Die himmlische Stadt

Die himmlische Stadt – Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft

Rezension

Wo Gottes Gnade leuchtet, da braucht man keine Lampe

Veröffentlicht am 27.11.1999 Von Alan Posener

Paul Badde schreibt die Geschichte des Traums vom Himmlischen Jerusalem

Ich sah die Heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott her aus dem Himmel herabkommen; sie war bereit wie eine Braut, die sich für ihren Mann geschmückt hat … Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen!” Was für eine Vision, was für ein Traum! Eine Stadt, in der man keine Lampe braucht, weil sie von Gold und Edelsteinen, vor allem aber von Gottes Gerechtigkeit erleuchtet wird. In der keine Tore abgeschlossen werden. In der es weder Tod noch Trauer, Klage noch Mühsal gibt. Ein heute selten gelesener Text, der selbst manchen Christen wenig bekannt und ein wenig peinlich ist: Die Offenbarung des Johannes, die Apokalypse. Eine Utopie, ein Nimmerland, und doch Urbild und Urmeter unserer abendländischen Zivilisation, der “Schlüssel zum Geheimnis Europas”, wie Paul Badde meint.

Der Text wird alljährlich am 9. November in katholischen Kirchen verlesen, zur Erinnerung an die Weihe der Lateranbasilika durch Kaiser Konstantin im Jahre 324. Mit der “Konstantinischen Wende” wähnten die Christen nach Jahrhunderten der Verfolgung die Herabkunft des Neuen Jerusalem nahe: Das europäische Haus, das damals Kleinasien und Afrika so selbstverständlich umfasste wie Gallien und Germanien, sollte ein Gotteshaus werden. Ihre Hoffnungen wurden enttäuscht; bald musste Augustinus den Gottesstaat ans Ende der Zeit verbannen. Der Traum blieb. Wie ein Träumender gleitet der Leser durch die Mauern von Raum und Zeit, vom Jerusalem der Propheten nach Nizäa und Konstantinopel, Mailand, Hippo, Ravenna, Monte Cassino, Rom, Santiago de Compostela, Soissons, Aachen, Lorsch, Lyon, Casamari und mit den Kreuzfahrern zurück nach Jerusalem: Ein Sternstundenbuch des Abendlands, beginnend mit einem Gespräch zwischen unseren jüdischen Ahnen Paulus, Jesaja und König David.

Paul Badde gehört zur seltenen Spezies des literarischen Journalisten. Sein an der Reportage geschulter Stil kommt etwa in folgender Vignette zum Ausdruck: “Auf einem kleinen Platz herrscht Tumult. Dicht an dicht steht da eine erregte Menge… Manche tanzen. Manche lachen übermütig, als wären sie betrunken. Bei einer Palme stehen zwölf Männer und mitten unter ihnen eine alte Frau; alle miteinander leuchtend wie Kerzen auf einem grossen Leuchter.” Es ist Pfingsten, die Geburtsstunde der Kirche, die mit der Vision vom Himmlischen Jerusalem Europas Vorstellung von irdischer Gerechtigkeit formen wird.

Baddes Sternstunden sind die grossen Augenblicke des christlichen Abendlands, in denen sich die Menschen der transzendenten Wurzel ihrer Gesellschaftsordnung inne werden: Bischof Ambrosius verweigert dem Kaiser Theodosius wegen eines Massakers den Zutritt zur Kirche; unterwegs zum Grab des Apostels Jakob auf dem Sternenfeld in Spanien entdeckt sich die pilgernde Christenheit als Europa wieder und gewinnt die Kraft, dem Ansturm der Mauren zu widerstehen; ein fränkischer König kniet vor einem schottischen Erzbischof, der ihn mit Öl aus dem Land der Juden salbt, wie einst Samuel den jungen David; ein deutsch-französischer Kaiser regiert das “Heilige Römische Reich”. Das Raum-Zeit-Kontinuum Europa erscheint wie eine grosse Gemäldegalerie: Zusammenhänge werden sichtbar zwischen der Grabeskirche in Jerusalem und der Kaiserkrone der Ottonen in Wien, zwischen dem auf Patmos geschriebenen Buch der Offenbarung, den Sternen auf der Decke des Mausoleums der Gallia Placida in Ravenna und dem Lotharkreuz aus dem Aachener Domschatz.

In der zweiten Hälfte seines Buchs ist Badde nicht als Traumwandler im alten, sondern als Reporter im neuen Europa unterwegs: In Rom und Dubrovnik, Belfast und Moskau, in Hemingways Pamplona und in einem mit dem Marmor aus Hitlers Reichskanzlei erbauten Berliner U-Bahnhof. Wie Atlantis versinkt der ehemals christliche Kontinent. Seine Spuren sind überall und doch immer weniger gegenwärtig: Verschüttet, verleugnet, vergessen. Am Grab des Apostels in Compostela liest der Reporter: “Aus Santiago rufe ich dich, altes Europa … Wende dich! Begegne dir wieder!” Worte von Johannes Paul II. bei seinem Besuch am 9. November 1982. Baddes Buch macht Lust auf diese Wiederbegegnung. Am besten, man kauft gleich zwei Stück: Eins für sich, eins als Geschenk für jemanden, der sich damit auf die Reise macht — nach Jerusalem, Rom, Aachen, oder wenigstens ins nächste Museum.

Paul Badde:

Die himmlische Stadt. Der abendländische Traum von der gerechten Gesellschaft.
Luchterhand, München 1999. 251 S., 39,80 Mark

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