Die Kirche hat die Ideale Jesu verraten
Der säkulare Staat und die Glaubensfreiheit sind Kinder der Aufklärung. Eine Replik auf Martin Grichting
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Die Auflärung ist nicht vom Himmel gefallen
Entweltlichung – Diverse Autoren
Dass Martin Grichting als Apologet des Katholischen das Christentum über den Islam stellt, ist nur logisch. Und beizupflichten ist ihm, dass das Christentum von seinem Stifter und seinen Grundlagen her mehr zum Frieden und zum religiös neutralen Staat beitragen kann als der Islam. So hat es Grichting, der Generalvikar im Bistum Chur, am Montag im «Tages-Anzeiger» ausgeführt.
Tatsächlich können sich gewalttätige Christen nicht auf Jesus berufen. Anders als Mohammed, der zum siegreichen Kriegsherrn und Politiker aufstieg, betrieb Jesus keine Eroberungspolitik und forderte absoluten Gewaltverzicht. Für Mohammed und den Koran sind weltliche und geistliche Herrschaft, Glaube und Politik untrennbar. Jesus dagegen unterschied zwischen staatlichen und religiösen Aufgaben. Sein Wort «Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist», bedeutet eine prinzipielle Trennung von Religion und Politik und führt letztlich zum säkularen Staat.
Was Grichting aber völlig unterschlägt: Fast immer in seiner 2000-jährigen Geschichte hat das Christentum die Ideale seines Stifters verraten. Stets hat es Kriege mit Gott legitimiert. Als Kreuzfahrer Gottfried von Bouillon 1099 Jerusalem eroberte, richtete er unter dem Schlachtruf «Deus lo vult», «Gott will es», ein Massaker an den Muslimen an. Inquisition, Hexenverbrennung und Verfolgung der Ketzer – alles geschah, wenn nicht im Namen Jesu, so doch im Namen Gottes oder der Gottesmutter. Schlachtenhelferin Maria wurde gegen die Türken, Sarazenen und Ketzer angerufen und diente als Patronin christlicher Heere. Im Spätmittelalter trieb das Papsttum Eroberungspolitik mit Weltmachtambitionen. Und in der Neuzeit geriet der Dreissigjährige Krieg zum schlimmsten Konfessionskrieg Europas. Die Untreue gegenüber dem gewalt- und machtlosen Religionsstifter ist eklatant.
Kampf der Emanzipation
Auch Jesu Weisung, weltliche und geistliche Sphäre zu trennen, blieb unbeachtet. Schon im 4. Jahrhundert wurde das Christentum mit der Konstantinischen Wende Staatsreligion. Sie diente fortan dazu, Staaten und Reiche zusammenzuhalten. Bis ins 20. Jahrhundert hinein bestimmte der christliche Monarch über die Religion in seinem Hoheitsgebiet. Nicht nur der Papst hielt am Glaubensstaat fest. Auch die Katholisch-Konservativen im jungen Schweizer Bundesstaat stemmten sich gegen alle säkularen und liberalen Tendenzen. Als die Schweizer Juden vor zwei Wochen 150 Jahre Gleichberechtigung feierten, machten Historiker wie Josef Lang deutlich, dass die Katholisch-Konservativen die Emanzipation der Juden, vor allem deren Glaubens- und Kultusfreiheit, bekämpften, um den christlichen Staat am Leben zu erhalten.
Natürlich ist die Aufklärung nicht vom Himmel gefallen. Menschenwürde und Freiheit sind nicht ihre Erfindung, sondern in der jüdisch-christlichen Bibel angelegt. Die Vorstellung vom Menschen als Bild Gottes ist nie erloschen. Dass der christliche Glaube aber Nährboden der freien Gesellschaft und die Wurzel der Aufklärung ist, wie Grichting behauptet, das hat gerade seine Kirche nicht eingelöst. Nicht sie, sondern die Aufklärung hat den säkularen Staat hervorgebracht. Als friedensstiftende Alternative zur religiösen Gewalt der Konfessionskriege forderte sie die Säkularisierung der Staatsgewalt. Und die Freiheit der Bürger, frei von staatlichem Zwang und kirchlicher Bevormundung ihre Religion selber wählen zu können.
Grichting weiss sehr wohl, dass die Glaubensfreiheit, überhaupt die Menschenrechte, nur gegen den erbitterten Widerstand der Kirche durchgesetzt wurden. Papst Pius IX. hat im 19. Jahrhundert Presse- und Meinungsäusserungsfreiheit, Niederlassungsfreiheit und vor allem die Glaubensfreiheit als liberale Zeitirrtümer gegeisselt und verurteilt. Erst vor 50 Jahren, am Zweiten Vatikanischen Konzil, hat sich die römische Kirche zur Glaubens- und Gewissensfreiheit bekannt.
So müsste man eigentlich auch dem Islam zubilligen, dass er sich ändern kann. Er kann es auch, wie islamische Staaten ausserhalb der Arabischen Halbinsel zeigen. Immerhin haben fast die Hälfte der 57 muslimischen Staaten eine laizistische oder säkulare Verfassung. Der Islam, wie er sich im Mittleren Osten präsentiert, müsste sich allerdings noch viel stärker als das Christentum mit seinem Stifter und den Heiligen Schriften auseinandersetzen. Diese hindern ihn oft genug daran, sich zur Trennung von Staat und Religion, zu Glaubensfreiheit und Gewaltlosigkeit zu bekennen.
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