt wurde, gibt es noch keine Lehrbücher.
Lehrer am Zentrum für militärisch-patriotische Erziehung ausgebildet
Im Bildungsministerium arbeitet ein ganzes Team von Fachleuten aus dem Verteidigungsministerium, dem Ministerium für Notfallsituationen und anderen Behörden daran. Doch die Lehrer sind bereits ausgebildet. Im Auftrag des Bildungsministeriums wurde eigens zu diesem Zweck das Zentrum für militärisch-patriotische Erziehung an der Staatlichen Universität für Bildung eingerichtet. Nach Abschluss der beruflichen Umschulung werden die “Grundlagen der Sicherheit und der Verteidigung des Vaterlandes” von Veteranen der militärischen Sonderoperation unterrichtet.
Anna Ziwiljowa, Leiterin der Stiftung “Vaterlandsverteidiger” und stellvertretende Verteidigungsministerin, billigte die Arbeit des Zentrums und unterzeichnete im Namen der Stiftung eine Kooperationsvereinbarung mit der Universität. Einer der ersten, die umgeschult wurden, war Andrei Schinjagin, der zuvor zu vier Jahren Haft wegen Entführung und Misshandlung von sieben Frauen verurteilt worden war. Nach seinem Einsatz an der Front in der Ukraine unterrichtet er jetzt an der Schule. Im August verlieh Wladimir Putin Ziwiljowa den Rang einer Staatsrätin 3. Klasse, was dem Rang eines Generalmajors entspricht. Offenbar ist er mit der Arbeit seiner Nichte zufrieden.
Einer der gefährlichsten Prozesse
Der Soziologe Grigorij Judin betrachtet die Indoktrination in den Schulen als einen der gefährlichsten Prozesse im heutigen Russland. “Was wir im russischen Bildungssystem sehen, ist ein radikaler Wandel. Bildung sollte im Wesentlichen zwei Hauptfunktionen erfüllen: militärische Ausbildung und Ideologisierung”, sagte er in einem Interview mit dem YouTube-Kanal “Normale Leute”.
Ekaterina Schulmann stimmt ihm zu: “Auch wenn es keine sichtbare Ideologie im Schul- oder Hochschulwesen gibt, so ist das Ziel der Bildungsreformen klar erkennbar: die heutigen Schüler, wenn sie erwachsen sind, sollen billigere Soldaten werden, als es ihre älteren Verwandten waren. Sie sollen bereit sein, eine der wenigen ihnen offenstehenden Karriere-Möglichkeiten zu ergreifen – einen Vertrag mit dem Verteidigungsministerium, und zwar zu geringeren Löhnen als heute.
Die Militarisierung, die in allen großen und kleinen Änderungen des Lehrplans offensichtlich ist, zielt genau darauf ab. Der Gedanke, dass russische Kinder mit drei Klassen Schulbildung auskommen und nicht mehr lernen sollten, weil sie sonst nicht mehr bereit wären, billige Soldaten zu werden, ist in gewisser Weise sehr logisch.”
Zerstörung menschlichen Kapitalbestands
Die Politikwissenschaftlerin, die inzwischen an der Freien Universität tätig ist, erinnert daran, dass Russland bis vor kurzem nach dem Prozentsatz der Menschen mit höherer Bildung weltweit den dritten Platz einnahm, nur hinter Israel und Kanada. Sie warnt: “Die Korrelation zwischen der Ausbildungsdauer und allen Indikatoren der sozialen Entwicklung (Pro-Kopf-Einkommen, Urbanisierungsgrad, Lebenserwartung usw.) ist eindeutig: Je länger man lernt, desto besser lebt man. Sollte sich die Zahl der Schuljahre tatsächlich verkürzen, würde das den menschlichen Kapitalbestand, der Russland teilweise noch als Erbe der Sowjetunion und teilweise der letzten 30 Jahre relativ friedlicher sozialer Entwicklung erhalten geblieben ist, zerstören.”
Der Propaganda geht es nicht nur um die Gehirnwäsche von Schulkindern, sondern auch von deren Eltern. Zu diesem Zweck hat das bereits erwähnte Russische Kinder- und Jugendzentrums spezielle Eltern-Chatrooms eingerichtet, die von Erziehungsberatern der Schulleiter geleitet werden. All diese Maßnahmen scheinen dem Kreml jedoch noch nicht ausreichend.
Anfang Oktober wurde Putin vorgeschlagen, die “Gespräche über das Wichtige” in Kindergärten abzuhalten. Mit dieser patriotischen Idee trat eine der Finalistinnen des Wettbewerbs “Lehrer des Jahres” auf, mit der Putin per Videoschaltung sprach. “Mit fünf Jahren ist ein Kind bereits in der Lage zu verstehen, wie man das Vaterland liebt”, sagte sie. Putin stimmte zu: “Grundlegende Dinge müssen einem Kind im frühesten Alter vermittelt werden.”
Dima Sizer hatte die schleichende Militarisierung der Bildung vorhergesehen. Doch der von der russischen Justiz verfolgte Pädagoge, der auf seinem YouTube Kanal Eltern berät, hat keine wirkliche Lösung für sie: “Es läuft bereits die totale Indoktrination. In seiner entsetzlichen Logik handelt das Regime richtig. Sie schnappen sich Kinder, die in diesem Alter den Erwachsenen absolut vertrauen.”
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