Psychologie des antireligiösen Affektes
Aggression gegen Gläubige gibt es auf vielen Ebenen
Tagespost, 06.06.2011
Aggression gegen Gläubige gibt es auf vielen Ebenen, im gekränkten Narzissmus des modernen Menschen wie auch bei fanatischen Islamisten, die ihre Religion benutzen, ohne sie zu leben. Die Psychologie entlarvt das brüchige Selbstwertgefühl der Religionskritiker. Von Raphael Bonelli
Warum genau finden es manche Zeitgenossen so auffallend irritierend, wenn andere glauben? Wieso ist es für sie so schmerzhaft, wenn eine gottesfürchtige Muslimin ein Kopftuch trägt? Was kann so bedrohlich daran sein, wenn bibeltreue Christen dem politisch korrekten Mainstream widersprechen?
Warum empört man sich, wenn Menschen das katholische Lehramt für wahr halten und ihr Leben danach ausrichten? Wieso ist es heute vielen schon ein Ärgernis, wenn sich ihnen persönlich völlig unbekannte junge Männer aus dem Glauben heraus freudig für den Zölibat entschieden haben? Warum fällt heute vielen „Toleranten“ die Toleranz gerade bei der Religion so schwer? Und um die Fragen noch weiter zuzuspitzen: Wieso in aller Welt musste man den Märtyrern ihr Leben nehmen? Wie läuft der unbewusste Psychomechanismus ab, von der ersten Emotion bis hin zum Mord? Wie tickt die antireligiöse Psyche?
Die Abwehr gegen Religion ist irrationale Aggression
Zugegeben, nicht jede Religionskritik ist psychologisch auffällig. Hier soll jedoch die Psychodynamik einer irrationalen, unkontrollierten Affektivität untersucht werden, die im Alltag oftmals Grundlage der Religionsfeindlichkeit ist und damit eine rationale Auseinandersetzung verunmöglicht. Die Aggression gegen das Religiöse, der antireligiöse Affekt, ist tatsächlich ein interessantes Phänomen und aus psychologischer Sicht noch nicht ausreichend behandelt. Auch wenn beide Seiten, der Gläubige und sein Aggressor, nicht genau wissen warum, ist eines klar: das Religiöse stört, und wer sich darauf ernsthaft einlässt, muss mit Prügel rechnen. Sei es die fromme Ehefrau, die vom Mann an der Ausübung ihrer spirituellen Interessen behindert wird, wie zum Beispiel Martha Freud, der von ihrem berühmten Gatten Sigmund das Praktizieren ihres jüdischen Glaubens ein Leben lang verboten wurde. Seien es so manche zeitgeistigen Medien, die praktizierende Katholiken prinzipiell für vogelfrei erachten, während sie peinlich genau auf das politisch korrekte Einhalten der Ansprüche anderer Minoritäten achten, die keinesfalls “diskriminiert” werden dürfen. Nehmen wir hier den Katholiken Rocco Buttiglione, der wegen seiner religiösen Überzeugungen diffamiert und medial abgeschlachtet wurde und aufgrund einer inszenierten Hysterie sein Amt als EU-Kommissar für Justiz nicht antreten konnte. Ganz offen liegt die Volksseele in so manchen Internetblogs, bei denen vielfach gläubige Menschen bloss aus diesem Grund an den Pranger der Lächerlichkeit gestellt werden. Meist reicht der Hinweis auf die Religiosität einer Person, um für öffentlich ausgetragene Ressentiments keine Sachargumente mehr zu benötigen.
Für die psychologische Untersuchung dieser latenten oder gar offenen Religionsfeindlichkeit können wir die moderne Aggressionsforschung zu Hilfe nehmen. Der Neurowissenschaftler Joachim Bauer hat in seinem neuesten Buch klargestellt, dass den meisten Aggressionsformen ein psychischer Schmerz vorausgeht, und die Aggression dessen Abwehr dient. Diese neurobiologische Erkenntnis deckt sich mit dem schon länger bekannten Phänomen der narzisstischen Kränkung. Sie bezeichnet einen zumeist unbewussten, aber sehr schmerzhaft erlebten Vorgang, der in eine irrationale und oftmals unkontrollierte Aggression gegenüber dem “Kränker” mündet. Narzisstisch kränkbar sind Menschen, bei denen sich eine starke Diskrepanz zwischen idealisiertem Selbstbild und der Realität entwickelt hat. Der Narzisst konstruiert ein übermächtiges Wunschbild von sich selbst, das er zur Realität erklärt. Er lebt mit einem überzogenen, aber brüchigen Selbstwertgefühl. Bedrohlich erlebt wird demnach jeder Hinweis auf die Wirklichkeit, da die Wahrheit über sich selbst schmerzhaft erlebt und deswegen ins Unterbewusstsein verdrängt wird.
Sigmund Freud hat der Menschheit in seiner Abhandlung “Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse” bis dahin (1917) drei schwere Kränkungen diagnostiziert. Die erste wäre die Entdeckung Kopernikus’, dass sich die Erde um die Sonne dreht und nicht umgekehrt, was nach Freud die zentrale Rolle des Menschen in Frage gestellt hätte. Die zweite bestünde in den Hypothesen des Charles Darwin, dass der Mensch vom Affen abstamme, die demnach die göttliche Schöpfung hätten widerlegen sollen. Die dritte Kränkung der Menschheit wäre eben Freuds Postulat des Unbewussten, wonach der Mensch nicht Herr seiner selbst sei, sondern materiell determiniert. Dass diese Freud’sche Selbsteinschätzung auch nicht ganz frei von Narzissmus sein dürfte, sei an dieser Stelle augenzwinkernd angemerkt. Was wir hier jedenfalls lernen können ist, dass den Narzissten ganz besonders das schmerzt, von dem er unbewusst spürt, dass es wahr sein könnte, er es aber nicht wahrhaben will. Die Bedrohung und der Schmerz bestehen darin, dass der Kränker Recht haben könnte und das konstruierte Selbstbild an der Realität zerbrechen könnte, dass, existenziell gesprochen, von ihm nichts mehr übrigbleibt. Deswegen muss das Trugbild mit offensiver Aggression verteidigt werden.
Ich möchte hiermit die drei Kränkungen des “modernen” Menschen postulieren. Die erste besteht darin, dass Gott nach wie vor nicht tot ist, obwohl Friedrich Nietzsche vor 150 Jahren dessen Ableben diagnostiziert hatte. Nietzsche zum Trotz blühen die Religionen aber weltweit. Auch in Europa zeigt sich das, insbesondere am Phänomen des Islam, aber auch an Neuaufbrüchen in der katholischen oder evangelischen Welt. Die Renaissance des Religiösen wird als bedrohlich erlebt, da das idealisierte Selbstbild des modernen Menschen vorgibt, diese Transzendenz nicht mehr zu benötigen, weil ja die “Wissenschaft” jegliches Übernatürliche wegrationalisiert habe.
In die Abwehr der schmerzhaften Realität, dass jedem Menschen eine natürliche Religiosität innewohnt, die Victor Frankl in seinem Buch “Der unbewusste Gott” beschrieben hat, wird viel Kraft investiert. Diese Abwehrkräfte können als antireligiöse Affekte wahrgenommen werden. Da sie irrational und daher unbegründbar sind, verlieren sie sich häufig in einer überzogenen Affektivität im Sinn einer emotionalen Aufgeregtheit und Betroffenheit, um sich der rationalen Diskussion zu entziehen. Tatsächlich werden dem Religiösen viele pseudorationale Scheinargumente an den Kopf geworfen, die aus den irrationalen Quellen eines schmerzhaft gekränkten Narzissmus stammen. Zusammengefasst: Die erste narzisstische Kränkung ist die unübersehbare Lebendigkeit der totgehofften Religion.
Zweitens: Noch viel schmerzhafter, weil bedrohlicher, wird aber die moralische Instanz erlebt, die den Glaubensgemeinschaften innewohnt. Die heute gehandelten alternativen Ethikangebote sind letztlich ebenso farblos wie inhaltsleer und beliebig, damit aber auch schmerzfrei, oder sogar schmerzstillend. Neues Opium für das Volk: seichte, nichtssagende, moralinsaure, politisch korrekte Stehsätze nachbeten – und sich gleich so richtig moralisch überlegen fühlen. Wie leicht ist es doch, gut zu sein. Dafür steht ein wahrhafter Gottesglaube nur bedingt zur Verfügung. Religion ist viel mehr als ein simples Moral- und Anstandsgebäude. Vielleicht gerade wegen ihrer transzendenten Verankerung ist die religiöse, und ganz besonders die katholische Morallehre nicht manipulierbar – nicht einmal von beifallshungrigen Moraltheologen. Das ist aber im Zeitalter der veröffentlichten Meinung tatsächlich eine beängstigende und durchaus schmerzhafte Angelegenheit – es bedeutet ja einen potenziellen Machtverlust für die Trend-Setter. Die Religion – jede! – degradiert den selbst zu Gott gewordenen modernen Menschen zum Geschöpf und installiert sogar Normen, an die er sich halten muss. Und behauptet sogar, dass es einen ewigen Richter gibt, vor dem der Mensch sich für seine Taten verantworten muss. Das tut weh.
Heute wird in erster Linie Schuld verdrängt
Benedikts XVI. messerscharfe Analyse bringt es auf den Punkt: “Es entsteht eine Diktatur des Relativismus, die nichts als endgültig anerkennt und als letzten Massstab nur das eigene Ich und seine Wünsche gelten lässt.” Zu dieser Ich-haften Ethik gehört damit zwingend das Postulat der Fehlerlosigkeit des modernen Menschen. Denn die neue Ethik passt sich ja flexibel an die jeweiligen Lebensformen an, deswegen konnten Fehler, Schuld und Sünde abgeschafft werden. Schuld: die haben höchstens die anderen. Damit muss in der Schmerzabwehr der Täter zum Opfer umgedeutet werden: Man wälzt so seine Fehler aggressiv auf andere ab. Ich erlebe in Paartherapien manchmal durchaus amüsante Situationen bei Ehepaaren, wenn zwei fehlerlose, unschuldige Opfer dem jeweils anderen die Täterrolle zuspielen wollen. Als klassische Täteranwärter, sprich Sündenböcke, werden übrigens auch gerne mal die Eltern herangezogen, oder, heutzutage noch stimmiger, irgendein Kirchenvertreter.
Diese Dynamik der krampfhaften Schmerzvermeidung durch rigides Festhalten an der eigenen Fehlerlosigkeit mit reflexartiger aggressiver Fremdbeschuldigung kann der moderne Mensch nur mit mühsamer Anstrengung in kontinuierlichem Selbstbetrug durchhalten. In psychoanalytischer Terminologie nennt man diese Anstrengung “Verdrängun”. Heute wird in erster Linie Schuld verdrängt, denn dafür hat der unbarmherzige Zeitgeist keine wirkliche Lösung. Eine Aufdeckung dieser Verdrängung ist schmerzhaft und muss mit Aggression abgewehrt werden. Damit ist die Kirche, sind auch die anderen Glaubensgemeinschaften, der Buhmann, denn ihre Botschaft ist, dass jeder schuldig wird. Zusammengefasst: Die zweite narzisstische Kränkung des modernen Menschen ist die eigene Schuldhaftigkeit.
Auch die innerkirchliche Allergie auf Normengebung hat hier ihren psychologischen Ursprung. In diesem Zusammenhang ist der Slogan aus den 1980er Jahren “Frohbotschaft statt Drohbotschaft” kritisch zu hinterfragen. Was wird hier genau als bedrohlich erlebt – und warum? Das Selbstbild des armen hilflos Bedrohten angesichts eines moralischen Anspruches zeugt von der klassisch neurotischen Fremdbeschuldigung aufgrund mangelnder Selbstreflexion. Zu leicht kippt solch eine Grundhaltung in die unreflektierte passive-aggressive Opferrolle. “Schuld sind die anderen, die zu viel von mir verlangen.” Aus diesem Grund werden diese psychodynamisch durchschaubaren Anliegen meist aggressiv oder verbittert vorgetragen – als Opfer eben.
Der Vollständigkeit halber muss man festhalten, dass es natürlich auch interreligiöse Aggression gibt, die einen Sonderfall der Religionsfeindlichkeit darstellt. Zur aggressiven religiösen Intoleranz neigen jene Persönlichkeiten, die sich der Religion für ihre eigenen, oft politischen und/oder egoistischen Zwecke bedienen. Sie stehen im Gegensatz zu denjenigen, die ihre Religion verinnerlicht haben. Der Psychologe Gordon W. Allport unterschied 1967 die Begriffe extrinsische und intrinsische Religiosität, indem er festlegte “the extrinsically motivated person uses his religion, whereas the intrinsically motivated lives his religion” (“Die extrinsisch motivierte Person benutzt ihre Religion, wohingegen die intrinsisch motivierte ihre Religion lebt”). Sehr deutlich wird das am Beispiel von fanatischen Fundamentalisten, die sich auf den Islam berufen, ohne ihn innerlich zu leben. Sie missbrauchen den Koran für ihre politischen Ziele und zur narzisstischen Selbsterhöhung. Offensichtlich wird dasselbe Phänomen aber auch an jenen katholischen Islamkritikern, die das katholische Lehramt wegblenden, um bei ihren feindseligen Thesen bleiben zu können. Während die Päpste Johannes Paul II. und Benedikt XVI. eine beeindruckende intrinsische Religiosität aufweisen, die mit einer hohen Toleranz auch gegen den Islam einhergeht, scheinen so manche modernen Kreuzzügler durchaus extrinsisch motiviert und berufen sich mehr auf das christliche Abendland anstatt so zu leben. Interreligiöse Aggression verläuft nach derselben Psychodynamik wie die antireligiöse, ist aber oftmals einen Deut heuchlerischer und pharisäischer.
Zur dritten Kränkung des modernen Menschen: in der Familiendynamik kann man oft das Phänomen der Aggression des Pubertierenden auf jüngere Geschwister beobachten, die sich notgedrungen mit den mächtigen Eltern verbünden. Das hat mit Eifersucht zu tun, da er sich weniger geliebt fühlt als die Jüngeren, Schwächeren, und auch mit Neid um die Gunst der bekämpften Erwachsenen. Denn der ambivalente Pubertierende sehnt sich nach der Liebe, die er ausschlägt. Dieser Mechanismus trifft auch manchmal bei der antireligiösen Aggression zu. Der aggressive Areligiöse fühlt sich unterbewusst ins Eck gedrängt, in die Enge getrieben, in Frage gestellt. Die aufgesetzte pubertäre Überlegenheitsgebärde ist oft nicht mehr als eine mühsame Rationalisierung seiner inneren Not. Seine Kränkung besteht darin, zurückgesetzt zu werden, obwohl er die Zurücksetzung pubertär provoziert. Er empfindet Neid und Eifersucht darüber, dass der andere bei Gott Liebe, Sicherheit und Geborgenheit findet, und er selbst sich einsam durch die graue und grausame Welt schlagen muss. Kain hat aus diesem Grund Abel erschlagen. Und immer die schmerzhafte Angst im Nacken, ob das alles vielleicht doch stimmt, und er auf das falsche Pferd gesetzt hat…
Hintergrund: Univ.-Doz. DDr. Raphael M. Bonelli ist Psychiater, Neurologe und Psychotherapeut an der Sigmund Freud Universität Wien. Er ist Direktor des renommierten Instituts “Religiosität in Psychiatrie und Psychotherapie”, das erstmals eine Fachtagung in einem Islamischen Zentrum veranstaltet. Um “Das Unbehagen mit der Religion. Islamophobie und verwandte Phänomene” geht es bei der am 18. Juni in Wien stattfindenden Tagung, bei der auch vier exponierte Katholiken zu Wort kommen: neben Bonelli die Religionsphilosophin Hanna-Barbara Gerl-Falkovitz über “Woher die Angst vor Gott?”, der Altabt von Heiligenkreuz, Gregor Henckel Donnersmarck, über “Islam, Christentum und Relativismus”, Tagespost-Korrespondent Stephan Baier über “Das Phänomen der sogenannten Islamophobie”, der Grazer Psychiatrie-Professor Walter Pieringer über die “Psychodynamik des religiösen Fanatismus” und der Rektor der Sigmund-Freud-Privatuniversität, Professor Alfred Pritz, über den “Islam als Kulturträger in Europa”. Der einzige muslimische Redner bei dieser Fachtagung im Islamischen Zentrum Wiens ist der aus Ägypten stammende Sozial- und Islamwissenschaftler Elsayed Elshahed mit dem Thema “Wieviel Gott verträgt die säkulare Gesellschaft?”.
Information und Anmeldung unter:
Fachtagung: Das Unbehagen mit der Religion
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