Der Nahe Osten steht am Rand des Abgrunds

Netanjahus Kriegsführung hat Israel keine Sicherheit, dem Nahen Osten keinen Frieden und der Welt nicht mehr Stabilität gebracht

Quelle

04.10.2024

Stephan Baier

Am Anfang stand ein feiges, hinterhältiges und durch nichts zu rechtfertigendes tödliches Attentat. Das sollte nicht ungesühnt bleiben; eine gezielte, harte und doch begrenzte Strafaktion wurde ins Auge gefasst. Dann jedoch setzte ein Dominoeffekt von Solidarisierungen auf beiden Seiten ein. Wenige Wochen später befand sich Europa im Ersten Weltkrieg. Was 1914 als dritter Balkankrieg gedacht war, wurde ungewollt zu einem Weltkrieg, der alle gekannten Kategorien sprengte.

Bei allen Unterschieden sind die Parallelen zu dem, was vor einem Jahr mit dem massenmörderischen Überfall der Hamas auf Israel begann, kaum zu leugnen: Israel wurde am 7. Oktober 2023 in seinem aus der Shoah geborenen Selbstverständnis getroffen, die sichere Heimstatt für Juden aus aller Welt zu sein. Die Regierung Netanjahu hatte angesichts dieses traumatisierenden Überfalls gar keine andere Wahl, als gezielt und hart zuzuschlagen. Es galt die Geiseln zu befreien, die Terror-Fähigkeit der Hamas zu zerschlagen und dem Sicherheitsbedürfnis der Israelis Genüge zu tun.

Ein Jahr später kann von alledem keine Rede sein: Das Drama vieler Geiseln ist weiter ungelöst, der Hamas wurde zwar das Rückgrat gebrochen, doch hat das maßlose Leid der Zivilbevölkerung im Gazastreifen neuen Hass für Jahrzehnte gesät, und Israel ist in ungleich größerer Gefahr als zuvor. Nicht erst der iranische Angriff mit Hyperschallraketen in dieser Woche hat gezeigt, dass der Nahe Osten nur einen Wimpernschlag davon entfernt ist, die Welt in einen Weltkrieg zu stürzen. Ja, Papst Franziskus hat Recht, wenn er – seit 2016 und zuletzt in wachsender Eindringlichkeit – vor einem “Weltkrieg in Stücken” warnt.

Die Deeskalation scheiterte an Netanjahu

Wie 1914 gibt es auch heute “Schlafwandler”, die den Abgrund nicht sehen oder nicht sehen wollen, an dessen Rand der Nahe Osten steht. Ausgerechnet die Vereinigten Staaten von Amerika haben sich – im Herbst ihrer Weltmachtrolle – der unverantwortlichen Eskalation bemüht entgegengestemmt. Das ist überraschend, weil zuletzt wohl keine Macht im Orient mehr Chaos und Leid gestiftet hat als die USA. Und auch, weil Amerika seit jeher das mit Leben erfüllt, wovon Deutschland nur spricht: Die Sicherheit Israels ist für die USA tatsächlich Teil der eigenen Staatsräson. Deshalb unterstützt Washington Israel militärisch mit einer Bedingungslosigkeit, die an Selbstverleugnung grenzt. Und zwar quantitativ wie qualitativ: Auch die Abwehr der iranischen Hyperschallraketen beruhte auf diesem Teamwork. Zugleich lebte US-Außenminister Blinken monatelang nahezu im Flugzeug, um in emsiger Pendeldiplomatie eine Waffenruhe auszuhandeln, die einer Deeskalation den Weg bahnen sollte.

Doch das scheiterte vor allem an Israels Premier Netanjahu: Der zwingt die USA zur Solidarität mit Israel, ohne auf die Mahnungen, Warnungen und Vorschläge des Verbündeten einzugehen. Gerade der alte Polit-Fuchs Netanjahu musste einkalkuliert haben, dass das Leid der Palästinenser die Welt empören und Hass in den Herzen von Generationen pflanzen würde; er musste wissen, dass der Iran die fortgesetzten Tötungen seiner engsten Gefolgsleute im Libanon, in Syrien, im Irak und sogar in Teheran nicht unbeantwortet lassen kann; er muss damit gerechnet haben, dass sich der Iran seine schärfste Waffe – die Hisbollah – nicht widerstandslos aus der Hand schlagen lassen würde. Er muss jetzt wissen, dass der Iran zwar keinen offenen Krieg mit Israel will, sich aber dazu genötigt sehen könnte, dass Russland hinter dem Iran steht, und dass jede weitere Eskalation das Potenzial zum Weltkrieg hat.

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