Öffentlicher Diskurs – Anti-Wokeness vs. Wokeness
Beide Seiten betrachten die Öffentlichkeit als Kampfraum: Benjamin Leven beschreibt, was passiert, wenn die Wahrheitsfrage durch die Machtfrage ersetzt wird
Quelle
Gott, der “Herr der Logik” | Die Tagespost
Jürgen Habermas
Woke | Gender Glossar
Cancel Culture – Wikipedia
Wokeness
23.05.2025
Benjamin Leven
Wie verheerend die Tendenz ist, die seit einigen Jahren unter dem Begriff “Cancel Culture” firmiert, war zuletzt wieder zu beobachten. Studentenvertreter der Universität Würzburg traten eine Kampagne gegen den Historiker Peter Hoeres und seinen Mitarbeiter Benjamin Hasselhorn los. Der ebenso diffuse wie unbelegte Vorwurf: Hoeres und Hasselhorn pflegten Kontakte zu “neurechten Netzwerken” und betrieben eine “neurechte Diskursverschiebung”. Was am skandalösesten war: Die Würzburger Universitätsleitung war offenbar vorab im Bilde, soll schon an einem “alternativen Lehrangebot” gearbeitet haben. Hoeres gelang es – dank guter Kontakte zu den Medien – die Vorwürfe überzeugend zu widerlegen.
Nach einem Gespräch von Hoeres und dem Würzburger Uni-Präsidenten im Münchner Wissenschaftsministerium wurde eine Stellungnahme veröffentlicht, die die Würzburger Geschichtswissenschaftler entlastete. Doch nicht jeder Betroffene ist imstande, derart erfolgreich Widerstand zu organisieren. Bitter ist die Affäre vor allem für Hasselhorn, der auf einen Lehrstuhl hofft und dessen berufliche Existenz durch eine solche Intrige gefährdet wird. Nun haben Hoeres und sein Mitarbeiter nichts mit der “Neuen Rechten” zu tun, aber natürlich ist klar, dass die beiden Wissenschaftler keine Linken sind. Das Absurde ist, dass es von linken Aktivisten als Problem wahrgenommen wird, wenn sich jemand erkennbar nicht links positioniert. Was ist eigentlich das Problem daran, wenn ein Wissenschaftler “rechts” ist?
Unmut ist nachvollziehbar
Der Unmut über dieses sich ständig wiederholende Schauspiel ist nachvollziehbar. Es ist gut, wenn sich Betroffene nicht einschüchtern lassen und nicht klein beigeben. Dass sie damit inzwischen auch erfolgreich sind, hat auch damit zu tun, dass ein öffentliches Problembewusstsein entstanden ist. Zahlreiche Bücher sind in den letzten Jahren veröffentlicht worden, die sich kritisch mit Wokeness, Cancel Culture und Identitätspolitik auseinandersetzen. Medien scheuen sich nicht mehr, das Thema aufzugreifen.
Das beweist auch die aktuelle Debatte um den Paragrafen 188, in dem es um die so genannte Politikerbeleidigung geht. Früher war dieser Paragraf kaum bekannt, doch nach seiner Verschärfung im Jahr 2021 und einigen aufsehenerregenden Strafen kommt langsam in der Öffentlichkeit an, was für eine fragwürdige Norm da im deutschen Strafgesetzbuch steht. Kürzlich erhielt jemand sieben Monate auf Bewährung dafür, dass er in den sozialen Medien eine Fotomontage verbreitet hatte, die Bundesinnenministerin Nancy Faeser mit einem Schild zeigte, auf dem stand: “Ich hasse die Meinungsfreiheit“.
Nun gibt es Gründe für einen erhöhten Ehrenschutz von Personen des politischen Lebens. Gerade Kommunalpolitiker können ein Lied davon singen, was für ein unsinniger Hass ihnen zuweilen entgegenschlägt und ihnen die Arbeit schwer macht. Doch das Faeser-Urteil hat gezeigt, dass der Gesetzgeber hier der Bogen überspannt hat. Dabei spielte auch die Ironie eine Rolle, die darin lag, dass das juristische Vorgehen gegen die Abbildung das zu beweisen scheint, was die Abbildung überspitzt zum Ausdruck bringt. Schon wird der Ruf nach einer Abschaffung des Paragrafen laut.
Die öffentliche Meinung hat sich in diesen Fragen erkennbar geändert. In vielen westlichen Ländern weht inzwischen ein anderer Wind als noch vor einigen Jahren. Damit geht jedoch eine Versuchung für diejenigen einher, die bislang von der Einengung des Meinungskorridors, von Rede- und Denkverboten betroffen waren und jetzt da und dort etwas aufatmen können. Die Versuchung besteht nämlich darin, es der Gegenseite mit gleicher Münze heimzuzahlen, sobald man selbst an Einfluss gewinnt.
Ein Beispiel aus der katholischen Kirche: Jahrzehntelang beklagten progressive Theologen im deutschen Sprachraum die Einschränkung ihrer Wissenschaftsfreiheit durch das kirchliche Lehramt. Doch längst bestimmen die Progressiven an den Fakultäten den Ton – und sind oft nicht weniger unduldsam gegenüber unliebsamen Positionen. Als konservativ geltende Theologen erleben das in Berufungsverfahren; auch die Intrigen und unsachlichen Anwürfe gegen die Kölner Hochschule für Katholische Theologie (KHKT) zeugen von Intoleranz. Doch manch einer beklagt Einschränkungen der Freiheit nur, solange er selbst darunter zu leiden hat. Ein hoher Verantwortlicher der Piusbruderschaft soll einmal über den vormaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Gerhard Ludwig Müller, geklagt haben, dieser lasse ja leider “nur eine Meinung zu”. Wer für sich selbst Freiheit einfordert, muss die gleiche Freiheit auch denjenigen zugestehen, deren Position er nicht teilt.
Die Retourkutsche
Im weltpolitischen Maßstab steht derzeit die Trump-Regierung für eine Politik der Retourkutsche. Die US-Administration agiert nach dem Motto: Give them a taste of their own medicine. Im Jahr 2015 wurde der Mount McKinley in Alaska unter der Obama-Regierung in “Denali” umbenannt, dem Namen des Berges in einer alten Sprache der Ureinwohner. 2025 erklärte Trump den Golf von Mexiko zum “Golf von Amerika”. Identitätspolitik von links wird mit Identitätspolitik von rechts beantwortet.
Die Rede des amerikanischen Vizepräsidenten J.D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar stieß bei vielen Konservativen auf große Zustimmung. Vance beklagte darin Einschränkungen der Meinungsfreiheit in verschiedenen europäischen Ländern – etwa ein Gesetz in Großbritannien, das innerhalb eines Radius von 200 Metern um Abtreibungseinrichtungen Handlungen verbietet, die die Entscheidung von Schwangeren beeinflussen könnten. Auch in Deutschland hat die Ampel-Koalition im vergangenen Jahr die sogenannte “Gehsteigbelästigung” untersagt. Frauke Rostalski, Rechtswissenschaftlerin und Mitglied im Deutschen Ethikrat, kritisierte damals: Das ist eine unnötige Einschränkung der Meinungsfreiheit von Lebensschützern.
Doch während Vance den Europäern vorwirft, mit derartigen Gesetzen die gemeinsamen westlichen Werte zu verraten, werden aus Trump-Amerika zahlreiche Vorgänge berichtet, die man ebenfalls nur als Einschränkungen der Rede-, Presse-, Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit interpretieren kann. Eine Nachrichtenagentur wird aus dem Pressepool des Weißen Hauses ausgeschlossen, weil sie den Golf von Mexiko nicht Golf von Amerika nennen will. Die Regulierungsbehörde “Federal Communications Commission“ setzt unabhängige Medien, die dem Präsidenten nicht zusagen, unter Druck. Dem staatlichen Sendernetzwerk “Voice of America“ werden Gelder gekürzt. Universitäten, an denen pro-palästinensische Proteste stattfanden, droht der Entzug staatlicher Finanzierung. Forschungsvorhaben, in denen bestimmte Begriffe auftauchen, etwa zum Klimawandel, erhalten keine Förderung mehr.
Öffentlichkeit als “Arena”
Das Problem besteht darin, dass alle Seiten die Öffentlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes als “Arena” begreifen, also als Kampfraum. Hier sind sich Linke und Rechte, Woke und Anti-Woke einig: Die Wahrheitsfrage wurde durch die Machtfrage ersetzt. Man fragt nicht mehr danach, ob jemand recht hat, mit dem, was er sagt. Viel interessanter erscheint, was jemand mit dem erreichen will, was er sagt. Der 1937 verstorbene kommunistische Theoretiker Antonio Gramsci war überzeugt: Es kommt darauf an, die “kulturelle Hegemonie” zu erringen. Die Linke hielt sich an Gramscis Drehbuch und kämpfe erfolgreich um die Dominanz der “öffentlichen Meinung”, um die “Diskurshoheit”. Seit den Siebzigerjahren wird Gramsci auch in der Rechten rezipiert – und kopiert.
Nun mag das von Jürgen Habermas vertretene Modell des “herrschaftsfreien Diskurses”, einer Öffentlichkeit, in der allein der zwanglose Zwang des besseren Arguments wirkt, ein unerreichbares Ideal sein. Und doch würde etwas weniger Gramsci und etwas mehr Habermas der Gesellschaft guttun. Um das zu erreichen, kann jeder bei sich selbst beginnen: Indem man etwa Positionen Gehör schenkt, die der eigenen Intuition widersprechen.
Indem man sich selbst gegenüber misstrauisch bleibt, Wunschdenken vermeidet und dem Drang, die eigenen Überzeugungen bestätigt zu finden, nicht zu sehr nachgibt. Indem man in der Diskussion die eigenen Voraussetzungen und Hintergrundvorstellungen offenlegt. Und indem man sich auf Debatten einlässt und sich darum bemüht, dass die grundlegenden Rationalitätskriterien eingehalten werden – beim Gesprächspartner, aber auch bei sich selbst. Die Disputationen der mittelalterlichen Philosophen und Theologen können dafür als leuchtendes Beispiel gelten.
Der Autor ist Redaktionsleiter Online der Internationalen Katholischen Zeitschrift “Communio”.
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