Visionäre gesucht? Eine Rezension
In der römisch-katholischen Kirche hat es nie an Visionären gemangelt, nicht an besonderen inneren Erfahrungen und nicht an Wahrnehmungen, die den Horizont des menschlichen Wahrnehmungsvermögens weit überschreiten
Von Thorsten Paprotny, 6. April 2019
In der römisch-katholischen Kirche hat es nie an Visionären gemangelt, nicht an besonderen inneren Erfahrungen und nicht an Wahrnehmungen, die den Horizont des menschlichen Wahrnehmungsvermögens weit überschreiten. Man muss aber den Gehalt und die Gestalt von Offenbarungen jeglicher Art von subjektiven Vorstellungen, die als Vision bezeichnet werden, unterscheiden. Insbesondere scheint es ratsam zu sein, die Stimme des kirchlichen Lehramtes nicht als eine Stimme von vielen zu relativieren, sondern als Stimme der notwendigen und verbindlichen Orientierung anzuerkennen.
Wir scheinen dennoch in einer Zeit zu leben, in der Elemente visionärer Erfahrung erwartet und vorgebracht werden. Dann gilt es, nicht das Evangelium im Lichte der “Zeichen der Zeit” zu deuten und geschmeidig anzupassen. Niemand muss Rücksicht auf das Sammelsurium zeitgeistlich kolorierter Meinungen und Anschauungen nehmen, sondern die “Zeichen der Zeit” müssen im Lichte des Evangeliums gedeutet werden. Nötig sind Hinweise auf die anstössige Wahrheit des Glaubens.
Wilhelm Bruners, Priester des Bistums Aachen, Autor spiritueller Bücher und ein erfahrener geistlicher Begleiter, verbindet in dem schmalen Band “Gottes hauchdünnes Schweigen” eine plausible Kritik theologischer Sprachformen und Sprechgewohnheiten mit Elementen der modernen Kirchenkritik. Anders gesagt: Er hat Visionen, vielleicht auch Hoffnungen. So verdienen einige von Bruners’ Reflexionen, ernsthaft bedacht zu werden, vor allem dann, wenn er die Formen religiöser Inszenierungen charakterisiert und pointiert analysiert. Insbesondere gegenüber “religiösen und theologischen Meinungsmachern” übt er vehement Kritik. Wer “religiöse Unterhaltung und Folklore” veranstalte, der zeige gegenüber den Gläubigen “mehr Verachtung als Respekt”. Bruners schreibt: “Die Frage nach Gott und der Wahrheit verliert durch solche Showveranstaltungen und Events ihren Ernst und verschwindet am Ende ganz. Antworten geben solche Machtdemonstrationen nicht; sie unterhalten bestenfalls. Wenn aber tiefe Lebenskrisen kommen, versagen sie völlig, weil ihnen dazu keine Antwort einfällt.”
Der Verweis auf das Buch Ijob erfolgt hier nicht, aber vielleicht ist es tatsächlich so, dass eine ganze Fülle leerer, unerheblicher und vorgefertigter Antworten dem existenziell Fragenden noch präsentiert wird. Zugleich weist Bruners jede Form einer “spirituellen Sondersprache” ab. Er plädiert für eine “neue” Sprache. Zudem spricht er von der “Schuldgeschichte” der Religionen. Er kritisiert das “wenig göttliche »Bodenpersonal«” und alle “Dogmen und Katechismen, die in bestimmten Situationen und Zeiten” durchaus “hilfreich” sein könnten, aber ein “Verfallsdatum” haben würden. Die “Stimme Gottes” werde “nicht mehr gehört und zum Schweigen gebracht”. Da fragt sich der Leser staunend: Wie kann ein Mensch, eine Gruppe von Menschen oder eine Kirche Gottes Stimme zum Schweigen bringen?
Die “prophetischen Stimmen”, so formuliert Bruners energisch, würden “immer noch bekämpft und liquidiert”. Gewiss, dem möchte niemand widersprechen. Dazu gehören sicherlich auch die romtreue Opponenten gegen einen nationalkirchlichen Mainstream ebenso wie jene, die sich etwa dem Römischen Ritus in der außerordentlichen Form verbunden wissen und als “vorkonziliar” stigmatisiert, belächelt und verhöhnt werden.
Hiervon allerdings schweigt der Autor und wirbt dafür, die “lebendige Gotteserfahrung” zu berücksichtigen. Gott spreche nicht in der “Sprache der Sieger”. Bruners verweist auf das “hauchdünne Schweigen”. Es sei ein “geradezu sicheres Zeichen einer göttlichen Frage, dass sie in einem Raum der Stille hörbar wird”: “Nur da, wo der Mensch diese Stille sucht, erlebt und aushält, werden seine tiefen Fragen aufsteigen, die schon lange in ihm ruhen und dann am Ende auch von ihm wahrgenommen werden können.” Die Bibel kenne keine “Privat-Offenbarungen”, aber Propheten. Diese fänden, so Bruners, in “Priestern und Theologen” ihre “»natürlichen« Gegner”. Das prophetische Wort sei für die “etablierte Religion” einfach “unberechenbar und gefährlich”. Noch immer würden künstliche Barrieren aufgerichtet, in der Sprache der Kirche herrscht ein Geflecht, das “komplizierte philosophische und theologische Kompromissformeln” beinhalte: In Europa haben die Christen “noch nicht gelernt, Gott in der Alltagssprache ihres menschlichen Miteinanders zu hören und zu verstehen”. Es fehle der “Zugang zu den Herzen der Menschen”, eine Sprache, die “das Bestehende durcheinanderwirbelt”, geleitet von der Einsicht: “Gott ist jeder kirchlichen Sprache voraus.”
Wilhelm Bruners lobt die Würzburger Synode und Papst Franziskus, unter dem sich das “Sprachverhalten der katholischen Kirchenleitung” zu verändern scheine. Zugleich bemängelt er, dass das “etablierte, vom Vatikan kontrollierte Bürger-Christentum und seine Kultsprache” nicht sensibilisiert sei für die “Gottsprache Mensch”: “Der Mensch braucht nicht zu fragen, wie er denn Gott heute zur Sprache bringen kann – oder wo.” Gott sei längst da. Aber die “Gestalt der Kirche von morgen” müsse sich grundlegend ändern: “An den Wegen, die heute junge Menschen gehen, an ihren Hoffnung und ihren Weisen, Beziehung zu gestalten, an ihren Visionen und Liturgien, an ihren Sprachen und ihren gestalterischen Kräften könnten alle sehen, wohin Gott mit dieser jungen Generation und damit auch seiner Kirche insgesamt geht.” Man solle nicht von einer “Glaubenskrise” sprechen und mit dem “»Kirchengebabbel«” einfach fortfahren. Stattdessen fordert Wilhelm Bruners, einen “jesuanischen Blickwinkel” einzunehmen. Es gelte, Orte wahrzunehmen, “an denen Kreuze aufgestellt sind, Menschen in Mülltonnen nach Essen suchen, an denen Menschen kiffen, weil sie sonst das Leben nicht ertragen können, an denen Frauen sich prostituieren, weil sie sonst den Lebensunterhalt für die Familie nicht zusammenkriegen”: “Sie sind Hilferufe Gottes in unserer Zeit, die SOS-Botschaft in den Chaosfluten der heutigen Geschichte.”
Papst Benedikt XVI. forderte die Entweltlichung der Kirche – und auch Papst Franziskus machte sich diesen Aufruf vom Beginn seines Pontifikates an zu eigen. Davon berichtet Wilhelm Bruners nichts, obwohl die Aufforderung zur Wahrnehmung der Menschen am Rande der Gesellschaft und ihrer konkreten Not nahelegen könnte, die Saturiertheit einer kirchensteuerfinanzierten Gemeinschaft zu überwinden und die Behäbigkeit eines Wohlstandskatholizismus abzulegen.
Der Autor schließt mit einem – aus der Sicht der römisch-katholischen Kirche – in jedem Fall fantasievollen Ausblick auf die Zukunft des Priesteramtes: “Der Priester der Zukunft wäre dann ein Mensch, Mann oder Frau, der das Draußen verbindlich nach innen trägt. Seine Liturgie wäre eine Liturgie des gelebten Lebens und der unabgegoltenen Hoffnung auf den hin, der mit der Vollendung seiner Vision noch aussteht. … Es ging um die Heiligung ihres Lebens und der Menschen miteinander, um seine Alltagstauglichkeit – bei weiter ausstehender und einklagbarer Vision auf eine noch kommende Vollendung. Diese Botschaft sollten Frauen und Männer in seiner Nachfolge hinaustragen bis an die Enden der Erde. Nicht als Besserwisser. Auch nicht als Missionsimperialisten.”
Wilhelm Bruners spricht aus seiner Erfahrung. Als Leser staune ich und erkenne, dass sich meine Wahrnehmung von den hier aufgezeigten Perspektiven deutlich unterscheidet: Menschen allen Alters strecken sich sehnsüchtig aus nach Gott, auf ihre je eigene Weise, mit ihren Erfahrungen, mit ihrer persönlichen Glaubensgeschichte, mit ihren Schwierigkeiten und manchmal auch mit ihren Zweifeln – und sie wünschen sich nichts lieber, als einen würdig gefeierten Gottesdienst, als die Kirche des Herrn, die Seinem Wort folgt, die aus den Quellen von Schrift und Tradition schöpft und die nicht auf den Wogen des Zeitgeistes dahinsegelt – und sie wünschen sich Zeugen des Glaubens, Weltchristen und Priester, die ihrer Berufung entsprechen und transparent sind für Christus. Sie fragen nach Gott, ja sie schreien nach ihm – und erwarten nicht Visionen für eine Kirche von heute, morgen und übermorgen. Es geht ihnen einzig und allein um Gott. Ihm möchten sie begegnen. Zu Ihm möchten sie beten. An Ihn möchten sie glauben als den Sinn ihres Lebens, auf Ihn möchten sie hoffen und Ihn, den gekreuzigten, auferstandenen und in Seiner Kirche sakramental gegenwärtigen Herrn Jesus Christus, möchten sie lieben.
Bruners, Wilhelm: “Gottes hauchdünnes Schweigen. Auf seine Stimme hören”, erschienen in: Franziskanische Akzente Bd. 20. Hrsg. v. Mirjam Schambeck u. Hartmut Schlegel OFM im Echter Verlag.
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