“Aufklärung ist dringend nötig”

Trotz Kreuzzügen und Inquisition: Das Christentum hat die Toleranz erfunden, ist Manfred Lütz überzeugt. Ein Gespräch über Glaube, Gewalt und Geschichte

Von Oliver Maksan

Quelle
Nachruf auf Manfred Christ
In dubio pro reo
Skandal

Herr Lütz, Ihr Buch „Skandal der Skandale“ war bis vor kurzem auf der Bestsellerliste des Spiegel, zeitweise sogar auf Platz 1. Offensichtlich kann man mit Apologetik der Kirchengeschichte auch in glaubensschwacher Zeit ein Massenpublikum erreichen. Verraten Sie uns Ihren Trick?

Da gibt’s keinen Trick und das ist auch keine Apologie. Es ist der wissenschaftliche Stand zu den sogenannten Skandalen der Christentumsgeschichte, allgemeinverständlich und in einem etwas lockeren Stil. Anlass war, dass ich vor Jahren das grossartige Werk von Arnold Angenendt „Toleranz und Gewalt. Das Christentum zwischen Bibel und Schwert“gelesen hatte und völlig überrascht war, dass ich das Meiste, was ich da las, schlicht nicht wusste. Beim Theologiestudium traten manche Professoren mit dem Gestus auf: 2 000 Jahre ist die Kirche in die Irre gegangen und dann kam ich, der Professor. Da kann doch ein gescheiter Atheist nur sagen: Dann warten wir mal 2 000 Jahre ab, ob es jetzt besser wird. Wenn das alles Mist war, dann ist das Christentum diskreditiert, denn die Christen glauben ja an die Menschwerdung, das heisst an die Geschichtewerdung Gottes. Tatsächlich liegt die Krise des Christentums vor allem an zweierlei: Zum einen glauben die Leute nicht mehr an Gott, aber wir Christen reden nicht darüber, sondern über irgendwelche innerkirchliche Querelen. Und andererseits schämen sich die Christen für ihre eigene Geschichte – ohne sie zu kennen. Deswegen habe ich mit Arnold Angenendt zusammen eine ergänzte Kurzfassung seines Werks geschrieben, damit eine breitere Öffentlichkeit mal erfährt, was die Leistungen und was die Skandale der Christentumsgeschichte wirklich waren. Es ist ein Skandal, wenn die Christentumsgeschichte immer nur als Skandalgeschichte gelesen wird.

Sie wehren sich gegen den Begriff der Apologetik. Ist das ein schmutziges Wort?

Nein, wir brauchen Bücher, die Christen in den Stand setzen, ihre eigene Überzeugung zu verteidigen. Aber solche Bücher zur Selbstvergewisserung erreichen oft nur die kirchliche Nische. Ich möchte in die säkulare Öffentlichkeit hineinwirken.

Konnten Sie Atheisten überzeugen?

Ich habe mein Buch vor allem von Atheisten vorstellen lassen, von Gregor Gysi in Berlin, Rolf Dobelli in Zürich, Konrad Lissmann in Wien und die waren durchaus angetan. Ich habe aber auch die merkwürdigsten Hassmails bekommen. Den Vogel hat die Giordano-Bruno-Stiftung Sektion Mittelrhein abgeschossen, die mir 100 Kotzschalen aus Pappe ins Krankenhaus geschickt hat. Ich habe dann dem Vorsitzenden, Herrn Schmidt-Salomon, geschrieben, dass der Atheismus intellektuell offenbar leider ziemlich auf den Hund gekommen ist. Ihm war das sehr peinlich und er hat mein Angebot, kostenlos in irgendeine ihrer Atheistenveranstaltungen zu kommen und mich seriöser wissenschaftlicher Kritik zu stellen, sofort angenommen. Wir werden am 16.9. in Heidelberg eine öffentliche „Heidelberger Disputation“ veranstalten. Ich bin mal gespannt. Mir scheint, dass es bei gewissen Atheisten bestimmte Mythen gibt, die dringend der Entmythologisierung durch wissenschaftliche Aufklärung bedürfen. Da bin ich gerne behilflich.

In der Vergangenheit hatten vor allem die Kirchen- oder Papstgeschichte skandalisierende Bücher wie „Kriminalgeschichte des Christentums“ oder „Im Namen Gottes“ Erfolg. Dreht sich da der Wind? Will man einen positiveren Blick auf die Geschichte des Glaubens wagen?

Gregor Gysi hat gesagt, er sei Atheist, aber er habe Angst vor einer gottlosen Gesellschaft, weil der die Solidarität abhanden kommen könne; Sozialismus sei schließlich nichts anderes als säkularisiertes Christentum. Es sind also erstaunlicherweise inzwischen Atheisten wie Gysi und Jürgen Habermas, die sich Sorgen machen, wenn die christlichen Fundamente unserer Gesellschaft zerbröseln, denn sie wissen sehr gut, dass Verfassungspatriotismus allein nicht reicht. Wenn die Trumps, Dieter Bohlens und Heidi Klums die Atmosphäre bestimmen, dann wird es eiskalt in unserer Gesellschaft, dann zählt nur noch Erfolg, Geld und Der-Größte-Sein, dann macht man sich wieder über Behinderte nur lustig, wie die Heiden, bevor die Christen kamen. Die nämlich stellten gerade die Schwachen in den Mittelpunkt. Denn in ihnen konnte man Christus, das heißt Gott, begegnen. Die Christen haben das Mitleid erfunden – auch Krankenhäuser sind christliche Erfindungen. Die Frage ist also: Taugt das Christentum noch als geistiges Fundament unserer heutigen Gesellschaft?

Und? Taugt es?

Ja klar. Das Christentum hat zum Beispiel die Toleranz erfunden …

Trotz Inquisition und Scheiterhaufen?

Die Etymologen sagen uns, dass tolerantia im klassischen Latein hieß: Lasten tragen, Baumstämme zum Beispiel, und die Christen haben daraus gemacht: Menschen anderer Meinung ertragen. Ich wusste das nicht, das habe ich erst bei Angenendt gelesen. Auch dass das Christentum – wegen des Unkraut-Weizen-Gleichnisses – die einzige größere Religion war, die tausend Jahre lang keine Ketzer getötet hat, wusste ich nicht. Umso schlimmer, dass auch die Christen dann seit dem Jahr 1022 begannen, Ketzer zu töten. Das war ein wirklicher Skandal, zumal es der ausdrücklichen Weisung Jesu widersprach.

Und dann aber in großer Zahl. Die Inquisition kann damit nicht unbedingt als Leuchtturm der Toleranz gelten.

Da haben Sie selbstverständlich recht, aber die Inquisitionsforschung hat inzwischen erstaunliche Ergebnisse erbracht. Wussten Sie, dass die Spanische Inquisition in der sogenannten wilden Phase von 1482 bis 1540 etwa 5 000 Todesopfer zählte und dann zwischen 1540 und 1700 im gesamten spanischen Weltreich exakt 826? Und dass die Römische Inquisition in der gesamten Zeit ihres Bestehens 97 Todesurteile fällte? Ich wusste das jedenfalls nicht. Natürlich ist jedes einzelne Opfer ein Skandal, aber es waren eben nicht Millionen, wie man immer noch im Spiegel lesen kann.

Es geht immer wieder um die Frage des Verhältnisses von Gewalt und Glaube. Ist das Christentum strukturell anfällig für Gewalt? Oder unterscheidet sich das Deus lo vult, mit dem Papst Urbans II. in Clairmont-Ferrand zum ersten Kreuzzug aufgerufen hat, grundsätzlich von den Aufrufen zum Dschihad?

Die Kreuzzüge waren wirklich ein Skandal. Die frühen Christen waren Totalpazifisten, die sich von den Juden unter anderem dadurch abgrenzten, dass sie am jüdischen Aufstand 66 nach Christus nicht teilnahmen. Aber man muss dann auch wissen, dass die Kreuzzüge eben keine heiligen Kriege zur Verbreitung des Glaubens waren, wie nicht der Vatikan, sondern zum Beispiel israelische Forscher betonen. Der byzantinische Kaiser hatte die westlichen Christen um Hilfe gegen die Türken gebeten, die seine Armee vernichtend geschlagen hatten. Er wünschte sich ein Ritterheer und das hatte auch der Papst im Sinn. Was dann allerdings loszog, war erst mal ein vagabundierender Volkstumult, der am Rhein an den Juden Gräueltaten verübte und dann auf dem Balkan auch an Christen. Wer aber schützte die Juden am Rhein? Es waren die Bischöfe, alle Bischöfe öffneten ihre Häuser und verdammten die Pogrome.

Dennoch hat man zahllose Male Gewalt im Namen des christlichen Gottes ausgeübt. Kann man sich dabei vielleicht nicht doch irgendwie auf die Bibel berufen, wie das die Dschihadisten mit dem Koran tun?

Die Kreuzfahrer fanden keinen einzigen Satz im Neuen Testament und zitierten daher die Makkabäerbücher aus dem Alten Testament. Das Wappen der Republik Venedig war übrigens der Markuslöwe mit der geöffneten Bibel. Das Kriegswappen Venedigs war ebenfalls der Markuslöwe. Aber seine Bibel war geschlossen. Man wusste immer, dass man mit dem Evangelium keinen Krieg führen kann.

Würden Sie sagen, die Beschäftigung mit der Geschichte des Christentums und der Kirche hat Ihren persönlichen Glauben gestärkt?

Jedenfalls als ich bei Angenendt mal den tatsächlichen Forschungsstand las. Dass Internationalität eine christliche Erfindung ist, wusste ich vorher nicht. Denn die Christen glaubten erstmals an nur einen Gott, der alle Völker gleich geschaffen hatte. Deswegen sind Leute, die das christliche Abendland hochleben lassen und gleichzeitig brüllen „Deutschland, Deutschland über alles“ schlicht nicht informiert. Xenodochien, Fremdenherbergen, entstanden im frühen Mittelalter, weil die Aufnahme von Fremden christliche Pflicht war. Deswegen ist Fremdenfeindlichkeit unchristlich. Viele Leute, die vom christlichen Abendland, aber auch vom christlichen Menschenbild und von sogenannten christlichen Werten sprechen, haben in Wahrheit vom Christentum gar keine Ahnung, deswegen ist Aufklärung so dringend.

Dennoch gilt gerade die Kirchengeschichte in unseren Breiten meist als Widerlegung des Christentums.

Genau, und deswegen finde ich ja, dass jeder Christ mein Buch – oder natürlich das Werk von Arnold Angenendt – lesen muss, damit er seinen atheistischen Nachbarn, seinem skeptischen Enkel, seinem vorurteilsvollen Arbeitskollegen Rede und Antwort stehen kann. Interessant ist übrigens, dass die kirchensteuerbezahlten Medien, zum Beispiel die Kirchenzeitungen, von dem Buch kaum Notiz nehmen, wobei es Ausnahmen gibt, und der journalistische Tiefpunkt war das Kölner Domradio, das stolz darauf ist, dass ihm der Bischof gar nichts zu sagen habe. Man scheut wohl die Auseinandersetzung mit der säkularen Welt, in die man mit dem Thema dieses Buches gerät.

Nun hat sich aber auch der heilige Johannes Paul II. im Heiligen Jahr mit großer Geste für Untaten in der Kirchengeschichte entschuldigt …

…und zwar zu Recht. Er hat all die Schuld auch der Christen in einem eindrucksvollen Bußakt vor Gott getragen. Man behauptet immer, die Kirche habe einen hohen moralischen Anspruch. Das stimmt doch gar nicht. Sie hat sich immer als Kirche der Sünder verstanden. Nicht umsonst hat Jesus den ziemlich charakterschwachen Petrus mit der Leitung beauftragt, sicher auch, um damit deutlich zu machen, dass wir Christen allein aus eigener Kraft nichts vermögen, sondern alles der Gnade Gottes verdanken.

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