Russlands Krieg – Wirtschaft im Würgegriff der Waffen
Die massiven Militärausgaben Russlands scheinen nicht nur die wirtschaftliche Stabilität zu gefährden, sondern führen auch zur Vernachlässigung sozialer und zivil-wirtschaftlicher Investitionen
Quelle
Dramatischer dritter Kriegswinter | Die Tagespost
Gas als Waffe | Die Tagespost
17.11.2024
Daria Boll-Palievskaya
Russlands Wirtschaft steht unter dem Einfluss massiver Militärausgaben, die im kommenden Jahr 13,5 Billionen Rubel (etwa 124,5 Milliarden Euro) erreichen sollen. Das geht aus dem Gesetzentwurf zum Haushaltsbudget für 2025 bis 2027 hervor, wie das unabhängige russische Wirtschaftsportal “The Bell” berichtete. Dies stellt eine Steigerung um 25 Prozent gegenüber dem laufenden Jahr dar, so “The Bell”. Im Jahr 2024 wurde bereits ein Rekord von 10,4 Billionen Rubel (96 Milliarden Euro) für den Verteidigungssektor veranschlagt.
Diese enorme Erhöhung lässt den Rüstungshaushalt Russlands auf mehr als ein Drittel des Gesamtbudgets anwachsen. Die Mittel fließen vor allem in die Beschaffung von neuen Waffen und Ausrüstung. Mit den Ausgaben für die Anwerbung und Bezahlung der Soldaten und Söldner will die Regierung für Verteidigung und Sicherheit mehr als 40 Prozent ihres Haushalts ausgeben. Das ist mehr als für Bildung, Gesundheit und Sozialleistungen zusammen. So hat man vor, für Sozialpolitik im nächsten Jahr 64 Milliarden Euro, für Bildung 15,7 Milliarden Euro und für Gesundheitswesen 18,6 Milliarden Euro auszugeben. Die veröffentlichten offiziellen Daten zu den geplanten Militärausgaben fielen sogar höher aus als von der Nachrichtenagentur Bloomberg vermutet.
Diese enormen Verteidigungsausgaben spiegeln sich unmittelbar in der Struktur der russischen Wirtschaft wider, die sich allmählich in Richtung Militarisierung entwickelt. “Die Wirtschaft eines Landes kann nicht gleichzeitig steigende Militärausgaben, steigende Sozialausgaben und die Entwicklung des zivilen Wirtschaftssektors bewältigen”, schreibt der russische Ökonom Michail Krutichin. Seiner Meinung nach “saugt” die Regierung Geld aus verschiedenen Bereichen der Wirtschaft ab, indem sie es in den militärisch-industriellen Komplex steckt. “Selbst in Europa mit seiner starken Wirtschaft führt die Erhöhung der Militärausgaben aufgrund des Kriegs mit der Ukraine zu einer Kürzung der Mittel für humanitäre Projekte. Was soll man über Russland sagen, wo selbst für die wichtigsten Medikamente kein Geld mehr vorhanden ist. Die Unterfinanzierung wird noch zunehmen, denn die Militärausgaben haben Priorität”, prognostiziert Krutichin.
“Schweigen, zahlen –was immer verlangt wird”
Kurzfristig sieht es jedoch für Russland wirtschaftlich gar nicht so schlecht aus. Trotz der internationalen Sanktionen verzeichnete die russische Wirtschaft im Jahr 2023 ein Wachstum von 3,5 Prozent, was auf den Boom im Verteidigungssektor zurückzuführen ist. Militärbetriebe arbeiten in drei Schichten, und die dort Beschäftigten verdienen hohe Gehälter. Laut einer Analyse der Wirtschaftsprofessorin der Moskauer Lomonossow-Universität, Natalja Subarewitsch, geht es den Regionen, in denen die Rüstungsindustrie konzentriert ist, sehr gut.
Die Kehrseite der Medaille, so Subarewitsch, ist jedoch ein “akuter Arbeitskräftemangel, der durch eine Verschärfung der Migrationspolitik weiter verstärkt wird.” Dadurch kann die russische Wirtschaft nicht “durchstarten” und wird sehr schnell an ihre Grenzen stoßen, sagte Subarewitsch in einem Interview mit der Zeitung RBK. Der noch nie gesehene Arbeitskräftemangel führt zu steigenden Löhnen.
Innerhalb eines Jahres ist das Durchschnittsgehalt um 12 Prozent gestiegen und hat erstmals die Marke von 80 000 Rubel überschritten, wie der Service “Rabota.ru” herausgefunden hat. Der zivile Sektor kann jedoch mit den Gehältern, die der militärisch-industrielle Komplex bietet, nicht mithalten. Also trifft der Fachkräftemangel kleine und mittlere Unternehmen in Russland besonders hart. “Uns bleiben nur die, die von der Rüstungsindustrie oder den Großkonzernen nicht genommen wurden, oder die, die von sich aus nicht dorthin wollen, weil sie entweder schwach oder faul sind.” In solch drastischen Worten beschreibt Olga die angespannte Lage des russischen Mittelstands.
Ihre Einschätzung teilte sie im Telegram-Kanal von Anastasia Tatulowa, einer in Russland prominente Unternehmerin. Tatulowa besaß die Familiencafé-Kette “Anderson”. 2020 machte sie auf sich aufmerksam, als sie bei einem öffentlich übertragenen Treffen des russischen Präsidenten Wladimir Putin mit Vertretern kleiner und mittelständischer Unternehmen (KMU) deutliche Kritik an den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen äußerte.
Weil sie sich gegen den Krieg aussprach, wurde gegen ihr Unternehmen ein Verfahren wegen Steuerhinterziehung eingeleitet. Sie selbst wurde zur “ausländischen Agentin” erklärt und war gezwungen, ihr Geschäft zu verkaufen und Russland zu verlassen. Tatulowa sieht das Problem umfassender: “Es geht längst nicht mehr nur um den Wettbewerb der Gehälter mit der Rüstungsindustrie, sondern auch darum, dass qualifizierte Arbeitskräfte das Land verlassen.”
Die Gouverneure der Regionen überbieten sich gegenseitig bei Prämien für jene, die bereit sind, an die Front zu gehen: Die Zahlungen erreichen in Moskau inzwischen bis zu 2,5 Millionen Rubel (25.000 Euro). Hinzu kommt, dass viele Migranten das Land verlassen und in friedlichere und stabilere Gegenden ziehen. “Diese Entwicklung erhöht den Druck auf den ohnehin angespannten Arbeitsmarkt dramatisch”, so Tatulowa, die bis 2022 Ombudsfrau für Klein- und Mittelunternehmen war.
Diese Situation scheint die Führung des Landes jedoch kaum zu kümmern. Klein- und Mittelständler sind schließlich nicht das Rückgrat des Putin-Systems. Der Mittelstand existiert in Russland praktisch nicht, die Zahlen liegen im Bereich der Messungenauigkeit – bei nur etwa zwei Prozent aller russischen Unternehmer. Viel wichtiger ist die politische Loyalität.
Nach Ansicht von Anastasia Tatulowa muss das russische Unternehmertum der Regierung vollständig loyal gegenüberstehen; jede Kritik am politischen Kurs ist eine Garantie für Verfolgung oder sogar für den Ruin. “Schweigen, zahlen, was immer verlangt wird, aushalten und abwarten – das ist die Haltung derjenigen, die nicht mit den Behörden verbunden sind und den Krieg nicht unterstützen wollen”, stellt die Unternehmerin mit Bitterkeit fest. Es überrascht daher nicht, dass viele Eigentümer versuchen, ihre Unternehmen zu verkaufen und Russland zu verlassen.
Anastasia spricht sogar von einem Brain-Drain in diesem Sektor. “Unternehmen, die bereits auf dem Weltmarkt tätig waren, sind sofort abgewandert und haben ihre Mitarbeitenden im ersten Kriegsjahr umgesiedelt. Und die Auswanderung setzt sich fort, auch wenn Emigration unter solchen Umständen schwierig ist. Jede Woche berate ich jemanden beim Verkauf seiner Firma. Ich bin sehr froh, dass es vielen gelingt, an einem neuen Ort ihr eigenes Projekt zu starten.”
Die Inflation ist außer Kontrolle
Das Lohnwachstum durch die Rüstungsindustrie führt auch zur Anheizung der Inflation und folglich zu steigenden Preisen. Im Durchschnitt stiegen die Preise innerhalb eines Monats um 0,79 Prozent, und damit um das 2,4-fache des von der russischen Zentralbank angestrebten Richtwerts. Nach Angaben der Statistikbehörde “Rosstat” sind die Preise seit Beginn der “militärischen Sonderoperation” in der Ukraine um 27,1 Prozent gestiegen. Im Jahresvergleich stiegen die Lebensmittelpreise um 9,5 Prozent.
Besonders verteuerten sich Butter, Fleisch, Milch, Fisch und Alkohol. Die Preise für Dienstleistungen sind dreimal schneller in die Höhe geschnellt als die Zielvorgaben der Zentralbank. Auch Wohnnebenkosten, Gas und Strom stiegen und werden weiter steigen. So wird der Gaspreis ab Juli 2025 um 10,3 Prozent erhöht. Die Inflation ist außer Kontrolle und “bricht Rekorde”. Einige russische Wirtschaftsexperten gehen davon aus, dass die Inflation bis Jahresende elf Prozent übersteigen wird.
Neben der Militarisierung der Wirtschaft erlebt Russland eine neue Welle der Eigentumsumverteilung. Laut einer Untersuchung von “Nowaja Gaseta. Europa” und “Transparency International” sind in den zwei Jahren seit Kriegsbeginn 180 private Unternehmen in die staatliche Kontrolle übergegangen. Die Verstaatlichung zielt auf Unternehmen ab, die für die Verteidigungsfähigkeit Russlands von strategischer Bedeutung sind.
Zudem versucht der Staat, die Vermögenswerte von Unternehmern, die das Land verlassen haben, zu enteignen. Seit 2022 wurden in Russland 84 Fälle im Zusammenhang mit der Enteignung von Unternehmen eingeleitet, so die Ergebnisse einer Studie der Anwaltskanzlei Nektorowv, Saveliew & Partners (NSP). Die summierten Vermögenswerte der Unternehmen, die nationalisiert werden sollen, belaufen sich auf etwa 1,04 Billionen Rubel. Dies entspricht etwa 0,6 Prozent des russischen BIP für 2023.
Akuter Arbeitskräftemangel, hohe Inflation und die wachsende Abhängigkeit von Militärausgaben bremsen das Wachstum – die russische Wirtschaft arbeitet bereits am Limit. Ökonomen wie Igor Lipsitz nennen dies eine “Überhitzung der Wirtschaft”. Laut dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) wird das Wachstum in Russland im Jahr 2024 auf nur noch 1,5 Prozent einbrechen. Die ersten Anzeichen einer Archaisierung und einer Rückkehr in die 1990er Jahre sind bereits sichtbar: Ende September wurde in Russland das erste Tauschgeschäft registriert; Leinsamen wurden gegen eine Lieferung von Haushaltsgeräten getauscht.
Die Unternehmen suchen nach alternativen Möglichkeiten für den Handel unter den Sanktionen. “Obwohl es scheint, dass die Welt sich schon lange von dieser Art der Abrechnung verabschiedet hat. Aber wir wissen, wie man gut degradieren kann”, schrieb der Finanzanalyst Witaly Kalugin in der Zeitung “Nowije Izwestia” nicht ohne Ironie.
Eine Wirtschaft für den Krieg statt für Fortschritt
Am 25. Oktober erhöhte die russische Zentralbank den Leitzins auf 21 Prozent – ein Rekordwert und eine enorme Zahl für eine Wirtschaft, die trotz aller Sanktionen angeblich floriert. Diese Notmaßnahme des Regulators jedoch spiegelt die wahre Situation wider. “Zusätzliche Staatsausgaben und das damit verbundene Anwachsen des Haushaltsdefizits im Jahr 2024 wirken inflationsfördernd. Eine weitere Straffung der Geldpolitik ist erforderlich, um die Inflation auf das Zielniveau zurückzuführen und die Inflationserwartungen zu senken”, heißt es in der Pressemitteilung zum Beschluss der Bank von Russland.
Doch der Kreml scheint seinen Kurs nicht zu hinterfragen. Stattdessen festigt die Führung ihre Macht auf den Schultern einer Wirtschaft, die für Krieg statt für Fortschritt arbeitet. Die Frage bleibt, wie lange dieser Kurs noch durchgehalten werden kann, bevor die Belastung zu groß wird und Russland einen hohen Preis für seine Prioritäten zahlen muss.
Putins Strategie, das Wirtschaftswachstum durch Militärausgaben anzutreiben, birgt ein großes Risiko: Sobald diese Kriegsökonomie nicht mehr nachhaltig ist, könnten die ersten “Entzugserscheinungen” auftreten.
Katholischen Journalismus stärken
Hat Ihnen dieser Artikel gefallen? Stärken Sie katholischen Journalismus!
Unterstützen Sie die Tagespost Stiftung mit Ihrer Spende.
Spenden Sie direkt. Einfach den Spendenbutton anklicken und Ihre Spendenoption auswählen:
Die Printausgabe der Tagespost vervollständigt aktuelle Nachrichten auf die-tagespost.de mit Hintergründen und Analysen.
Themen & Autoren
Daria Boll-Palievskaya
Inflation
Kriegsbeginn
Russische Regierung
Wladimir Wladimirowitsch Putin
Schreibe einen Kommentar