Vor Friedensdeal – Stimmungswandel in der Ukraine

Drei Jahre nach dem russischen Überfall auf die Ukraine sind die Unsicherheiten so groß wie nie zuvor

Quelle
Sternsinger: Mehr seelische Unterstützung für ukrainische Kinder – Vatican News

20.02.2025

Juri Durkot

Eigentlich wollte Orest nur kurz einkaufen, als er vor etwa einer Woche abends aus seiner Wohnung ging. Doch nach Hause kehrte er nicht mehr zurück. Am nächsten Morgen fand er sich bereits auf einem Übungsgelände der ukrainischen Armee außerhalb von Lemberg. Wie viele andere Männer wurde Orest “bussifiziert”, ein Begriff, der in der Ukraine zum Wort (besser gesagt, zum Unwort) des Jahres 2024 gewählt wurde.

So wird ein umstrittenes und in der Bevölkerung äußerst unbeliebtes Verfahren bezeichnet, bei dem Wehrpflichtige von einer aus Polizisten und Soldaten zusammengesetzten Streife angehalten und nach kurzer Überprüfung ihrer Papiere in einen Kleinbus (daher der Begriff “Bussifizierung”) geschoben, ins Wehrersatzamt gebracht und nach kurzem, oft nur formellen medizinischen Check mobilisiert werden.

Der Infanterie fehlen die Männer

Orest ist knapp 30, schlank und hochgewachsen, immer gut gelaunt und voller Lebensfreude. Doch das Prozedere, das ihn eher an eine Festnahme als an eine ordentliche Mobilisierung erinnerte, setzte ihm schwer zu. Er hatte den Eindruck, dass man ihn wie einen Verbrecher behandelt hatte.

Nun ist er in der Ausbildung, die inzwischen nicht mehr 90, sondern nur noch 45 Tage dauert. Als IT-Spezialist hofft er, dass er in der Armee etwas zu tun bekommt, was seinen Fachkenntnissen entspricht, also Computer bedienen oder Drohnen. Aber das ist nicht sicher. Denn am meisten fehlen derzeit Männer in der Infanterie. Viele Einheiten sind heute laut Berichten nur noch zu 60 bis 70 Prozent oder gar nur zur Hälfte bemannt. Und die Front kann nicht ausschließlich mit Computern und Drohen gehalten werden, auch wenn deren Einsatz eine immer größere Bedeutung hat.

Das Schicksal von Orest ist typisch für viele Männer; das Wehrpflichtigen-Alter liegt zwischen 25 und 60 Jahren. Und es ist das Resultat eines verzweifelten Versuchs der Behörden, Nachschub für die Armee zu rekrutieren. Bisher hat sich die Regierung geweigert, das Einberufungsalter deutlich zu senken, nun hofft sie 18- bis 24-Jährige als Freiwillige mit finanziellen Angeboten und sozialen Paketen zu gewinnen. Laut einem neulich aufgelegten Programm sollen junge Männer und Frauen, wenn sie sich für ein Jahr freiwillig verpflichten, eine Million Hrywnja (etwa 23 000 Euro), einen Kredit für Immobilienkauf zum Nullzins und ein kostenloses Hochschulstudium an der Uni ihrer Wahl nach Ende des Militärdienstes bekommen. Bei Kriegseinsätzen kann sich der Sold sogar um eine weitere Million Hrywnja erhöhen.

Ganz bestimmt werden sich einige junge Leute, die derzeit rechtlich keine Möglichkeit haben, das Land zu verteidigen, freiwillig melden. Ob dies das Problem generell lösen wird, bleibt ungewiss. Denn die Zeiten wie an den ersten Wochen nach dem russischen Überfall, als sich Riesenschlangen vor Wehrersatzämtern gebildet haben, sind vorbei. Inzwischen stellen die Meinungsforscher eine schleichende Tendenz fest: Mit jeder neuen Umfrage wächst die Anzahl der Befragten, die bereit wären, territoriale Zugeständnisse zu machen, um den Krieg zu beenden. Waren es am Kriegsanfang kaum mehr als zehn Prozent, sprachen sich in einer Umfrage des Kiewer Internationalen Instituts für Soziologie im Dezember 2024 bereits 38 Prozent dafür aus. Allerdings weigert sich immer noch mehr als die Hälfte der Bevölkerung – überzeugt, dass es für Putin nicht um Quadratkilometer geht, sondern um die Zerstörung der ukrainischen Souveränität – jegliche Gebiete für einen imaginären Frieden zu opfern. Diese Stimmen verteilen sich ziemlich regelmäßig über alle ukrainischen Regionen – unabhängig davon, ob man im Westen, Süden, Osten oder im Zentrum lebt.

Mit Pfeil und Bogen kann man nicht gegen Panzer und Raketen kämpfen

Dieser langsame Stimmungsumschwung ist ein weiterer klarer Beweis dafür, wie fehlerhaft die zögerliche Haltung des Westens war, wie naiv die Hoffnung westlicher Politiker, Russland durch lückenhafte Sanktionen wirtschaftlich entscheidend zu schwächen und durch den andauernden Krieg zu zermürben. Stattdessen hat man Kriegsmüdigkeit und ein gefundenes Fressen für Rechtspopulisten und selbsternannte Friedensstifter in den eigenen Ländern produziert. Wie jeder Politiker weiß: Je größer die Probleme, desto größer ihr unmittelbarer Einfluss auf die Umfragewerte der Regierenden. Das muss inzwischen auch der ukrainische Präsident festgestellt haben. Zwar würde sich jedes westliche gewählte Staatsoberhaupt über eine Popularität über der 50-Prozent-Marke freuen, aber Wolodymyr Selenskyj, dem im Dezember vergangenen Jahres 52 Prozent der Befragten vertrauten, wird sich noch erinnern, dass ihm wenige Wochen nach dem russischen Überfall neun von zehn Ukrainern ihr Vertrauen bedingungslos ausgesprochen haben.

Und es gibt eine weitere, recht unangenehme Tendenz, wobei auch hier die schwierige Lage an der Front eine zentrale Rolle spielt: Zum ersten Mal seit Kriegsbeginn sind deutlich mehr Befragte (46 Prozent) der Meinung, dass die Dinge sich in die falsche Richtung entwickeln. Dagegen glauben 38 Prozent, dass alles bestens läuft.

Es liegt auf der Hand, dass die internationale Lage und die Unterstützung der westlichen Partner sich ebenfalls auf die Stimmung der Ukrainer auswirken. Denn das Problem ist nicht nur die Mobilisierung, sondern auch die Waffen. Mit Pfeil und Bogen kann man schlecht gegen Panzer und Raketen kämpfen. Leider sind drei Jahre nach dem russischen Überfall die Unsicherheiten groß wie nie zuvor.

Deal hinter dem Rücken der Ukrainer?

Die Wiederwahl von Donald Trump wurde in der Ukraine zunächst mit einer Mischung aus Besorgnis und Hoffnung wahrgenommen. Zum einen ließen die Wahlen in den USA Befürchtungen steigen, dass die neue US-Administration einen Deal mit Russland hinter dem Rücken der Ukrainer (und der Europäer) machen könnte. Zum anderen war man immer mehr enttäuscht von der zögerlichen Haltung der bisherigen Regierung in Washington und erwartete vom eventuellen Sieg der Demokraten keine großen Veränderungen in deren Politik.

Zumindest hatte die Wiederwahl Trumps anfangs einen positiven Effekt – plötzlich gab es viel mehr Bewegung in der Biden-Administration, die auf einmal immer neue Waffenpakete für die Ukraine zusammengeschnürt hatte. Selbst bei dieser finalen Hektik hat der scheidende US-Präsident es nicht mehr geschafft, bereits bewilligte Finanzmittel voll auszuschöpfen. Was nun mit diesem Geld (immerhin sind es mehr als fünf Milliarden US-Dollar) und somit auch mit dringend notwendigen Waffensystemen für die Ukraine passiert, ist unklar.

Doch es kann noch schlimmer kommen, wenn die Europäer nicht aufwachen. Denn nun scheinen sich die schlimmsten Prognosen zu bewahrheiten. Die jüngsten Aussagen des US-Präsidenten und seiner Beamten belegen, dass die USA einen Deal mit Russland anstreben. In der Rhetorik Washingtons gibt es nun überhaupt keinen Unterschied zwischen dem Opfer und dem Aggressor; von dem Bekenntnis, hinter einem überfallenen Land zu stehen, ist nichts mehr geblieben.

Was die Demokratie anbelangt, so gibt es dazu vom US-Präsidenten nicht einmal Lippenbekenntnisse. Vielmehr versteht die neue US-Regierung, wie dies der Auftritt von US-Vizepräsident J. D. Vance bei der Münchner Sicherheitskonferenz noch einmal bekräftigt hat, Demokratie und Meinungsfreiheit als Freiheit, ungehindert glatte Lügen, dreiste Propaganda und wilde Verschwörungstheorien zu verbreiten. Es ist nicht so, dass man in Washington nicht verstünde, wie gefährlich das für die Demokratie sein kann. Vielmehr weiß man sehr gut, dass so ausgelegte “Meinungsfreiheit” den Populisten, Rechtsextremisten und Diktatoren in die Hände spielt.

Offenbar spielt das Völkerrecht für Donald Trump keine Rolle

Für die Ukraine sind andere Botschaften der US-Politik von essenzieller Bedeutung. Und da hat Washington in den letzten Wochen eine Unmenge negativer Schlagzeilen produziert. Alles Signale, die Moskau nur freuen können: Trumps Telefonat mit Putin; die NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine wird ausgeschlossen; Kiew muss Zugeständnisse machen und Gebiete abtreten; man würde Russland gerne wieder in die G-7 aufnehmen; Gespräche mit Russland über die Ukraine ohne Beteiligung der Ukrainer und Europäer; ein Gipfel wurde in Saudi-Arabien vereinbart.

Den Krieg will Washington offenbar um jeden Preis beenden, aber die Sicherheitsgarantien für die Ukraine will man den Europäern zuschieben. Dagegen schweigt Trump zu weiteren Waffenlieferungen für die Ukraine, damit sich das Land gegen den russischen Angriff verteidigen kann. Wie ein zynischer, skrupelloser Geschäftsmann ohne Prinzipien verlangt er einen Zugriff auf ukrainische Bodenschätze, dafür könnte Kiew Waffen kaufen. Von Sicherheitsgarantien steht in seinem Vorschlag kein Wort.

Auch wenn die US-Administration derzeit vor allem Chaos produziert und die Aussagen des Präsidenten, seiner Minister und Sonderbeauftragten sich teilweise widersprechen, immer wieder nachkorrigiert und verändert werden, ist eines klar: die USA sind nun weder für Europa noch für die Ukraine ein verlässlicher Partner. So ist es nicht verwunderlich, dass die Stimmung der meisten Kommentatoren ziemlich pessimistisch ist. Für viele bietet sich der düstere Vergleich mit dem Münchner Abkommen von 1938 an, als die Tschechoslowakei, vor allem infolge der Appeasement-Politik der damaligen britischen Regierung, dem nationalsozialistischen Deutschland geopfert wurde und zunächst das Sudetenland abtreten musste – und ein halbes Jahr später völkerrechtswidrig von der Wehrmacht besetzt wurde. Offenbar spielt das Völkerrecht auch für Donald Trump keine Rolle. Es ist bemerkenswert, wie er sich mit demokratischen Ländern überwirft und gleichzeitig einen Deal mit Diktatoren und Autokraten sucht.

Viel mehr auf dem Spiel als das Schicksal der Ukraine

Heute steht viel mehr auf dem Spiel als das Schicksal der Ukraine. Wenn die Europäer auch in dieser Situation nicht aufwachen und handeln, dann ist es schlecht bestellt um das demokratische Europa. “Ich glaube an Europa… Und ich rufe Sie auf, zu handeln – in Ihrem eigenen Interesse und im Interesse Europas, der Völker Europas, Ihrer Nationen, Ihrer Heimat, Ihrer Kinder und unserer gemeinsamen Zukunft”, appellierte Präsident Selenskyj in seiner Rede bei der Münchner Sicherheitskonferenz.

Denn nicht nur die Ukraine, sondern auch viele kleinere Staaten können nur in einer Welt frei und sicher leben, in der das Völkerrecht von allen akzeptiert wird, wo Menschenrechte beachtet werden und die Menschenwürde zählt. Und wo Verbrecher, ganz egal wie mächtig sie sind, für ihre Verbrechen zur Verantwortung gezogen werden. Die Idee, auf Täter zuzugehen und ihnen zu verzeihen, mag tief in der christlichen Lehre verwurzelt sein, aber man darf dies nur nach einer gerechten Bestrafung tun. Sonst ist es nicht nur ein Schlag ins Gesicht der Opfer, sondern auch die Einladung für die Diktatoren dieser Welt, weitere Verbrechen zu begehen.

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