Reformen ohne Glauben sind sinnloser Aktivismus

Papst Benedikt hat ein merkwürdiges Motto hinterlassen: Entweltlichung der Kirche

Tagespost, 10. Oktober 2011

Ein Gespräch mit Kardinal Walter Kasper über die Aufgaben der Kirche in Deutschland nach dem Besuch des Papstes. Von Guido Horst

Wie die deutschen Bischöfe hat sich auch Kardinal Walter Kasper rückblickend über den jüngsten Heimatbesuch von Benedikt XVI. Gedanken gemacht. Der ehemalige Bischof von Rottenburg-Stuttgart, von 2001 bis 2010 Präsident des Päpstlichen Rats für die Einheit der Christen, gehörte zu der vatikanischen Delegation, die den Papst nach Berlin, Thüringen und Freiburg begleitet hat. In dem nachfolgenden Gespräch zieht er eine ganz persönliche Bilanz dieser päpstlichen Visite, die seiner Meinung nach den Papst nicht nur in das Land Martin Luthers, sondern in das Zentrum der wichtigsten Herausforderungen der Weltkirche geführt hat.

Für viele Jahrzehnte, vielleicht für Jahrhunderte, war es sehr wahrscheinlich das letzte Mal, dass ein deutscher Papst seine deutsche Heimat besucht hat. War das, was in Berlin, Erfurt und Freiburg stattgefunden hat, ein historisches Ereignis?

Ob der Besuch eines aus Deutschland stammenden Papstes in seiner deutschen Heimat der letzte war, möchte ich offen und der Geschichte überlassen. In rückblickender Perspektive jedoch war der Besuch von Papst Benedikt XVI. ein historisches Ereignis. Ich bin alt genug, um noch die Bilder von einem Reichstag in Erinnerung zu haben, in dem die Nationalsozialisten Recht und Gerechtigkeit mit Füssen traten und Gesetze gegen die Juden beschlossen, oder die Bilder, wie im Olympiastadion 1936 ein anderer einzog und sich feiern liess. Wenn nun nur ein dreiviertel Jahrhundert später in demselben Reichstag, der heute Sitz eines demokratischen Parlaments ist, ein deutscher Papst eine Rede hält, in welcher er daran erinnert, dass Recht und Gerechtigkeit parlamentarischer Mehrheitsentscheidung vorgegebene Grössen sind, wenn er sich dort mit Vertretern der jüdischen Gemeinde trifft und seiner Genugtuung Ausdruck gibt, dass es in Deutschland wieder jüdisches Leben gibt, und wenn er ins voll besetzte Olympiastadion einzieht, um dort Eucharistie zu feiern, bei welcher ausländische – in der Nazisprache: nicht-arische – Vertreter der Berliner katholischen Gemeinde eine repräsentative Rolle hatten, dann kann man das nicht anders als historisch bezeichnen. Wenn er dann in Erfurt und auf dem Eichsfeld die neuen Bundesländer besuchen und Menschen danken kann, die unter zwei totalitären Regimes in ihrem Glauben mutig durchgehalten haben, dann ist auch das ein Mut machendes Zeichen dafür, wie Geschichte sich wandeln und auch zum Guten wandeln kann. Dafür können wir nur dankbar sein.

Kommen wir zu den inhaltlichen Schwerpunkten des Papstbesuchs. Benedikt XVI. hat der Kirche in Deutschland, aber sicherlich nicht nur in Deutschland, ein merkwürdiges Motto hinterlassen: “Entweltlichung der Kirche”. Der Begriff “Entweltlichung” steht nicht im Duden. Was kann damit gemeint sein?

Der Begriff “Entweltlichung” war in der Rede des Papstes auch für mich überraschend; er stammt aus der Theologie Rudolf Bultmanns, die zumal in diesem Punkt ganz und gar nicht in die katholische Lehre von der Kirche passt. Der Papst hat aber deutlich gemacht, wie er diesen Begriff versteht, nämlich im Sinn des Johannesevangeliums, das sagt, dass wir Christen zwar in dieser Welt leben, aber nicht von dieser Welt sind. “In dieser Welt” – das bedeutet, dass die Kirche keine Wolkenkuckuckskirche ist, sondern einen Auftrag in dieser Welt hat und dass sie in dieser Welt zur Erfüllung ihres Auftrags auf weltliche Mittel angewiesen ist. Es geht also ganz und gar nicht um einen Rückzug aus der Welt. Aber da die Kirche nicht “von dieser Welt” ist, darf sie sich der Welt nicht anpassen, und die weltlichen Mittel und Einrichtungen dürfen nicht zum alles bestimmenden Selbstzweck werden. Da die Kirche in Deutschland mehr als andere Ortskirchen strukturiert, institutionalisiert und etabliert ist, hat der Papst sie erinnert, dass sie sich prüfen muss, ob sie in manchem nicht zu sehr weltlichen Institutionen gleicht und sich deren Logik zu eigen macht, ob manche ihrer Strukturen noch ihrem ursprünglichen Auftrag dienen oder nicht eher zum Ballast und zum Hindernis dafür geworden sind, zu hören, was uns der Geist Gottes heute sagt. Das sind Fragen, die für Deutschland, vielleicht aber besonders auch für die universale Kirche gelten.

Hat die katholische Kirche in Deutschland zuviel Geld?

Geld ist nichts in sich Schlechtes, aber Geld ist für Menschen immer auch eine Versuchung. Es kommt darauf an, wie man damit umgeht und was man damit macht. Die Kirche in Deutschland tut damit viel Gutes im eigenen Land – man denke an die vielen sozialen und karitativen Einrichtungen oder an die Schulen, die man alle ohne Geld nicht unterhalten kann; sie tut damit auch sehr viel Gutes für die Ärmsten der Armen in den armen Ländern der Welt, und sie erhält dafür viel Dank und Anerkennung in der Welt. Aber es lässt sich nicht bestreiten, dass Geld auch in der Kirche zur Versuchung werden und korrumpieren kann. Wenn kirchlicher Dienst zur beamtenähnlich gesicherten Position wird, kann das zu einer Versorgungs- und Anspruchsmentalität führen und den Sinn für einen einfachen apostolischen Lebensstil, wie ihn das Konzil um der Glaubwürdigkeit willen vom Klerus gefordert hat, vergessen lassen. Wenn die Kirche Geld hat, dann nicht in erster Linie für ihre Selbstversorgung und schon gar nicht für die Selbstbedienung, sondern für die Armen. Darüber sollten wir ernsthaft neu nachdenken.

Sie und ich – wir kennen die Inhalte des katholischen Glaubens. Für viele Katholiken in Deutschland aber, auch für Kirchgänger, ist an die Stelle des soliden Glaubenswissens ein – oft eher vages – religiöses Gefühl getreten, das man bei den kultischen Handlungen der Kirche auszuleben versucht. Was tun, wenn die Transmissionsriemen der inhaltlich klaren Glaubensweitergabe abgerissen sind?

Damit kommen wir zum Hauptanliegen des Papstes bei seinem Deutschlandbesuch. Ihm ging und geht es um die Erneuerung und Vertiefung des Glaubens. Sie ist angesichts eines Traditionsbruchs, eines erschreckenden Tiefstands eines soliden Glaubenswissens und seiner Reduktion auf ein oft vages und diffuses religiöses Gefühl die grosse Herausforderung. Ich hatte den Eindruck, dass der Papst vor allem dies bewusst machen und uns die Massstäbe wieder zurechtrücken wollte. Äussere Reformen ohne Grundlage im Glauben und neue Begeisterung für den Glauben sind aufgeregter sinn- und zielloser Aktionismus.

Kommen wir zur Ökumene. Das war ein Schwerpunkt des Aufenthalts von Benedikt XVI. in Erfurt. Es gab keine Gastgeschenke, keine konkreten “Fortschritte”… Sind Sie, als ehemaliger “Ökumene-Minister” des Vatikans, enttäuscht von dieser Station des Papstbesuchs?

Enttäuscht kann nur sein, wer falsche oder völlig unrealistische Erwartungen gehabt hat. Dass der Papst Positionen, die für die katholische Kirche in ihrem Glaubensverständnis begründet sind, bei seinem Besuch als “Gastgeschenk” zur Disposition stellt und sagt: “Ab morgen machen wir das alles anders”, konnte kein Einsichtiger erwarten. Dass solche Erwartungen immer wieder erweckt werden, dient nur dazu, die Enttäuschung vorzuprogrammieren und den Papst und die katholische Kirche wieder einmal vorzuführen. Das eigentliche Gastgeschenk ist dadurch aus dem Blick geraten: Dass der Papst in Erfurt ins ehemalige Augustinerkloster, in dem der junge Martin Luther lebte, kommt, dort Martin Luther – ganz anders als dies die alte katholische Polemik und Kontroverstheologie tat – als Christen charakterisiert, dem es um Gott und seine Gnade ging, dass er sich dankbar über Ergebnisse des Dialogs äussert und dass er zusammen mit protestantischen Kirchenführen einen Wortgottesdienst, der nach evangelischem Verständnis ein vollgültiger Gottesdienst ist, hält – das alles wäre noch vor wenigen Jahrzehnten völlig undenkbar gewesen. Vor allem das letztere geht über die Begegnung von Papst Johannes Paul II. mit evangelischen Kirchenführen in Mainz im Jahr 1980 hinaus. Schon allein dies zeigt, bestätigt und ermutigt den ökumenischen Fortschritt.

Immer wieder war anlässlich der Begegnung des Papstes mit der evangelischen Kirche in Deutschland vom kommenden Fünfhundert-Jahr-Jubiläum der Reformation 2017 die Rede. Auch die katholische Kirche will etwas dazu sagen, hat selbst der Papst erklärt. Wie könnte ein solches Wort aussehen?

Das Jahr 2017 ist nicht nur für evangelische, sondern auch für katholische Christen ein wichtiges Datum. Zwar können wir die Reformation nicht feiern, aber wir können ihrer gedenken, denn sie war für beide und für unser Land ein wichtiger schicksalsschwerer Einschnitt und sie bestimmt unser gemeinsames Leben bis heute. Sowohl auf der deutschen wie auf der internationalen Ebene sind Fachleute längst daran, eine gemeinsame Erklärung vorzubereiten. In ihr könnten wir, ohne die bestehenden Unterschiede zu verschleiern, sagen, dass es im sechzehnten Jahrhundert Schuld auf beiden Seiten gab, dass wir dankbar sind für die inzwischen erreichte Annäherung, dass wir entschlossen sind, den ökumenischen Weg weiterzugehen, und das dafür beten, dass uns die Gnade der Einheit geschenkt wird. Ich habe den Eindruck, wir sind dazu auf einem guten Weg.

Im Vorfeld und im Ablauf des Papstbesuchs spielten einige sogenannte “Reizthemen” eine Rolle. Da wären etwa der Priestermangel in Deutschland auf der einen Seite und das Festhalten am priesterlichen Zölibat auf der anderen Seite. Wären die “viri probati” wirklich eine Lösung des Problems der Unterversorgung der Gemeinden mit Priestern?

Der Mangel an genügend geistlichen und priesterlichen Berufungen ist selbstverständlich ein schweres pastorales Problem, das nicht nur in Deutschland, sondern mit Unterschieden in fast allen Ländern der westlichen Welt besteht. Die Ursachen sind vielfältig, und es ist oberflächlich, darin nur oder vornehmlich ein Zölibats-Problem zu sehen. Es gibt weniger Kinder und weniger Jugendliche und von den wenigen ist nur ein kleinerer Teil kirchlich engagiert; es gibt auch weniger christlich engagierte Familien, die früher das erste und wichtigste “Priesterseminar” waren. “Viri probati” wären in dieser Situation nur eine Scheinlösung. Sie würde verdunkeln, dass wir gerade in der gegenwärtigen Situation Priester brauchen, die so “verrückt” sind für Gott und die Kirche, dass sie dafür alles darangeben.

Es heisst immer, dass in der Praxis der Gemeinden sehr grosszügig verfahren werde, wenn es um den Kommunionempfang der wiederverheirateten Geschiedenen gehe. Wie weit kann ein Pfarrer dem Wunsch dieser Personen, die Kommunion zu empfangen, entgegenkommen?

Dass dieses Problem besteht und dass es nicht nur in Deutschland besteht, ist mir in den letzten Wochen bei einigen eher zufälligen Gesprächen mit römischen Pfarrern, die es von sich aus angesprochen haben, erneut deutlich geworden. Das Problem ist komplex, weil wir es mit sehr unterschiedlichen Situationen zu tun haben, die man nicht über einen Kamm scheren kann. Deshalb ist eine generelle und pauschale Lösung ausgeschlossen. Ob und wie im begründeten Einzelfall Lösungen möglich sein können, kann in verantwortlicher Weise nicht in einem Interview mit wenigen Sätzen beantwortet werden. Wichtig scheint mir aber zu sein, dass wir, ohne das Wort Jesu von der Unauflöslichkeit der Ehe “aufzuweichen” und die Eucharistie zur Schleuderware zu machen, Menschen, die sich in einer solchen Situation schwer tun, verständnisvoll und einfühlsam pastoral begleiten.

Vor Vertretern des Zentralkomitees der deutschen Katholiken hat der Papst vom “Überhang an Strukturen gegenüber dem Geist” gesprochen. Er meinte damit konkret auch die Kirche in Deutschland und rief dazu auf, “neue Wege der Evangelisierung” zu gehen. Wie könnten diese aussehen?

Neuevangelisierung ist für unsere Situation das grundlegende pastorale Stichwort. Ich kann in diesem Zusammenhang dazu nur ein paar sehr unvollständige Bemerkungen machen. Es braucht nicht so sehr besondere Events, die meist doch nur ein rasch verlöschendes Strohfeuer sind. Die neue Evangelisierung fängt bei jedem einzelnen Christen an, der in seinem Umfeld aus der Deckung herausgeht, Zeugnis gibt und sagt, dass und warum er gerne Christ ist. Er soll das nicht nur sagen, sondern durch sein Leben und Verhalten zeigen, dass Christsein eine gute und faszinierende Sache ist. Aufgabe der Kirche ist es, junge wie erwachsene Christen dazu sprachfähig, auskunftsfähig und argumentationsfähig zu machen. Wir müssen uns also überlegen, wie wir die Einführung in den Glauben und Weiterbildung im Glauben – eine Grundaufgabe der Kirche seit biblischer Zeit – heute und mit heutigen Mitteln neu organisieren können. Der Religionsunterricht und die bisherige Form der Gemeindekatechese zur Einführung in die Sakramente reichen offensichtlich nicht aus. Entscheidend ist vor allem die Predigt. Durch sie haben wir Sonntag für Sonntag die Chance, viele Tausende Menschen anzusprechen. Welche andere Institution hat diese Chance? Wir sollten sie nur besser nützen. Auch wenn es nur wenige sind, die Feuer fangen, es kann sich dann wie ein Lauffeuer in deren Umfeld ausbreiten.

Kurzum: Neue Evangelisierung ist nicht eine zusätzliche und ausserordentliche neue Aufgabe, sondern ein Impuls, der im ordentlichen und alltäglichen Leben des Christen und einer Gemeinde zum Tragen kommen soll. Ich hoffe, der Besuch des Papstes war dazu selbst ein wichtiger Impuls. Die Weltbischofssynode zu diesem Thema im nächsten Jahr wird einen ersten Erfahrungsaustausch ermöglichen und neue Impulse geben.

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