Ukrainische Friedensnobelpreisträgerin: “Besatzung bedeutet Krieg”
Die ukrainische Menschenrechtsanwältin Oleksandra Matviychuk war eine der Teilnehmerinnen des zweiten Welttreffens #BeHuman über menschliche Geschwisterlichkeit, das von der Stiftung “Fratelli tutti” im Vatikan veranstaltet wurde. In einem Interview mit Vatican News sprach die Empfängerin des Friedensnobelpreises von 2022 über die Zusammenarbeit zwischen Friedensnobelpreisträgern und betonte den Wert der Freiheit in der ukrainischen Gesellschaft
Svitlana Dukhovich und Mario Galgano – Vatikanstadt
In einer Zeit, in der die Intensivierung der Bombardements und die Eröffnung neuer feindlicher Fronten die Medien beherrschen, ist es wichtig, auch an das Schicksal der Kriegsgefangenen und vor allem der Menschen in den besetzten Gebieten zu erinnern. Das gilt insbesondere in der Ostukraine. Die Verletzung der Rechte von Gefangenen und weiteres Leid, das mit der Besatzung verbunden ist, gehöre dort leider zur Tagesordnung.
Die Teilnahme am Welttreffen zur menschlichen Geschwisterlichkeit im Vatikan, an dem rund 30 Friedensnobelpreisträger teilnahmen, bot der ukrainischen Menschenrechtsanwältin Oleksandra Matviychuk die Gelegenheit, ihre Erfahrungen mit der Dokumentation von Kriegsverbrechen zu präsentieren. Die junge Frau, die Leiterin der NGO “Zentrum für Bürgerliche Freiheiten” und Empfängerin des Friedensnobelpreises 2022 ist, spricht darüber in einem Interview mit Radio Vatikan/Vatican News:
“In der Tat bin ich sehr glücklich, in diesen Tagen im Vatikan bei diesem Treffen zu sein, zu dem Friedensnobelpreisträger und Vertreter verschiedener internationaler Organisationen eingeladen waren. Wir haben gemeinsam den Text der Friedenserklärung und ihre wichtigsten Punkte besprochen. Für mich ist es sehr wichtig, dass der endgültige Text der Friedenserklärung ein Element enthält, das für alle Ukrainer klar, für die internationale Gemeinschaft jedoch nicht so offensichtlich ist:
Die Besatzung ist auch ein Krieg. Wir alle wollen Frieden und wir alle kämpfen für den Frieden, aber Frieden ist nicht gleich Besatzung.”
Persönlicher Einsatz
Der Heilige Stuhl und der Papst persönlich setzten sich sehr stark für den Frieden in der Ukraine ein, so die Ukrainerin weiter, die Franziskus getroffen hat:
“Ich hatte die Gelegenheit, kurz mit dem Heiligen Vater zu sprechen und überreichte ihm ein Buch von Stanislav Aseyev, einem Journalisten aus Donezk, der zwei Jahre im Gefängnis ´Izolyatsia´ (Haftanstalt in Donezk, Anm. d. Red.) verbracht hat. Ich sagte dem Papst, dass ich mich dafür einsetze, den menschlichen Schmerz zu dokumentieren und dass Millionen Menschen in der Ukraine leiden. Die Menschen brauchen Seine Heiligkeit, und ich bat den Papst, in die Ukraine zu kommen. Ich sagte, dass die leidenden Menschen ihn heute mehr denn je brauchen.”
Die Aufgabe ihres Zentrums für bürgerliche Freiheiten bestehe darin, die Menschenrechte, die Demokratie und die Solidarität in der Ukraine zu fördern. Seit Beginn der groß angelegten russischen Invasion dokumentiere sie die Kriegsverbrechen der russischen Armee und fordere, dass die Verantwortung für diese Verbrechen auf internationaler Ebene anerkannt werde. Und so fügt Matviychuk hinzu:
“Einerseits kämpfen wir alle für Freiheit in jeder Hinsicht: für die Freiheit, ein unabhängiges Land und keine russische Kolonie zu sein, für die Freiheit, unsere ukrainische Identität zu bewahren und nicht gezwungen zu sein, unsere Kinder umzuerziehen, damit sie ´russisch werden´, und für die Freiheit, eine demokratische Wahl zu haben, d. h. das Recht, jeden Tag etwas zu tun und ein Land aufzubauen, in dem die Rechte jedes Einzelnen geschützt sind. Andererseits ist Krieg Gift für jede Gesellschaft, für das ganze Volk, weil er natürlich das Bedürfnis nach Überleben hervorbringt. Er bringt bestimmte Grundinstinkte zum Vorschein, und manchmal denken die Menschen vielleicht, dass alles andere unter diesen Umständen keine Rolle spielt. Das ist ein sehr gefährlicher Ansatz, denn dann besteht die Gefahr, dass wir vergessen, wofür wir eigentlich kämpfen. Ich habe kein Recht, irgendjemandem etwas zu sagen, aber meine Aufgabe ist es, die Ukrainer daran zu erinnern, was wichtig ist.“
Rolle der Kirchen
Auch die Kirchen würden eine wichtige Rolle spielen, fügt sie an. Alle seien sich dieser “Soft Power” bewusst und versuchten deshalb, mit verschiedenen Kirchen, Konfessionen und religiösen Organisationen zusammenzuarbeiten. Die Friedensnobelpreisträgerin erläutert:
“2019 haben wir in Zusammenarbeit mit dem Institut für Religionsfreiheit einen Runden Tisch zum Thema Religionsfreiheit organisiert, bei dem wir uns mit Vertretern verschiedener Kirchen und Konfessionen sowie mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen getroffen haben, um über die Frage der Religionsfreiheit in den besetzten Gebieten zu diskutieren. Da wir viele Gemeinsamkeiten haben, können wir zusammenarbeiten, um diese Herausforderungen zu bewältigen. Insbesondere die Religionsfreiheit in den besetzten Gebieten ist ein Thema, mit dem wir uns als Dokumentarfilmer von Kriegsverbrechen beschäftigen. Ich habe persönlich religiöse Verfolgung dokumentiert und werde nie die Geschichte eines protestantischen Pastors vergessen, der erzählte, wie er gefoltert wurde und was er durchgemacht hat. Und weil niemand eine einfache Antwort darauf hat, wie man dem Einhalt gebieten kann, versuchen wir gemeinsam, in Zusammenarbeit mit verschiedenen Kirchen, das zu tun, was wir können. Wir haben nicht die Fähigkeit, es zu stoppen, aber wir arbeiten individuell an jedem einzelnen Fall, und das bedeutet, bestimmten Menschen zu helfen, was letztendlich nicht wenig ist.”
vatican news, 14. Mai 2024
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