Triumph des Pragmatismus
‘Deutschland im Winterschlaf’
Unter Bundeskanzlerin Angela Merkel vollzieht sich die Staatsräson nach Moden und Sachzwängen: Das erfüllt die Sehnsüchte und Harmoniewünsche vieler Bürger. Doch Vorsicht! Eine Politik ohne Wertemassstäbe schwächt die Demokratie und stärkt die extremen Ränder.
Die Tagespost, 12. Januar 2015
Von Björn Hayer
Deutschland im Winterschlaf. Wie selig schlummerte das Volk der Dichter und Denker, der Fleissigen und Ordentlichen in den vergangenen Jahren. Kein Wunder: Eine unaufgeregte Mutter der Nation wiegte es in ihren Armen.
Und wo sich doch hin und wieder die Äuglein zu öffnen drohten, griff Angela Merkel, diese ikonische Sandfrau, in ihren Sack mit Sternenstaub, streute ihn in die Winde und liess die Erwachten umgehend wieder in sich zurücksinken. “Ihr braucht euch um nichts sorgen”, so die Devise jener fürsorglichen Gouvernante, die, wie es Roger Willemsen zuletzt einmal sagte, ganze Betäubungszonen über das Land ausgebreitet habe. In der Tat: Ob Eurokrise, Spionageaffären, Haushaltskonsolidierung oder Mautdesaster – die Regentin der nüchternen Analytik weiss stets den Eindruck von Ruhe und Klarsicht zu vermitteln. Um sie entfaltet sich eine Aura der Beschwichtigung.
Ihr erfolgsversprechendes Rezept lässt sich unter dem Begriff des politischen Pragmatismus’ subsumieren. Statt kantigem Profil aus leidenschaftlich verfochtenen Werten steht sie für einen Kurs der Umstandsabwägung. Um dem Kreuzfeuer der Kritik zu entgehen, sitzt sie Entscheidungen so lange aus, bis sich deutliche Verhältnisse herauskristallisiert haben. Dieses Verfahren ist sicher, verspricht den kleinstmöglichen Widerstand, aber ist es auch einem demokratischen Gebilde angemessen? Wer noch einmal die deutsche und europäische Demokratiegeschichte Revue passieren lässt, mag erkennen: Nur die Kontroverse und der Streit in der Sache haben zu einem gelingenden Gemeinwohl beigetragen. Die Adenauer’sche Westintegration gegen Brandts Öffnung gen Osten, die Anti-AKW-Proteste, der NATO-Doppelbeschluss und das Nein zum Irakkrieg waren politische Bekenntnisse, die letztlich allesamt mehr oder weniger zum Fortschritt der Gesellschaft beitrugen, aber zuvor immer in vehementen Debatten erkämpft wurden.
Unter der Ägide Merkels verflüchtigte sich allmählich der partizipative Geist. Da der Pragmatismus per se eher technisch, bürokratisch und Mehrheiten-orientiert ist, liegt er im politischen Spektrum vor allem in der goldenen Mitte. Irgendwie kann jeder mit den Beschlüssen der Regierung leben. Aber wann wurde zuletzt um etwas existenziell gerungen? Die Passion ist reinem Pragmatismus gewichen. Inzwischen glauben wir schon selbst daran, dass jedwede Entscheidung aus Berlin in Zeiten der Krisen und internationalen Verunsicherungen “alternativlos” sei. Doch wo die Streitkultur verloren geht, ist der Abgrund der Demokratie nicht weit. Dies wussten auch die Denker hinter dem Grundgesetz, die statt blosser Maxime insbesondere auf den Konflikt von Rechtsgütern geachtet haben. Freiheit und Gleichheit, Länderstruktur und Bundestag bilden oppositionelle Felder, worin Diskussion gedeihen und in das Volk getragen werden soll.
Inzwischen gelten die Bürger aber als Black Box. Sie stellen einen unbelehrbaren Störfaktor dar. Auch im übrigen Europa, wo Expertenregierungen und Bürokraten Staaten mehr als Krisenverwalter, denn als Entscheidungsträger zu lenken verstehen. All die Samaras, Montis und Rajoys sind Insolvenzverwalter, welche ihrem Volk mit leeren Händen und scheinbar unumkehrbaren Reformpaketen in der Tasche zurufen: Rien ne va plus (Nichts geht mehr). Die Schätze sind aufgebraucht, der Spass vorbei. Aber bleibt uns gewogen und friedlich. Die augenscheinliche Basta- und Sackgassen-Politik repräsentiert aber nur eine Seite des Pragmatismus. Denn abseits der scheinbaren Notwendigkeitsphrasen saugt er sich voll wie ein Schwamm. Indem Merkel, diese Strategin der Macht und dieses Glanzbeispiel einer zweckorientierten Volksdienerin, ihre Partei mehr und mehr linker, grüner und sozialdemokratischer machte – man denke nur an den Ausstieg aus der Atomkraft, den Mindestlohn oder die in vielerlei Hinsicht CDU-untypische Familienpolitik –, nahm sie nicht nur ihren Konkurrenten den Wind aus den Segeln, sondern machte die CDU zum stimmenstärksten Bollwerk. Eine unbekämpfbare Festung, gebaut um ein Volk, das inzwischen froh ist, nicht mehr selbst über die Mauern schauen zu müssen. Die Feld- und Burgherrin der Nation wird das Übel der Welt schon abhalten. Über allem Zweifel erhaben, nur irgendwelcher Ideologie zu erliegen, konnte die wohltemperierte Konsenstaktik Merkel schon über zwei Legislaturen hinweg die Macht sichern. Entgegen der landläufigen Meinung offenbart sich augenscheinlich nicht der starke, wertbewusste Fürst als dauerhaftes Machtzentrum, sondern die Staatsfrau, deren Entscheidungen auf rein aktuellem Kalkül beruhen. Dabei firmiert Niccolo Machiavellis frühutilitaristisches Prinzip “Der Zweck heiligt die Mittel” als Leitsatz zur Machtstabilität. Nur jener Regent, der sich nicht durch eigene, verkopfte Meinungen angreifbar macht und mehr aus Sachverstand denn aus Überzeugung handelt, kann seine Position dauerhaft halten.
Obgleich die Politik der letzten Jahre durchaus auch einschneidende Massnahmen verabschiedete, kann kaum von einem starken, von einer Sicherheitsarchitektur gezeichneten Staat die Rede sein – zumindest wenn man mit Carl Schmitt argumentiert. Gemäss seiner Auslegung von Thomas Hobbes’ “Der Leviathan” braucht es, um auch Gefahren von rechts und links abzuwehren, eine Ordnung, die durch einen klaren, unangreifbaren Wertekanon geprägt ist. Was der Staatsrechtler 1938 schrieb, wirkt heute aktueller denn je: Denn der Gestus der Pragmatik führt nur scheinbar zum Frieden. In Griechenland, Belgien und immer stärker auch in Frankreich, wo nun Schröders Agendapolitik erneut als alternativloses Modell gepriesen wird, mobilisieren zunehmend die Rechten und machen sich den Unmut der Benachteiligten zu Nutze. Braunes Gedankengut kleidet sich im Mantel von Bürgerfreundlichkeit und zieht nun just in der Pegida-Bewegung eine bizarre Mixtur aus Globalisierungsverlierern, Stammtischrednern, Geld- und Wertkonservativen, Wutbürgern und mehr oder weniger maskierten Rechtspopulisten auf die Strasse.
Dass es in Deutschland schon seit Jahrzehnten an einer einheitlichen Asylpolitik oder einer mutigen Vorstellung für das Europa der Zukunft zwischen Staatenbund und Bundesstaat mangelt, rächt sich nun in den Aufmärschen. Wie es das Entfant terrible der französischen Literatur, Michel Houellebecq, in seinem kontrovers diskutierten Neuling “Unterwerfung” skizziert, ernten die Volksverhetzer die Früchte aus Furcht und Schrecken. Hierin erzählt der Autor von der Wahl eines islamistischen Präsidenten im Frankreich im Jahr 2022 und malt das Schreckensgespinst muslimischer Universitäten und des mohammedanischen Patriarchats an die Wand. Schlagwörter wie “Überfremdung” und “Sozialabbau“ sprechen vielen, die sich nach einheitlichen Weltbildern zurücksehnen, aus dem Herzen. Die etablierten Parteien haben kaum noch Bindekraft; Parolen und simple Botschaften stehen jedoch bei den Abgehängten hoch im Kurs. Der als Mob beschimpfte Volksprotest taumelt im weiten Raum des politischen Alls, ohne seinen Planeten finden zu können. Da die Akteure im politischen Berlin zunehmend ihr Profil aufgegeben haben, damit sie ein Stück von der Mitte – was sie im Konkreten auch immer sei – ergattern, gingen Identifikationspotenziale verloren. Die Folge: Die Ränder werden stärker, profitieren von der Durchschnittlichkeit und Nebulosität der einstigen Volksparteien.
Somit liegen derzeit Entpolitisierung und Mobilisierung enger denn je beieinander. Während die einen in Merkels Sternenstaub schlafen oder schlichtweg resigniert haben, hat sich bei anderen das Ventil gelöst, sodass sich all die verdrängte Enttäuschung Raum bahnt. Dabei täte es beiden Extremen gut, sich wieder auf die eigenen Wurzeln zu besinnen. Dies meint wohlgemerkt keine Fanatisierung, aber eine Fundamentalisierung. Wenn die Parteien wieder hellsichtiger ihre Standpunkte nach aussen vertreten würden, wäre allen Seiten ein Dienst getan. Einer wahrhaft konservativen Union würde es möglicherweise gelingen, die AfD auf diese Weise wieder aus dem Rennen zu nehmen und die Missmutigen zu reintegrieren. Ja, es könnte sein, dass so etwas wie eine politische Kultur, ein gesunder Widerstreit von Argumenten und bissigen Bundestagsreden zurückkäme. Auch das Parlament, das längst ein Schattendasein im Flimmermeer der Talkshows fristet, könnte wieder zu Rang und Namen gelangen. Und ja, auch dem Land würde es guttun, weil Politik im Wettbewerb der Ideen den Aufbruch zu neuen Visionen wagen könnte.
Nachdem jedoch jedwede Haltung inzwischen sofort unter Ideologieverdacht steht, ist es mau geworden an Rhetorikern, mit denen sich Ideale verbinden. Stattdessen bestimmen Moden den Alltag des politischen Pragmatismus. Man arbeitet Fragen und Probleme ab, doktort an Symptomen herum, was sich auf beklemmende Weise an Europas Aussengrenzen zeigt. Man baut die Zäune noch höher, ohne aber auf die ökonomischen und klimatischen Ursachen der Flüchtlingsströme einzugehen. Erst die Abkehr von der Verzweckmässigung staatlichen Handelns wäre dazu imstande, wieder Utopie zu entwickeln. Die grossen Entwürfe benötigen Konzentration und einen langen Atem.
Nunmehr sind echte Demokraten gefragt, Denker mit Rückgrat und Verantwortungsbewusstsein. Scheint der Pragmatiker zumeist kaum über Folgen seiner Entscheidungen rechenschaftspflichtig zu sein, zumal er alle Schuld den äusseren Umständen wie der Lage der Weltwirtschaft oder – noch besser – der Finanzkrise zuschieben kann, muss sich der Visionär im Gegensatz dazu auch den Konsequenzen seiner Pläne stellen. Dies fordert ebenso von uns die Toleranz für eine verloren gegangene Fehlerkultur ein. Zu lange schon huldigen wir der Political Correctness, ächten seitens der Medien Individualisten mit Ecken und Kanten. Für seine flotten Sprüche und sein grossmännisches Getue wird Gerhard Schröder heute noch belächelt. Aber vielleicht war er trotz aller Kritik an den Hartz IV-Gesetzen einer der letzten gestandenen Persönlichkeiten, angreifbar, aber Macher, der zu seinem Wort stand. An ihm zeigt sich sehr gut, dass selbst die politischen Kommentatoren dem Pragmatismus auf zynische Weise zum Siegeszug verholfen. Der Basta-Kanzler, aber auch andere politische Akteure wurden und werden aufs Härteste karikiert, sobald sie für eine Position einstehen. Wenn Parteien jetzt doch einmal Haltung beziehen, sich dem strikten Nein zu jeglichem Waffenexport oder einer Mütterrente verschreiben, werden sie zumeist der Lächerlichkeit preisgegeben.
Am schwersten wiegt angesichts dessen ein inflationärer Freiheitsbegriff. Er entzieht sich jeder Moral und verwirft jede Ethik als dogmatisches Korsett. Die Freiheit, welche der politische Pragmatismus bar jeder Wertebasis propagiert, meint allen voran eine Freiheit von etwas, eine Freiheit zur Beliebigkeit, austauschbar und stets von den sich ändernden Windrichtungen geprägt. Es bedarf der Vorstellung einer Freiheit zu etwas. Zu Toleranz, Humanismus und sozialer Verantwortung für alle, die in unserem Land leben. Um jedem Verdacht der Träumerei am Schluss noch zuvorzukommen:
Zum neuen Jahr sind alle Wünsche und guten Vorsätze legitim.
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