Bidens Rückzug – Eine Frage der Würde

Das Polit-Drama des Joseph R. Biden hätte ein anderes Ende verdient gehabt. Viele tragen Schuld an diesem Ausgang – nicht nur der US-Präsident selbst

Quelle
“Die Republikaner sind zu einer nationalistisch-populistischen Partei geworden” | Die Tagespost (die-tagespost.de)
Ernennung des Hl. Thomas Morus zum Schutzpatron der Politiker (vatican.va)
Thomas Morus

03.08.2024

Stephan Baier

Joe Biden tut mir leid – und ich weiß, dass das begründungspflichtig ist. Denn erstens ist es nicht die Aufgabe von Journalisten, Mitleid mit Politikern zu haben; zweitens gibt es mehrere Milliarden Menschen auf dieser Erde, die mehr Mitleid verdienen als alternde US-Präsidenten; drittens würde ihn mein Mitleid vermutlich nur kränken.

Ein Leben voller Prüfungen und Schicksalsschläge

Ich habe es dennoch. Nennen Sie es meinetwegen konservativ oder sentimental, aber ich bin nun einmal der Überzeugung, dass alte Menschen zufrieden, gelassen und “lebenssatt” in den letzten Lebensabschnitt gehen sollten. Von Abraham sagt uns die Heilige Schrift: “Er starb in hohem Alter, betagt und lebenssatt …” (Gen 25,8). Sie sagt uns auch, warum: “Abraham war alt und hochbetagt; der Herr hatte ihn mit allem gesegnet” (Gen 24,1). So sollte es sein: In der Jugend lebenshungrig, im Alter lebenssatt – niemals lebensmüde!

Das hätte ich Joe Biden gegönnt – einem Mann, dessen Leben reich an Prüfungen und Schmerzen war, dem der Himmel viele Lasten aufbürdete: schwere private Schicksalsschläge, viel Verantwortung, große Herausforderungen. Die Frage, ob er mit alledem abrahamitisch genug umging, soll an dieser Stelle gar nicht beantwortet, allenfalls gestellt werden. Beantworten kann ich jedoch die Frage, ob er es verdient hätte, lebenssatt ins Hochbetagtenalter zu gehen – sei es mit einem kauzig-souveränen “Macht euern Dreck alleine!”, sei es mit einem narzisstisch-rührseligen “I did it my way”: nämlich mit Ja.

Das Auge sieht alles, außer sich selbst

Wir könnten heute unaufgeregt und sachlich die politische Leistungs- und persönliche Lebensbilanz des Joe Biden diskutieren, wenn er zeitgerecht sein “Genug ist genug!” gesprochen hätte. Etwa so: “Donald Trump schlagen? Hab ich schon. Könnt Ihr auch.” Oder: “Hat Spaß gemacht, Ihr werdet schon sehen.” Meinetwegen auch emotionaler, pathetischer, amerikanischer.

Warum konnte er nicht sehen, dass es Zeit war, zu gehen? Ganz einfach: Das Auge sieht alles, außer sich selbst. Wir sind nicht gut in der Selbstwahrnehmung, weil wir uns primär wahrnehmen über das, was andere uns spiegeln. Darum ist es entscheidend, dass Mütter ihr Baby anlächeln und auf es einreden – ohne Rücksicht darauf, dass die Kleinen nichts von dem Wortschwall verstehen. Das freundliche Gesicht der Mutter, ihr Lächeln, ihre Ansprache zeigen dem Kind, dass es geliebt, angenommen, behütet ist. So wachsen Vertrauen, Selbst- und Weltwahrnehmung, Intelligenz und emotionale Stabilität – nicht durch die Instagram-Selfies, die manche jungen Mütter heute in Endlosschleife produzieren, während ihre Kleinen daneben im Kinderwagen hilflos ins Leere glotzen.

Bidens Umfeld muss sich rechtfertigen

Uns “Erwachsenen” (wirklich erwachsen sind wir erst im Himmel) geht es nicht anders: Nur durch die Liebe anderer erfahren wir, dass wir liebenswert sind; nur durch ihre Wertschätzung wächst unser Selbstwertgefühl. Alles Leben ist Beziehungsgeschehen. Selbst der Einsiedler braucht den kurzen Draht zum göttlichen Du, um zu sich zu finden – statt verrückt zu werden. US-Präsidenten auch. Joe Biden hat das geradezu zelebriert. Er war nie einer, der sich mit Schäferhündin “Blondi” in den Führerbunker zurückzog, wenn es ernst wurde; Biden war durch und durch Familienmensch.

Wenn nun ein 81-Jähriger mit dem Knochenjob eines US-Präsidenten und der Verantwortung der Weltmacht Nummer eins in krisengeschüttelter Zeit nicht mehr die Selbstreflexion aufbringt, zu sehen, dass sein Rückzug für ihn und den Rest der Welt naheliegend ist, dann ist die Umgebung dran! Es ist nicht Bidens Schuld und Verantwortung, dass seine bösesten Feinde als erste sahen, dass es einfach nicht mehr geht, dass die unsozialsten aller “sozialen Medien” ihn durch jeden Kakao ziehen durften, dass die Konkurrenz ihre Wahlkampfstrategie auf seinen Alterserscheinungen aufbauen konnte.

Umgeben von Ja-Sagern und Nutznießern

Es ist die Schuld seiner Umgebung, dass das geschah; es wäre ihre Verantwortung gewesen, seine Würde zu wahren. Ja, Würde! In einer Zeit, in der halbstarke Analphabeten und von Ideologen verwirrte Pubertisten glauben, einen Anspruch auf “Respekt” zu haben, darf man antizyklisch daran erinnern, dass den Alten und Hochbetagten eine besondere Würde zukommt.

Je mehr die Kräfte des Körpers und des Geistes nachlassen, desto mehr ist es die Verantwortung der Umgebung, diese Würde zu schützen. Im alttestamentlichen Buch Jesus Sirach lesen wir: “Mein Sohn, wenn dein Vater alt ist, nimm dich seiner an, und betrübe ihn nicht, solange er lebt. Wenn sein Verstand abnimmt, sieh es ihm nach, und beschäme ihn nicht in deiner Vollkraft.” (Sir 3,12f) Es wäre die Verantwortung seiner Familie und seiner engsten Vertrauten gewesen, Joe Biden sanft und liebevoll von einem Schlachtfeld zu führen, auf dem er nicht mehr zu kämpfen und zu siegen wusste!

Wie ein politischer Rückzug gelingen kann

Ein weiser Mann, für den zu arbeiten ich in jungen Jahren die Ehre hatte, hatte sich bereits in der Blüte seines Lebens drei Vertraute gesucht und ihnen einen klaren Auftrag gegeben: Jeder von ihnen bekam den Befehl, ihm persönlich, unter vier Augen und unmissverständlich zu sagen, wenn es Zeit sei, zu gehen. Jeder von ihnen wusste, dass er nur einer von Dreien ist, aber keiner wusste, wer die anderen beiden sind. So waren Intrigen und Geheimabsprachen unter ihnen unmöglich – doch jeder von ihnen wusste um seine persönliche, nicht delegierbare Verantwortung.

Diese Verantwortung ist umso größer, als wir in unbarmherzigen Zeiten leben. Schon klar: Dass Politiker in ihrer Macht und Verantwortung auf die parlamentarische, die journalistische, die maximal öffentliche und nötigenfalls auch auf die gerichtliche Anklagebank gesetzt werden, gehört zu deren Berufsrisiko. Dabei wird mitunter – in den “sozialen Medien” maßloser als in den professionellen – vergessen, dass Politiker auch Menschen mit Gefühlen, Angehörigen, Lebensgeschichte und Würde sind.

Wer Politiker wie den letzten Dreck behandelt, bekommt nur noch den letzten Dreck

Unvergesslich ist mir ein Auftritt des legendären CDU-Politikers Siegbert Alber, der als Vizepräsident des Europäischen Parlaments eine Besuchergruppe durch Straßburg führte. Einer der Bürger kotzte regelrecht seine Verachtung für die Europäische Union und ihre Politiker wortgewaltig aus: eine Schimpftirade, die heute auf Facebook gewiss ein vielfach gelikter Quotenhit wäre. Alber hörte sich die Suada geduldig an, lächelte freundlich und sagte ganz ruhig: “Sie dürfen einen schweren Fehler nicht machen…” – rhetorische Pause – “… Sie dürfen nicht davon ausgehen, dass Politiker vernünftige Menschen sind, so wie Sie und ich.” Er hatte die Lacher auf seiner Seite.

Und das mit Recht. Denn es sollte jedem klar sein: Wenn wir Politiker behandeln wie den letzten Dreck, wird irgendwann nur mehr der letzte Dreck bereit sein, beruflich in die Politik zu gehen. Das wäre für die Demokratie – gelinde gesagt – auch nicht gut. Umgekehrt könnte wiederum ein würdevoller Umgang, so schwer er mitunter fallen mag, helfen. Und das insbesondere beim Abgang.

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