Was würde Jesus heute über die Lage der katholischen Kirche sagen?
Wir haben gehört, wie Jesus den Tempel in Jerusalem gereinigt hat. Auch wenn es riskant ist, legt es sich doch nahe, über die Reinigung der katholischen Kirche heute nachzudenken
Von Pater Eberhard von Gemmingen SJ
3. März 2024
Wir haben gehört, wie Jesus den Tempel in Jerusalem gereinigt hat. Auch wenn es riskant ist, legt es sich doch nahe, über die Reinigung der katholischen Kirche heute nachzudenken. Was würde Jesus heute über die Lage der katholischen Kirche sagen? Und was würde er tun? Es ist riskant, im Rahmen der Eucharistiefeier darüber zu sprechen. Aber da wir in der Fastenzeit sind, sollen wir ja auch über Sünden und Fehler nachdenken und über Buße und Umkehr. Dabei ist es entscheidend, nicht über die Sünden Anderer nachzudenken, sondern über die eigenen Sünden.
Ich schlage vor, dass wir uns mit Jesus im Kreis herumsetzen und uns fragen: Was ist eigentlich passiert, dass in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg das kirchliche Leben in einer so dramatischen Weise zusammengebrochen ist? Jesus würde uns alle liebenswürdig anschauen und würde vermutlich sagen: Der sexuelle Missbrauch durch Priester und die Vertuschung durch Bischöfe ist sicher ganz schlimm. Aber das ist nicht die zentrale Ursache für den kirchlichen Niedergang. Jesus würde wohl darauf hinweisen, dass unsere Vorfahren wesentlich weniger über die Gesetze der Natur wussten und daher z. B. Gesundheit und Krankheit, Natur- und Geschichtsereignisse direkt auf Gott zurückführten. Wir moderne Menschen erklären vieles in der Welt rational. Wir sehen nicht Gott direkt hinter Ereignisse in unserem Leben. Jesus würde wohl sagen: Ihr moderne Christen müsst euch wesentlich intensiver um Fragen des Glaubens bemühen, müsst mehr nachdenken. Eure Vorfahren haben einfach übernommen, was ihre Eltern sie lehrten. Die Herausforderung der Moderne ist es, sich mit Glaubensfragen auseinanderzusetzen. Die Herausforderung der Eltern ist es z. B., ihren Kindern und Enkel wirklich Vorbilder zu sein. Die Herausforderung der Priester ist es, den Glauben nicht nur richtig, sondern auch persönlich überzeugend zu verkünden.
Jesus würde wohl – meiner Ansicht nach – nicht den Besen nehmen, um in der Kirche aufzuräumen. Er würde auch nicht den Lautsprecher nehmen, um die Massen zu mobilisieren, sondern er würde uns alle zum Nachdenken auffordern. Er würde jeden einzelnen einladen, sich Zeit und Ruhe zu nehmen, um über das eigene Leben, über den Sinn des eigenen Lebens nachzudenken. Er würde wohl einladen, über die Schicksalsschläge im eigenen Leben nachzudenken und über die Freuden. Jesus würde wohl auch einladen, wieder zu staunen. Etwa Staunen, dass ein Kind geboren wurde. Welch Wunder ist es, dass aus einer Liebesvereinigung eines Mannes und einer Frau ein Kind hervorgegangen ist. Ein Kind ist nicht nur ein Naturprodukt, ein Kind ist ein Wunderwerk. Oder: Welch Wunder ist es, dass ein Ehepaar 30, 40 oder 50 Jahre trotz mancher Differenzen in Liebe beisammen geblieben ist. Oder: Welch Wunder ist es, dass die Medizin Mittel erfunden hat, die Krankheiten heilen. Vor dem Glauben kommt das Staunen. Wer nicht staunen kann, wird sich schwer tun im Glauben. Und wer Staunen kann, muss dann auch Dankeschön sagen. Er kann nicht einfach der Natur Danke sagen, sondern dem, der hinter der Natur steht.
Und dann gibt es noch ein Phänomen auf dieser Erde: Der junge Mann aus Nazareth, Jesus, wurde nach seinem kurzen aufregenden Auftritt in Israel hingerichtet. Seine Jünger hatten ihn nicht verstanden und verlassen. Aber seltsamerweise ist seine Sache nach seinem Tod aufgeblüht, und sie blüht bis heute, auch wenn sie manchmal unterzugehen scheint. Und Jesus hat durch sein Vorausgehen die Welt verändert. Man mag es sehen oder nicht. Durch ihn kam die Idee der absoluten Solidarität in die Welt. Jeder Zusammengeschlagene auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho ist unser Nächster. Durch ihn wurde die Idee, dass auch das kleinste Kind ein Kind Gottes ist und Würde hat, in die Welt gebracht. Jesus würde den heutigen Tempel wohl reinigen, indem er uns alle aufforderte: Schaltet Fernsehen und Handy aus und beginnt nachzudenken und zu staunen und miteinander zu sprechen. Er würde den heutigen Tempel – die Kirche – reinigen, indem er oberflächlichen Unsinn beiseiteschöbe. Er würde uns vielleicht auch einladen: Schaut auf mein Bild an der Wand. Es ist das Kreuz. Ich bin gestorben, um die Vorstellung einer absoluten Liebe in die Welt zu bringen. Es gibt also absolute Liebe. Wenn ihr mich immer wieder anschaut, wird die Kirche – der Tempel – wieder lebendig werden.
Hinweis: Meinungsbeiträge wie dieser spiegeln die Ansichten der jeweiligen Gast-Autoren wider, nicht notwendigerweise jene der Redaktion von CNA Deutsch.
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