Wie Polarisierung die Demokratie lähmt

Die Debattenkultur ist durch Polarisierung und technologische Dynamiken so stark erodiert, dass eine faktenbasierte Suche nach Konsens kaum mehr möglich ist, schreibt Alexander Görlach

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Alexander Görlach – Alexander Görlach – 2 Bücher – Perlentaucher
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26.09.2025

Alexander Görlach

Dieser Essay ist einer von zwei Meinungsbeiträgen zum Thema “Debattenkultur”. Den zweiten Beitrag finden Sie hier. Beide Texte sind keine redaktionellen Meinungsäußerungen.

Ich verfolge die Debattenkultur in Deutschland seit meiner Zeit im Online-Ressort des Politikmagazins “Cicero”, das ich in den Jahren 2007 bis 2009 geleitet habe. Danach gründete ich das Debattenmagazin „The European“, das ich bis ins Jahr 2015 als Chefredakteur führte. In meiner Zeit kamen in dem Magazin über 3.500 verschiedene Stimmen aus aller Welt zu Wort. Unsere Vielfalt an Diskursen, die aus allen Winkeln des Globus bereichert wurde, bereitete mich ein Stück weit auf meine Zeit im Ausland vor. Im Herbst 2014 folgte ich einer Einladung an die Harvard-Universität, an der ich bis zum Ende des akademischen Jahres 2017 blieb.

In meine Zeit dort fiel das Ende der Obama-Präsidentschaft, die Wahl und der Beginn der ersten Präsidentschaft von Donald Trump. In den USA wurde viel debattiert über die Zeit der Sklaverei, die Gleichstellung der Ehe für alle, die Rechte der Frau. Dann kam “America First”, das Pendel schwang von liberal auf autoritär um. In meine Zeit im Ausland fiel auch die als Flüchtlingskrise bezeichnete Phase des Herbstes 2015. Die “New York Times” etablierte das deutsche Wort “Willkommenskultur” für ihre Leser und man wurde auf den Straßen New Yorks beglückwünscht und es wurde einem bisweilen sogar gedankt, wenn Leute einen Deutsch sprechen hörten.

Ein Muster ist erkennbar

Ich habe seitdem an so disparaten Orten wie Taiwan und Argentinien gelebt, die Länder Südkorea, Japan, Mexiko und Großbritannien mit einer so großen Häufigkeit besucht, dass ich auch einen Eindruck von der Debattenkultur dort gewinnen konnte. Während der Pandemie war ich schließlich auch wieder über ein Jahr zurück in der Heimat. Dass es in Deutschland zwischen zwölf und 15 Millionen Impfgegnern, von Sachsen bis Bayern, gab, hat mich damals überrascht und verunsichert: Sind wir Deutschen am Ende doch nicht so rational und vernunftgetrieben, wie wir immer gerne von uns geglaubt haben? Der Schluss, zu dem ich nach 18 Jahren Beobachtung öffentlich geführter Debatten für diesen Beitrag hier komme: Weltweit ist die Polarisierung so weit fortgeschritten, dass ein Gespräch über Ziele und Sinn eines Gemeinwesens nicht mehr möglich ist. Deutschland hat sich dieser Entwicklung lange erwehren können. Mittlerweile ist aber auch dieses, Zeit meines Lebens auf Konsens hin orientierte Land am Rande des Erregungskollapses angelangt.

Bis zur gescheiterten Richterwahl von Frau Brosius-Gersdorf wäre es undenkbar gewesen, dass eine Wahl ans Bundesverfassungsgericht auf dem Weg zur Abstimmung, wo doch alles in den Regierungsfraktionen vorab besprochen und abgestimmt sein müsste, noch würde scheitern können. Hier ist ein Muster erkennbar, das von Ungarn über Israel und die USA gleich ist: Dort, wo demokratisch gewählte Führer ihre Herrschaft über den von der Verfassung zugebilligten Rahmen ausdehnen wollen, müssen die Gerichte, die sie einhegen können, so lange diskreditiert werden, bis ihre Autorität gebrochen ist. Die gescheiterte Richterwahl ist ein voller Erfolg für die Rechtsextremen. Der nächste gesellschaftliche Akteur, der bei einem Umbau der Gesellschaft in Misskredit gebracht werden muss, wenn Debatten nicht mehr funktionieren sollen, sind die Medien. Vor allem öffentlich-rechtliche Medien, die sich aus verpflichtenden Abgaben finanzieren und somit nicht durch wirtschaftlichen Druck gefügig gemacht werden können, werden unter Beschuss genommen. Es ist kein Zufall, dass in Deutschland, Österreich und der Schweiz genauso wie in den Vereinigten Staaten von rechten Parteien und ihren Führern dieser öffentliche Rundfunk massiv attackiert wird.

Letzte Station: die Instrumentalisierung der Religion

Ein weiterer gesellschaftlicher Akteur, dem klassischerweise die Rolle eines objektiven Vermittlers zukam, ist mittlerweile ebenfalls so marginalisiert, dass Diskurse und Debatten nicht mehr im Rückgriff auf ihn geschlichtet oder moderiert werden können. Gemeint ist die Wissenschaft. Ob zum Thema Klimawandel, Pandemiebekämpfung oder Impfpflicht gegen Masern und Kinderlähmung, in Europa und den Vereinigten Staaten können als für den Moment abgesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse im rechten Spektrum der Gesellschaft nicht mehr verfangen. Das Misstrauen ist bisweilen bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. In den USA verbreitet sogar der Präsident selbst Verschwörungstheorien.

Als letztes Kennzeichen des gegenwärtigen Diskurs-Moments ist die Instrumentalisierung beziehungsweise die Politisierung der Religion zu nennen. Auch hier ist in den USA und Europa dieselbe Entwicklung zu verzeichnen. Religion verkündet nicht mehr, fordert nicht mehr die eingeübte Denkweise heraus, sondern bestätigt politische Inhalte. Die Kulturkriege, die, vermeintlich im Namen Christi, gegen “woke” Kultur geführt werden, sind zutiefst unchristlich. Sie nehmen sich schwache Gruppen wie Einwanderer zur Brust und dämonisieren sie in einer Weise (“Mexikaner sind Vergewaltiger”, Zitat Donald Trump), die im Gewissen jedes Christenmenschen Unbehagen auslösen müsste.

Technologien, die zum Bösen verwendet werden

Dieser Befund wird sich nicht umkehren lassen, wenn wir nun alle tapfer beginnen, einmal die Medienseiten des jeweils anderen politischen Lagers zu besuchen. Zu dieser maximalen Polarisierung haben die sozialen Medien beigetragen, ihre Relevanz ist zuletzt durch Plattformen wie Instagram und TikTok noch einmal mehr herausgefordert worden. Durch künstliche Intelligenz generierte Inhalte werden künftig noch undurchschaubarer machen, woher einzelne Behauptungen kommen und durch welche Fakten sie unterlegt oder ob sie frei erfunden sind. Die Medienforschung legt allerdings nahe, dass zumindest die Polarisierung in den USA bereits im Zeitalter des Privatfernsehens begonnen hat.

Bei Technologien gilt meines Erachtens damals wie heute, dass sie zur gleichen Zeit für Gutes und Böses verwendet werden können. Dass Elon Musk genauso wie, seit Donald Trumps Wiederwahl, auch Mark Zuckerberg auf ihren Plattformen nun Hassrede jeder Art als Ausdruck von Meinungsfreiheit adeln und durchgehen lassen, ist menschliches, nicht technologisches Versagen. Ob künstliche Intelligenz empathisch oder ressentimentgeladen ist, hängt von den Inhalten ab, mit denen man sie trainiert. Darüber hinaus verzerren Bots, also Accounts, die nicht von echten Menschen genutzt, sondern automatisiert bespielt werden, das Meinungsbild in demokratischen Gesellschaften. Dahinter stecken unter anderem der Kreml und Peking, die auf diese Weise versuchen, die öffentliche Meinung, beispielsweise im Hinblick auf das Thema Immigration, aufzuwiegeln und zu radikalisieren. Diesem Rechtsruck in den sozialen Netzwerken korrespondiert allerdings ein konzertiertes Bemühen der globalen Rechten, die Netzwerke schmieden, nunmehr mit den USA im Mittelpunkt dieser weltumspannenden Gruppe.

Der Konsens ist dahin

Demokratische Gesellschaften leben von der Empathie und der Bereitschaft, zu kooperieren. Der Weg dieser Kooperation ist die faktenbasierte Debatte, die auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht und die Lebenswirklichkeit aller Personen und Gruppen einer Gesellschaft einbezieht. Argumentation, Diskurs und Debatte, gleich ob sie in der medialen Öffentlichkeit, im Parlament oder am Essenstisch stattfinden, haben nur dann Sinn, wenn alle Beteiligten wirklich eine Lösung des diskutierten Problems im Sinn haben. Das wahre Problem, vor dem maximal polarisierte Gesellschaften wie unsere westlichen, demokratischen derzeit stehen, ist, dass die Politik keinen Spielraum mehr hat, Lösungen anzubieten und dann zu exekutieren. Es kann kein politischer Konsens mehr hergestellt werden, wie wir den Klimawandel, dessen Auswirkungen wir schon jetzt sehen und die nur schlimmer werden, aufhalten wollen. Es gibt keinen politischen Konsens darüber, wie wir Migration steuern und gestalten wollen. Es kann keine politische Antwort darauf formuliert werden, wie wir aufgrund von Ressourcenknappheit und sozialer Ungleichheit den Kapitalismus reformieren oder überwinden wollen. In den eigenen Echokammern zu Hause werden wir beschallt von den Interessenvertretern unserer eigenen Meinung.

Jürgen Habermas hat diese Entwicklung bereits vor über einem halben Jahrhundert in seinem Buch “Strukturwandel der Öffentlichkeit” (1962) vorausgesagt, lange vor dem Internet (er hat im Jahr 2022 seine Gedanken um die Auswirkungen durch die digitale Revolution ergänzt). Partikularinteressen, die durch Lobbying und viel Geld entscheidenden Einfluss über die Politik gewonnen haben, haben die US-Demokratie zuerst gelähmt und nun, durch das ausschließlich am eigenen Vorteil orientierte Treiben von Donald Trump, letztlich zerstört. Dasselbe blüht auch Ländern wie Deutschland, vor allem dann, wenn das Abkupfern von Strategien der Rechten bei Demokraten weiter Schule macht.

Der Autor unterrichtet Politische Philosophie an der New York University. Von 2009 bis 2015 leitete er das von ihm gegründete Debatten-Magazin „The European“.

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