Griechenland – Mythos Monemvasia

Vor 50 Jahren endete in Griechenland die Militärdiktatur. Der Lyriker Jannis Ritsos nutzte die wiedergewonnene Freiheit und reiste an den Ort seiner Kindheit

Quelle
Giannis Ritsos – Wikipedia
Monemvasia – Wikipedia
Griechenland: Brände treffen auch Klöster – Vatican News

11.08.2024

Nicole Quint

Hat der Mythos Monemvasia verändert oder Monemvasia den Mythos? Die Frage kommt einem so sicher in den Kopf wie das Glas Ouzo auf den Tisch der Taverne. Von deren Terrasse kann man direkt zu dem Mann hinüberschauen, der diese Stadt noch berühmter gemacht hat, als sie ohne ihn eh schon war – Jannis Ritsos. Es ist die Büste des Dichters, die sich auf der gegenüberliegenden Seite sehr aufrecht hält und mit emporgestrecktem Kinn aufs Meer schaut. Keiner da, der ihm den Blick versperrt. Der Platz vor dem Haus seiner Geburt ist leer. Ungebeugt und einsam steht er da – das war schon zu seinen Lebzeiten nicht anders.

Unten auf der Eparchiaki Odos, Monemvasias Hauptstraße, rumpeln Urlauber mit ihren Trolleys über das Kopfsteinpflaster; Arbeiter treiben ihre mit Bauschutt beladenen Maultiere voran. Autos können in den verwinkelten, engen Gassen der Stadt nicht fahren. Schön still ist es hier, auch vor dem großen Haus, das sich Ritsos Familie direkt an einem Hang oberhalb des Stadttores leisten konnte, fast eine kleine Villa.

Wie passt das zum Bild vom “ärmlichen Hause, wo alle gestorben sind”? Eine sehr komprimierte Beschreibung seiner von Trunk- und Spielsucht, Tod, Irrsinn und Einsamkeit bestimmten Kindheit, die Jannis Ritsos mit dieser Zeile seines Gedichts “Frühlingssinfonie” gibt. Die Ritsos waren wohlhabende Großgrundbesitzer, bis Jannis Vater das Familienvermögen vertrank und verspielte. Die psychisch kranke Mutter und Jannis älterer Bruder starben beide kurz hintereinander an Tuberkulose. Und Monemvasia? Was für eine Heimat war diese Stadt?

Monemvasias größter Sohn

“Moni emvasia”, einziger Zugang, haben die Byzantiner diesen Inselklotz genannt, auf seinem Gipfelplateau eine Zitadelle erbaut und am Abhang des Felsens, dicht an der Uferklippe, eine Unterstadt errichtet. Himmel, Gestein und Meer, weiter ist von dort unten nichts zu sehen, weder der einzige Damm, der das Festland mit Monemvasia verbindet, noch die daran anschließende Ortschaft Géfira oder gar die bergige Landschaft der Peloponnes. Der Rest der Welt bleibt hinter das einzige Tor der Befestigungsmauer gesperrt. Unter diesen Umständen wuchs also einer auf, der nicht zufrieden mit den Zuständen war, der tiefer und genauer hinschaute, der nicht bereit war, Täuschungen und Unrecht zu ertragen; einer, der Macht und Besitz nicht verteidigen musste, sondern Macht- und Besitzlose schützen wollte. Widerstandskämpfer und Kommunist wurde so einer. Symbolträchtig, dass Jannis Ritsos ausgerechnet am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, geboren wurde, oder gehört das etwa zur Legendenbildung dazu? In Griechenland wurde die Zeitrechnung 1924 umgestellt. Hat Ritsos das bei der Angabe seines Geburtsdatums berücksichtigt? Im Gedicht “Angaben zur Person” schafft er keine Klarheit. “Datum meiner Geburt: möglicherweise 903 v. Chr. – gleichermaßen möglich 903 n. Chr. (…) Jedenfalls das einzig Gewisse: Ort meiner Geburt: Ákra Minóa.” Ákra Minóa, das heißt “Kap des Minos”, des mythischen Königs von Kreta. So wurde Monemvasia in der Antike genannt, weil man von dort an klaren Tagen die Berge Westkretas sehen können soll.

Das einzig Gewisse also, der Ort seiner Geburt. Ebenso gewiss aber, dass Ritsos an diesem Ort nicht leben wollte. Verständlich. Bislang ist nicht viel zu entdecken, was über einen Kurzurlaub hinaus zum Bleiben einlädt. Eine müde Fassade in Altrosa. Fenster und Läden geschlossen, ein pflanzen- und sitzbankloser Vorplatz, vom Wind vollkommen kahl gefegt, und mitten in dieser rosig-braunen Trostlosigkeit Ritsos Büste. Sie zeigt den Dichter im Alter von etwa 40 Jahren. Für welche Sache er kämpfte, macht der kleine Friedenszeichen-Button auf seiner Brust klar. Linkspoet, Dichter des Volkes, kommunistischer Intellektueller, Gesellschaftsdiagnostiker und Chronist des Widerstands haben sie ihn genannt, viele Namen, um den Mann zu etikettieren, der schreibend Stellung bezog – gegen die Metaxas-Diktatur, gegen die Besetzung Griechenlands im Zweiten Weltkrieg, gegen Bürgerkrieg und Militärregime. Seine Bücher: auf den Index gesetzt und verbrannt. Ritsos: immer wieder verhaftet, in Straflager deportiert und unter Hausarrest gestellt.

Eng verwoben mit der Geschichte des Landes

Wer seine Biografie liest, liest auch die Geschichte gesellschaftlicher Gewalt in Griechenland. Erst nach dem Sturz der Militärjunta 1974 ist Ritsos wieder vollkommen frei. Einer der ersten Wege des 65-Jährigen nach der Gefangenschaft führte ihn an den Ort seiner Kindheit zurück: “Hier sind unsere Wurzeln. Von diesem Balkon betrachtetest du zum ersten Mal das Meer zwischen zwei Sonnen am Morgen – die eine rosig, die andere schwarz; – du hattest ein Spiegelchen in der Tasche, einen Kamm, ein Taschentuch, im Rücken die Schroffheit des Felsberges, die den brennenden Maßstab von Größe entfaltete; es roch der Thymian und der Rost an den Riegeln der Quarantänestation”, schreibt Ritsos in “Der Ursprung” über die Stadt seiner Kindheit.

Würde Ritsos noch einmal zurückkehren, wenn er noch lebte? Würde er heute etwas wiedererkennen? Die Augen seiner Büste sind die eines Blinden – weit geöffnet, aber blicklos, die Nasenspitze blankgerieben. Es muss Menschen geben, die Ritsos für einen Glücksbringer und Wunscherfüller halten und ihm die grüngraue Patina wegrubbeln. Typisches Touristengebaren. Dabei kann man Monemvasia nicht vorwerfen, aus dem Gedenken an den Kommunisten Kapital schlagen zu wollen. Hier ist nicht Ritsos-City: keine Menschen mit Ritsos-Konterfei auf ihren T-Shirts, kein Ritsos-Menü auf der Speisekarte, kein Ritsos-Wanderweg, kein Ritsos-Lyrik-Wettbewerb in einem Literaturkeller und auch keine Plakate mit Ritsos-Versen an den Fassaden. Immerhin gibt es Ritsos‘ markanten Kopf nicht bloß als Büste vor seinem Elternhaus, sondern auch als Kühlschrankmagnet in Monemvasias Souvenirshops. Das sollte genügen. Seine Lyrik haben sie dort nicht im Sortiment. Zu schwere Kost, als dass man damit Feriengäste erfreuen könnte. Nicht lesbar fürs einfache Volk, lautet der Vorwurf seiner Kritiker. Wenn sie sich da mal nicht irren. Auch wenn nicht in jeder griechischen Familie Ritsos-Gedichtbände im Schrank stehen, kennen sie alle ihren Dichter, vor allem das vertonte Werk.

Reich an Erinnerungen, arm an Leben

Schon lange vor Ritsos‘ Geburt war Monemvasia eine Legende, eine Bastion des unzerstörbaren Griechentums. Monemvasia war die Stadt der Peloponnes, die sich am längsten gegen die osmanische Besetzung wehren konnte und die im Unabhängigkeitskampf als erste von den Griechen zurückerobert wurde. Erzählungen von ruhmvoller Aufopferung und heroischem Kampfeswillen in der Festungsstadt fütterten die nationale Ideologie. Vom mythischen Klang des Namens allein ließ sich jedoch nicht leben. Im 16. Jahrhundert ballten sich etwa 60.000 Einwohner in Monemvasia. Zweihundert Jahre später sollen nur noch sechs der 350 Häuser bewohnt gewesen sein, und die Einwohnerzahlen schrumpften weiter. Ein Schlaf legte sich über Monemvasia, aus dem die Stadt nicht mehr erwacht wäre, hätte man in den 1980er-Jahren nicht das Potenzial für den großen Tourismus erkannt. Die ersten Häuser wurden renoviert, eine Liste der Sehenswürdigkeiten angefertigt und in Reiseführern über die Felseninsel samt mittelalterlichem Städtchen berichtet.

Mittlerweile dürfte jedes Haus besetzt sein mit Ferienapartments, Pensionszimmern und Zweitwohnungen. Monemvasia ist reich an historischen Erinnerungen, aber arm an griechischem Leben. Die Stadt gehört nicht ausschließlich, aber vor allem den Touristen, die durch die Ruinen der Oberstadt spazieren, um zwischen Zisternen, venezianischen Verteidigungsanlagen, einem osmanischen Mausoleum und einer byzantinischen Kirche antikes Hellas-Flair zu spüren. Auf halbem Weg hinauf zu dieser Festungsbaukunst liegt eine höhlenartige Kapelle, von der man wunderbar erhaben auf das ferienprospekttaugliche Panorama Monemvasias schaut, auf eine Stadt, die perfekt gemacht ist für Blicke aus der Distanz – pittoresk, aber auch ein wenig profan. Woran wird man sich nach der Heimkehr erinnern? An autofreie Gässchen, an viel Terrakotta und Schmiedeeisernes und vor allem an die Abwesenheit von Alltagsmenschen. Es gibt sie nicht, die Begegnung mit Marktfrauen, mit Rentnern, Schülern und Studenten, keine Gespräche mit Kioskbesitzern, Fischern und Gemeinderäten. Um sie zu finden, muss man zurück aufs Festland oder auf den Friedhof.

Eine Maske für schwere Zeiten

Der liegt außerhalb von Monemvasias Stadtmauern, an der bergwärts liegenden Seite des Verbindungsdamms. Dort ist es schon so voll, dass sie die Osteofylakeion entlang der Friedhofsmauer stapeln. Etwas größer als ein Schuhkarton sind diese Beinhäuser, meist aus Marmor, gelegentlich auch aus Metall und einige ganz alte wurden noch gemauert. Die locker eingesetzten Scheiben der Grabvitrinen klirren im Wind, der typische Klang griechischer Friedhöfe. Hier sind sie versammelt, Lehrerinnen, Fischer und Friseure. Ritsos ist auch da. Gelebt hat er in Athen und auf Samos, beerdigt haben sie ihn auf Monemvasias Friedhof.

Ob der 1. Mai Teil des Ritsos-Mythos ist, findet man auch hier nicht heraus. Nur die Jahreszahlen seiner Geburt und seines Todes sind vermerkt, keine Angaben zu Tag und Monat. Ist die Frage nach dem Mythos eigentlich wichtig? Monemvasia hat sich nicht wegen, sondern trotz des Mythos verändert. Die Geschichte und der berühmte Sohn der Stadt werden nicht ignoriert, verblassen aber zu nützlichen Nebensächlichkeiten, mit denen man Ferienbedürfnisse befriedigen kann. “Hier, liebe Besucher, stehen wir vor einem der berühmtesten griechischen Dichter der Neuzeit, dort sehen Sie die …”. Das Mythische hat sich verflüchtigt, wird aber angesichts all der Kriege, Krisen und Missstände sehr wahrscheinlich bald wieder beschworen, denn so urteilte Ritsos selbst: “Eine gute Maske, für schwierige Zeiten, der Mythos.”

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