Bonaventura: Pilgerbuch der Seele zu Gott Antiquariat

Zweieinhalb Jahre nach seiner Wahl zum 7. Ordensgeneral der Franziskaner begibt sich Bonaventura in die Einsamkeit der Alverna, ein Berg des zentralen Appenin in der Toskana, unweit von Caprese, dem Geburtsort Michelangelos

Hl. BonaventuraStufenweg – Bernardus-Verlag
Das glorreiche Kreuz Christi: Mass der Liebe Gottes

Von Andreas Speer

Würzburg, 4. April 2008, Die-Tagespost/Zenit.org

Zweieinhalb Jahre nach seiner Wahl zum 7. Ordensgeneral der Franziskaner begibt sich Bonaventura in die Einsamkeit der Alverna, ein Berg des zentralen Appenin in der Toskana, unweit von Caprese, dem Geburtsort Michelangelos. An diesem besonderen Ort, an dem der Ordensgründer Fanziskus seine Wundmale empfangen hatte, verfasst Bonaventura seine wohl bekannteste Schrift: das „Itinerarium mentis in Deum“, den „Stufenweg des Geistes zu Gott“, eine Schrift, die zu Recht zu den Höhepunkten spekulativen Denkens im christlichen Abendland zählt.

Den Pilgerweg des Geistes zu Gott beschreibt Bonaventura als einen geistigen Aufstieg, der in der literarischen Form einer Vision angeleitet wird durch die Erscheinung des geflügelten Seraphs in Gestalt des Gekreuzigten – wie beim Ordensgründer Franziskus, in dessen Nachfolge sich Bonaventura sieht. Die sechs Flügel des Seraphs entsprechen sechs Stufen einer geistigen Erhebung, durch welche die Seele zum Frieden in der Schau Gottes gelangt. Hierzu wendet sie sich zunächst nach draussen, um in der Welt den Spuren des Schöpfers nachzugehen, sodann nach innen zum Geistigen in uns und schliesslich über uns, um Gott in der ihm eigenen Wesenheit zu erkennen. Am Ende steht als ein siebter Schritt ein Überstieg in die Entrückung der vollkommenen Schau und des ewigen Friedens. Hier endet alles Streben nach Erkenntnis, hier kommt es zur Erfüllung, sodass nichts mehr zu erstreben bleibt.

Diese Erkenntnisbewegung, die vom Untersten zum Obersten, vom Äusseren zum Inneren und vom Zeitlichen zum Ewigen führt, entfaltet die Möglichkeiten der imago-Natur des Menschen. Hierbei vergleicht Bonaventura die Gesamtheit der Dinge einschliesslich der erkennenden Seele selbst mit einer Leiter, auf der wir zu Gott emporsteigen können. Allerdings beschränkt er diese „Jakobsleiter“, sofern sie über die Dinge führt, auf die beiden ersten Stufen: Spur und Abbild. Die letzte Stufe, welche – im Bild des obersten Flügelpaares – die Geistseele über sich hinaus zur Betrachtung des ersten Prinzips gemäss den beiden primären göttlichen Namen des Seienden und des Guten führt, scheint dagegen eine unmittelbare, und das heisst gnadenhafte Formung durch das Licht der ewigen Wahrheit selbst vorauszusetzen.

Der erste Schritt in der Erkenntnisanalyse des Itinerariums gemäss der ersten Grundstufe erfolgt nach Art des Eintritts der Welt, des Makrokosmos, in unsere Seele, den Mikrokosmos. Hierbei erkennt die Seele die zusammengesetzten Dinge, die nicht der Substanz nach, sondern vermittels ihrer Wahrnehmungsbilder durch die Pforten der Sinne in die Seele eingehen. Auf diese Weise tritt die ganze Welt durch die Tore der Sinne in die menschliche Seele ein.

Aber auch diese erste Grundstufe, welche die beiden untersten Flügel des Seraphen umfasst, ist nicht auf die sinnlich wahrnehmbaren Dinge beschränkt, sondern umfasst ebenso die geistigen Dinge. Die Allgemeinheit des Spurseins verweist nämlich auf die dreifache schöpferische Kausalität, sofern Gott Wirkursache, Exemplarursache und Zielursache ist. Auf diese Weise entspricht die Aufstiegsbewegung vom Spursein zu Gott einer Rückführung der Dinge auf das erste Prinzip entsprechend der von Bonaventura vom „wahren Metaphysiker“ geforderten Aufgabe, sich von der Betrachtung des „Sein aus einem anderen, gemäss einem anderen und eines anderen wegen“ zu einem „Sein aus sich, gemäss seiner selbst und um seinetwillen“ zu erheben, das den Sinngehalt des Ursprungs, des Urbildes und des Zieles hat.

Am Anfang der folgenden zweiten Grundstufe, die dem mittleren Flügelpaar entspricht, steht die Hinwendung zu sich selbst. „Kehre also bei dir ein“, so fordert Bonaventura mit den Worten des Augustinus die imago auf, „und siehe, dass dein Geist sich selbst ganz glühend liebt. Er könnte sich aber nicht lieben, wenn er sich nicht erkennte, und er würde sich nicht erkennen, wenn er sich nicht seiner erinnerte; denn wir erfassen mit dem Verstande nur, was in unserer Erinnerung gegenwärtig ist“. Dies verdeutlicht Bonaventura anhand einer Analyse der auf Wahrheit ausgerichteten Erkenntniskraft und insbesondere mit Blick auf das Erfassen der Begriffe durch den Verstand, der ersten und auch für das Erfassen der Sätze und Schlüsse grundlegenden Denkoperation. Die sich in zwei Schritten vollziehende Erkenntnisanalyse führt schliesslich zur Erkenntnis eines ersten Seienden, das als lauterstes, wirklichstes, vollendetstes und absolutes Sein eine doppelte Priorität besitzt: Es ist das Erste in der Ordnung des Erkennens und in der Ordnung des Seins. Und es ist dieses Sein, das als erstes in unseren Verstand einfällt, das bei allem, was wir erkennen und denken, als erstes schon immer mitgedacht ist. Dieses Sein, das die volle Wirklichkeit ist, ist das göttliche Sein, ja, ist Gott selbst. Der Geist entdeckt also in seinem Innersten das, was er seiner Natur nach schon immer ist, auch wenn er darum nicht weiß. Von einer wundersamen Blindheit spricht daher Bonaventura, da unser Geist das an sich Offenbarste nicht erkennt, ohne das doch nichts erkannt werden kann.

Obgleich also für Bonaventura jeder Erkenntnis ein Wissen um das vollkommene göttliche Sein zu Grunde liegt, so ist der Mensch dennoch auf die Betrachtung der geschöpflichen Welt angewiesen, um zur Erkenntnis Gottes zu gelangen; denn als apriorische Bedingung der Möglichkeit von Erkenntnis ist das göttliche Sein nur für die allgemeine Vernunft, nicht jedoch schon für den einzelnen Menschen ersterkannt. Grundlage dieser Betrachtung Gottes durch die Schöpfung ist ein Seinsverständnis, dem gemäss die Dinge ihre Bedeutung nicht nur in sich besitzen, sondern als kreatürliches Abbild das schöpferische Urbild je nach Art ihrer Vergegenwärtigung repräsentieren. Das bedeutet, dass die Schöpfung zu Gott in Beziehung steht nach Massgabe der Spur, des Abbildes und des Ähnlichkeitsbildes. Dieses Ausdrucksverhältnis deutet Bonaventura sowohl trinitarisch als auch christologisch, sofern das göttliche Wort als vollkommener Ausdruck des Vaters das ewige Urbild aller Geschöpfe ist, die dadurch nach ihrem Vollkommenheitsgrad als Abglanz der Trinität betrachtet werden müssen. Alle Geschöpfe kommen von Gott durch das Wort, das in der Menschwerdung seine volle Vermittlerfunktion wahrnimmt.

Die Rückkehr zu Gott zeigt sich also als ein dreifacher Weg der Läuterung, der Erleuchtung und der Vervollkommnung, der schliesslich das ganze geistige Leben des Menschen bestimmt und zur Vollkommenheit der Gottesliebe und zum Glanz der Wahrheit führt. Das sei der Weg, auf dem Franziskus die geistige und körperliche Angleichung an den gekreuzigten Christus erlangt habe. Zur letzten Vervollkommnung auf diesem Weg „zu jenem Frieden, der alles Denken überragt“, gelangt aber nur, wer schliesslich alle Tätigkeit des Verstandes hinter sich lässt und den Überstieg von der begreifenden zur überschreitenden Erkenntnis vollzieht, „indem er auf eine alles übersteigende Weise aus sich herausgeht, wobei er sich über sich selbst erhebt“. Diesen „transcensus“ beschreibt Bonaventura als ein Ergriffen-, Entrückt- und Emporgetragenwerden im „äussersten Punkt von Erkenntnis- und Affektstreben“. Darin besteht zugleich die vollkommene Weisheit: eine in der Erkenntnis beginnende und im Affekt endende Gabe des Heiligen Geistes, um die „keiner weiss, wenn er sie nicht erfährt“.

Bei diesem Überstieg ist Christus selbst Weg und Tür, Leiter und Gefährte. Damit erhält der transitus-Begriff eine christologische Bedeutung. Es ist derjenige Akt, der uns nach unserem geistigen Tod, den die spätere Mystik als Vernichtung des Eigenwillens deuten wird, zur österlichen Auferstehung führt: das ist der neue Mensch. Hierin ist Franziskus in der Entrückung auf dem Alverna-Berg zum Vorbild der vollkommenen Schau geworden.

[Bonaventura: Pilgerbuch der Seele zu Gott. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Julian Kaup. Kösel Verlag, München 1961; Teil 17 der Reihe „50 Hauptwerke der Philosophie“, © Die Tagespost vom 22. März 2008]

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