Christen und Muslime könnten neue Gesellschaft aufbauen

“Die Muslime im Nahen Osten können nicht ohne die Christen leben”

Der in Damaskus residierende Patriarch der Melkiten, Gregorios III. Laham , zeigt sich im “Tagespost”-Interview optimistisch: Syriens Christen und Muslime könnten eine neue Gesellschaft aufbauen. Schwere Vorwürfe macht er jedoch Washington.

Die Tagespost, 22. Oktober 2014

Von Stephan Baier

In Europa war man euphorisch über den “Arabischen Frühling”. Was hat dieser Frühling den Menschen der arabischen Welt gebracht – nur Krieg, Vertreibung und Chaos?

Ich stimme ganz zu! Das ist die Frucht dieses “Arabischen Frühlings”! Ob das Ziel wirklich ein Frühling war, ist die Frage. Dazu fehlte der echte Wille der Europäer, und noch mehr der Amerikaner. Leider Gottes folgen die Europäer allzu sehr den Amerikanern. Ich bin der Meinung, dass die Europäer führen sollten – nicht die Amerikaner. Die Europäer haben seit jeher mit den Arabern viele Verbindungen. Sie könnten einen Dialog mit den Arabern führen. Wenn die Europäische Union in ein Gespräch mit einer Arabischen Union eintreten könnte, gäbe es eine Zukunft für beide, und auch für den Dialog zwischen Islam und Christentum.

Europa war aber eher überrascht von den Entwicklungen in der arabischen Welt.

Aber sie haben mitgemacht, etwa Frankreich in Libyen. Paris hat gedacht, da sei eine Beute, aber dann haben sie nichts bekommen. Man hat die Dinge falsch eingeschätzt und war dann überrascht. Bis jetzt gab es viele Kriege zwischen Ost und West, zwischen Islam und Christentum. Nun ist es Zeit, etwas anderes zu versuchen: ein Gespräch über Werte und Kultur. Man muss jetzt IS zerschlagen, das ist in Ordnung. Aber nach alledem, was wir erlebten, nach all den Enttäuschungen, muss man heute einen anderen Weg suchen. Es braucht ein Forum, mit dem Ziel des Vertrauens zwischen Ost und West. Es kann in der europäischen Nahost-Politik nicht immer nur um Sicherheit für Israel gehen. Ich habe nichts gegen Israel, aber Europa braucht einen breiteren Blick für die 350 Millionen Menschen in der Region, die eine neue Richtung brauchen. Ich bin in Syrien schon dabei, eine kleine Gruppe zu etablieren. Kirche und Zivilgesellschaft müssen ein Forum bilden. Auch Israel braucht den Schutz innerhalb der arabischen Welt viel mehr als den Schutz von Amerika.

Die Päpste haben den Dialog mit dem Islam gewagt, aber nur wenige Gesprächspartner gefunden.

Rom kann weltweit andere Wege suchen als die der Waffen und Kriege. Es geht darum, mit der arabischen Welt eine neue Sprache zu schaffen. Die katholische Kirche sollte die anderen Konfessionen einladen – die Orthodoxen, Protestanten, Anglikaner und Orientalen –, nach einem Weg des Friedens und ohne Waffen zu suchen. Die ganze Welt muss sich da engagieren, denn die Lage ist für die Werte aller Menschen gefährlich. Wenn ein Konsens der Kirchen und Staaten gelingt, kann man die Quellen der Kraft auch des IS stoppen. Ich glaube an eine gemeinsame Front: Die Bischofskonferenzen müssen auf ihre Staaten Einfluss nehmen, denn die Gefahr ist weltweit.

Wo sehen Sie dafür Gesprächspartner in der islamischen Welt?

Ich habe schon vor längerer Zeit einen Brief an den Mufti der Al Azhar in Kairo geschrieben und vorgeschlagen, ein Treffen der Patriarchen mit den Muftis abzuhalten. Dazu könnten, durch den Einfluss der Bischofskonferenzen, noch die europäischen Staaten kommen. Das könnte so eine Kampagne sein, die zwar von der Kirche ausgeht, aber sich bemüht, alle partnerschaftlich einzubeziehen.

Gibt es nicht innerhalb der islamischen Welt eine Radikalisierung, die solchen Visionen entgegensteht?

Es gibt diesen Versuch, weil Europa keine Werte und Ziele zu haben scheint. Aber desto eher müssen wir reagieren, bevor diese Ideen noch weiter verbreitet werden.

Der “Islamische Staat” ist ja nur ein Beispiel für diese Ideologisierung: IS und andere wollen ein religiös homogenes Territorium ohne Andersgläubige schaffen.

Das ist nicht möglich! Ein Getto für die Christen oder für die Muslime ist hier unmöglich, weil in der gesamten Geschichte des Landes die Menschen miteinander gelebt haben. Wir können ohne die Muslime nicht leben. Und die Muslime können ohne uns nicht leben: für die Schulen, Sozialeinrichtungen, Medien. So ist etwa die beste Druckerei für islamische Bücher im Libanon, weil da die Christen sind. Die Muslime im Nahen Osten können nicht ohne die Christen leben!

Woher kommt dann diese IS-Ideologie?

Das war schon da, aber im Untergrund. Für mich ist der IS ein Instrument für etwas ganz anderes, denn es kann nicht wahr sein, dass der Islam plötzlich so brutal wird. Auch wenn sie die Idee haben, die Welt zu erobern – nicht auf diese Art und Weise! Wir Christen im Orient sind vielfach islamisiert worden, aber das geschah weniger durch Gewalt als durch Osmose. Aber diese brutale und propagandistische Weise, wie sie sich brutal in Videos zeigen, das wirkt auf mich nicht echt. So bekommt Amerika eine Handhabe, um in Syrien einzugreifen. Syrien ist kein Boden für einen solchen Islamismus! Wir haben 1 400 Jahre miteinander gelebt, und es war nie so. Warum also jetzt? Der Islam war immer missionarisch, aber nicht wie heute der IS. Für mich ist die Frage: Warum diese Brutalität? Welchen Interessen dient das? Immer wollten sich Amerika und Europa in Syrien einmischen – vielleicht ist das der Weg? Das politische Interesse ist, in Syrien in einer legitimen Weise eingreifen zu dürfen.

Mit welchem Ziel?

Um Assad zu stürzen und dann das Land zu teilen. Der Terror ermöglicht ihnen, diesen Prozess schneller voranzutreiben. 450 000 Christen sind aus Syrien geflohen, aber da hat die Welt nicht so reagiert. Jetzt flohen 120 000 Menschen in zwei Wochen, und das ist Anlass für die Welt, gleich zu reagieren und zuzuschlagen. Das ist ihr Instrument. Der Terror gegen Kinder und einfache Leute bewirkt, dass die Menschen fliehen, weil sie keine andere Möglichkeit haben. Und er schwächt die Regierung. Nach dreieinhalb Jahren gibt es immer mehr Chaos und Blutvergiessen.

Wem nützen Krieg, Terror und Chaos in Syrien? Vielleicht Saudi-Arabien, das jetzt seinen Einflussbereich ausdehnt?

Sowieso! Sie wollen ihre Form des Islam langsam aufbauen und als die Retter vor dem brutalen IS auftreten. Dadurch erscheinen sie als die Gemässigten, denen man vertrauen kann. Es gibt Menschenrechtsorganisationen in den USA, die mit Saudi-Arabien zusammenarbeiten, um Syrien die Demokratie zu bringen!

Der Westen scheint jetzt auch bereit, den Kurden einen eigenen Staat im Nord-Irak und in Nord-Syrien zu geben.

Vielleicht. Das ist eine Politik der Teilungen. Vorher war viel Elend in Syrien, aber keine Reaktion. Als es gegen die Kurden ging, kam sofort die Reaktion.

Syriens Nachbarn Jordanien und Libanon geraten durch die Flüchtlingswellen unter wirtschaftlichen und sozialen Druck. Droht der Libanon zu kollabieren?

Kollabieren vielleicht nicht, aber die Tatsache, dass sie seit Monaten keinen Präsidenten haben, zeigt, dass sie zerstritten und geteilt sind. Es gibt auch bereits mehr als hundert Opfer von Auseinandersetzungen und Zwischenfällen. Der Libanon ist für mich viel mehr in Gefahr als Syrien, denn in Syrien gibt es nur den Präsidenten und die Opposition, aber im Libanon sind alle gegeneinander. Das ist eine unübersichtliche Situation, schlimmer als in Syrien.

Der Libanon scheint kaum noch in der Lage, die vielen Flüchtlinge zu versorgen.

Jetzt werden keine Visa mehr ausgestellt. Es gibt keine Erlaubnis mehr, in den Libanon zu gelangen. Manche kommen trotzdem noch auf illegalen Wegen, aber die meisten werden zurückgewiesen. In Jordanien weniger, denn die Leute wissen, dass im Libanon keine starke Hand ist. Darum sind da mehr Möglichkeiten. In Jordanien ist man weniger beweglich und es gibt für Flüchtlinge weniger Arbeitsmöglichkeiten.

Werden so jene Länder destabilisiert, die die besten Verbündeten des Westens sind: der Libanon als einzige Demokratie der Region, das westlich orientierte Jordanien und der NATO-Partner Türkei?

Da sieht man den Willen jene zu zerstören, die gegen Israel stehen. Syrien hat die Front gegen Israel angeführt, der Libanon war unter dem Einfluss Syriens. Der Irak ist schon zerstört. Wenn nun auch Syrien zerstört wird, dann ist das alles offenes Land. Jordanien ist flexibler, kann sich mit England und Israel arrangieren. Der König hat mehr Manövermöglichkeiten als Syrien. Jordanien ist nicht notwendig für die Ziele, die man erreichen möchte. Der Westen will IS schlagen und die “moderate Opposition” gegen Assad stärken.

Gibt es in Syrien so etwas wie eine moderate und friedliche Opposition?

Das gab es nie: keine moderate und keine friedliche Opposition. Ich habe ein paar Mal die Assad-Gegner eingeladen ins Patriarchat, um mit ihnen zu sprechen. Sie erschienen nicht. Ich bin kein fanatischer Regime-Anhänger, sondern habe die Regierung manches Mal kritisiert und Listen von Reformen erstellt. Aber ich sehe keine Alternative, auch wenn ich sie gerne sähe. Nach 40 Jahren Baath-Herrschaft sind alle Kinder derselben Schule, mit der gleichen Weise zu regieren. Wir haben nichts Neues zu erwarten von einer anderen Gruppe.

Warum kann sich Assad so lange halten? Er wird im Krieg nur mehr von Teheran und von der Hisbollah unterstützt.

Es sind diese Bündnisse da, die Allianz mit Iran und Hisbollah. Es gibt aber keine echte Alternative. Viele sagen: Wir haben keinen anderen Schutz und keine andere Zuflucht als den Präsidenten und die Armee.

Wie kann das Christentum in Syrien noch überleben?

Wenn der Krieg weitergeht, gibt es sicher neue Wellen von Flüchtlingen. Ich predigte, zu bleiben, und ich helfe den Menschen, aber sie haben Angst. Und Angst ist tödlich. Viele, die gehen, sind nicht die am meisten Bedürftigen, sondern jene, die Angst haben. Wir ermutigen die Menschen, da zu bleiben, aber die Angst ist gross.

Gibt es noch funktionierende kirchliche Strukturen?

Ganz und gar! Mitunter sogar in den von den Rebellen kontrollierten Gebieten. Viele Christen haben den Banditen Geld bezahlt, damit sie bleiben können. Die Muslime brauchen die Christen und ihre Talente: für Infrastruktur, Banken, Medien, Schulen. Der Islam ist gewohnt, mit den Christen zu leben. Deshalb habe ich Hoffnung. Wir werden auch in Zukunft miteinander leben und wieder eine neue Gesellschaft bauen.

Das klingt optimistisch angesichts der Tatsache, dass aus manchen Regionen alle Christen vertrieben wurden.

Das ist wahr. Aber etwa Maalula war bereits leer, und jetzt gibt es da wieder Christen. Wir bemühen uns auch darum, dass die Leute von Mossul zurückkommen. Wenn die Welt beitragen kann, dass die Christen nach Mossul und Ninive zurückkehren, ist das die beste Ermutigung für die Christen im Nahen Osten. Die Christen werden weniger sein in Zukunft. Aber im Gegensatz zu Nordafrika haben wir Christen im Nahen Osten 1 400 Jahre mit dem Islam überlebt. Selbst im Irak leben heute noch 400 000 Christen. Natürlich besteht eine ganz grosse Gefahr im Moment, aber wir dürfen uns nicht nur bedauern, sondern müssen suchen, wie wir überleben können.

Wie wirkt sich diese Bedrängnis auf die Zusammenarbeit der Konfessionen aus?

Das ist viel besser geworden. Gott sei Dank! Die Ökumene ist im Nahen Osten in guter Gesundheit. Viel besser als in Europa! Wir haben gute Gespräche miteinander und helfen uns. Die Familien heiraten untereinander. Auf der Ebene der Bischöfe und der Patriarchen haben wir eine gute Harmonie und gemeinsame Sicht. Wir haben in Syrien gemeinsame Erklärungen abgegeben.

Vor dem Krieg gab es auch gute Kontakte zu den Imamen mit Syriens Grossmufti Hassoun an der Spitze. Sind die muslimischen Führer für Sie heute noch erreichbar?

Anfang 2011 gab es eine Konferenz über die vatikanische Nahost-Synode. Daran haben 13 Patriarchen und 35 Staaten des Orients teilgenommen, alles finanziert von der Regierung. Bei Versöhnungsversuchen nehmen immer Christen und Muslime teil.

Wie gross ist die Autorität des Grossmufti bei den Muslimen Syriens heute noch?

Er ist beliebt, aber es gibt nicht viel Einfluss. Er ist gemässigt, aber das Sagen haben heute die Militärs, denn heute spricht man die Sprache des Krieges und der Waffen. Da haben wir nicht viel Einfluss. Das Leben ist heute nicht normal. Da sind andere Akteure. Wir Priester und Imame sprechen die Sprache der Versöhnung, aber das spielt heute eine geringe Rolle.

Wie soll Europa gegenüber Syrien agieren?

Vielleicht sollte man die Botschafter wieder zurückschicken. Warum soll man nicht andere Wege suchen? Warum immer nur Krieg? Sie sollen sagen, was sie von Assad haben wollen! Nur zu sagen, der Mann ist ein Killer und muss weg, das ist keine Politik. Aber Europa ist abhängig von Amerika und kann keine eigene Rolle spielen.

Europa nimmt nur wenige Zehntausend Flüchtlinge auf. Ist das korrekt?

Das ist zweischneidig: Wir danken Europa dafür, dass es Menschen in Bedrängnis aufnimmt, andererseits brauchen wir die Menschen zuhause. Meine Bitte ist: Nehmen Sie nur die tragischen Fälle auf! Sonst ist die Türe offen, dann aber gehen auch die, die es gar nicht brauchen. Man sollte mehr im Land selbst helfen, aber nicht die Wege nach Europa allzu leicht machen.

Ihre Kirche hat Jahrhunderte der Erfahrung im Zusammenleben mit dem Islam. Wie sollten wir in Europa mit dem Wachstum des Islam in unserer Gesellschaft umgehen?

Die Muslime finden in Europa ein Vakuum im Glauben. Also meinen sie, dass sie dieses Vakuum mit ihrem Glauben und seinen Zeichen füllen müssen. Europa braucht also wieder ein gläubiges Gesicht gegenüber jenen Menschen, die voll Glauben hierher kommen, damit sie nicht sagen, die Europäer seien alle Ketzer! Zweitens werden die Europäer als Feinde der Araber und des Islam betrachtet, weil sie Israel unterstützen. Wir brauchen eine Lösung des Palästina-Problems! Und wir brauchen eine Lösung des Syrien-Krieges, nicht mit Waffen, sondern mit gut durchdachten Konzepten. Wenn diese zwei Fragen gut und konsensuell gelöst werden, können die Muslime nicht länger so aggressiv sein. Die Muslime haben einen Grund aggressiv zu sein, wegen der Ungerechtigkeit gegenüber den Palästinensern. Deshalb ist die Lösung dieses Konfliktes auch eine entscheidende Frage für uns Christen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel