Schicksal einer japanischen Familie
Dreimal wurde die Familie schon evakuiert
Sukagawa., RP-online, 15.03.2011, von Lucie Sucha
Kotoe Jokojama ist eine 29 Jahre alte Japanerin, Mutter zweier Kinder. Zusammen mit deren Grosseltern entkam die junge Frau nur knapp dem Erdbeben und dem Tsunami. Nun ist die Familie auf der Flucht vor der gefährlichen Strahlung aus den beschädigten Atomkraftwerken. Dreimal wurde die Familie schon evakuiert.
Als erstes sind die Kinder zu hören. Sie trippeln über die Treppen des weissen Gebäudes, das am Freitag noch ein Hotel war – nun ist es ein Evakuierungslager für die Opfer der Katastrophe in Japan. Die Kinder stürmen die Treppe hinunter, ihre Mutter folgt ihnen. Sie heisst Kotoe Jokojama. Dreimal mussten sie, ihre Kinder und deren Großeltern evakuiert werden.
“An diesem Tag, am Freitag, musste ich erst am Nachmittag zur Arbeit gehen. Morgens war ich zu Hause, ich räumte auf, als die Erde zu beben begann. Sofort rief ich meinem Sohn zu: “Schnell raus hier'”, so erinnert sich die 29-jährige Japanerin an das schwerste Erdbeben, das sie bislang erlebt hat. Ihr vierjähriger Sohn folgte ihr, ohne zu zögern. Das bebende Haus verliess der Junge, so wie er war – nur mit einem T-Shirt bekleidet und barfuss. Die Außentemperatur lag nur knapp über der Null-Grad-Grenze. Kotoe Jokojama half noch ihrer kranken, 80-jährigen Mutter und ihrem 75 Jahre alten Vater aus dem Haus. Sie hatten Glück im Unglück – die Familie überlebte das Beben.
Dennoch kehrte die 29-Jährige nochmal ins zusammenstürzende Haus zurück. “Ich hatte Kleider für die Kinder vergessen”, so begründet sie, dass sie ihr Leben aufs Spiel setzte. Das Gebäude stand nur noch wenige Augenblicke, dann überrollte es die Tsunami-Welle.
Kotoe Jokojama fand mit den Kindern im Rathaus Unterschlupf, dort verbrachte die Familie die erste Nacht nach Erdbeben und Tsunami. Schon in der Früh ereilte sie die nächste Schreckensnachricht: Die radioaktive Gefahr aus dem Kraftwerk Onagawa, sie mussten sich erneut in Sicherheit bringen. “Ich stamme aus der Stadt Inamisoma. Also gingen wir dorthin zu meiner Familie”, sagt Kotoe Jokojama. Doch die Stadt ist nicht weit entfernt vom Atomkraftwerk Fukoshima – auch dort droht der Reaktor zu bersten. “Wieder mussten wir weg”, berichtet die 29-Jährige. In das Hotel Hatagoya in der Stadt Sukagawa, nur etwa 50 Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt.
Angst und Gefahr bleiben: Die Überhitzung des dritten Reaktors droht. Strahlung wird in der Luft gemessen. Aus den Nachrichten erfährt sie, dass eine weitere Explosion droht. Möglicherweise droht ihr und der Familie eine weitere Evakuierung, muss sie wieder woanders Schutz und Sicherheit suchen.
“Wir haben alles verloren, aber wir leben”, sagt sie. Der Grossvater erzählt derweil den Hoteleigentümern, was die Familie durchmachen musste. Während Kotoe Jokojama mit ihren 29 Jahren trotz der Erschöpfung noch stark und voller Energie wirkt, hat der 75-jährige Grossvater scheinbar aufgegeben. Er wiederholt immer die gleichen Worte, als ob er hoffen würde, wenn er die Geschichte immer wieder erzähle, werde sie vielleicht einmal ein besseres Ende haben.
“Die Grosseltern brauchen Medikamente. Mit der Grossmutter müssen wir wegen ihrer Nieren jeden Tag ins Krankenhaus. Das kostet Geld. Wenn man hier in Japan den Versicherungsausweis nicht hat, ist alles sehr teuer”, erklärt Kotoe Jokojama. “Schon die Fahrt zur Klinik, das Benzin …”
Und die Erde bebt immer noch. Alle zwei Stunden spürt die Mutter schwache Erschütterungen. Zweimal, dreimal in der Nacht bebt es so heftig, dass sie und ihre Kinder aus dem Schlaf schrecken.
Auch die Stadt Sukugawa ist vom Erdbeben stark betroffen. Fast jedes Haus ist beschädigt. Gegenüber dem Hotel räumt ein Bagger die Überreste einer Fabrik auf, von der nur ein Trümmerhaufen geblieben ist. Auch diese Stadt vermittelt wahrlich kein Gefühl von Sicherheit. Für Kotoe Jokojama jedoch ist der Ort nach den Erlebnissen der vergangenen Tage dennoch eine Oase der Ruhe.
Die junge Mutter bedankt sich paradoxerweise für das Interview, lehnt die ihr angebotene Hilfe ab und entschuldigt sich noch für das wilde Benehmen ihrer Kinder. “Es ist für sie sehr schwer. Es gibt hier kein Wasser. Sie vermissen ihr Spielzeug. Da ist es schwer, brav zu sein. Darüber hinaus ist meine Schwägerin, die mit uns gekommen ist, schwanger. Ihr geht es nicht so gut. Sie muss im Krankenhaus bleiben, und ich muss auch auf ihre zwei Kinder aufpassen”, sagt die 29-Jährige und zeigt auf ein dreijähriges Mädchen und einen fünfjährigen Jungen.
Kotoe Jokojamas Tochter ist schon acht Jahre, ihr Sohn vier Jahre alt. Der Junge trägt eine grüne Hose, eine grüne Jacke und Sportschuhe mit einem grünen Streifen. Alles passt zusammen, alles hat seine Mutter aus ihrem zusammenstürzenden Zuhause gerettet. Nur eines hat sie vergessen, sagt sie beim Blick auf die nackten Knöchel des Kindes – grüne Strümpfe.
Schreibe einen Kommentar