Die Wahrheit liegt “dazwischen”
Der Philosoph Wolfram Hogrebe hat einen Essay über das sogenannte “Zwischenreich” geschrieben – und blickt am liebsten in die Zwischenräume des Lebens
Quelle
Das Zwischenreich (τὸ μεταξύ) (Klostermann RoteReihe)
Wolfram Hogrebe – Wikipedia
Amazon.de : Wolfram Hogrebe
10.03.2024
Zu den hartnäckigen Falschmeldungen in der Geistesgeschichte gehört Friedrich Nietzsches Diktum “Gott ist tot!” Seit gut 140 Jahren besagt das Gerücht, der Pastorensohn aus Röcken habe dem Allmächtigen den Totenschein ausgestellt. Dabei überliefert der einschlägige Aphorismus 125 in der “Fröhlichen Wissenschaft” von 1882 etwas ganz anderes.
Zu tun haben wir es hier mit sogenannter Rollenprosa: “Der tolle Mensch” entzündet am hellen Vormittag eine Laterne und ruft auf dem Marktplatz nach Gott. Die umstehenden Ungläubigen verspotten den Narren, während er die Abwesenheit des Allmächtigen beklagt: “Gibt es noch ein Oben und Unten? Irren wir nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns nicht der leere Raum an?” Und schließlich: “Riechen wir noch nichts von der göttlichen Verwesung? Auch Götter verwesen! Gott ist tot! Gott bleibt tot! Und wir haben ihn getötet!”
Zwischentliches findet sich überall
Festgestellt wird in dieser Szene also nicht ein faktisches Entschlafen des Allerhöchsten, sondern das Ermatten eines Empfindens göttlicher Gegenwart unter den Menschen. Seit Ende des Mittelalters sind die Sterblichen von wachsender spiritueller Demenz befallen, sie lassen nur noch das Sichtbare gelten – des Narren Laterne am helllichten Vormittag parodiert diese neuzeitliche Geistesverengung.
Unausgesprochen gibt uns Nietzsche hier auch einen Hinweis auf einen Topos, der seit je durch die Philosophielandschaft geistert: das “Zwischen”. Gleich einem Spuk taucht es zu allen Zeiten auf, immer wieder stellten Menschen fest, dass nicht im Substanziellen sich das Entscheidende zuträgt, sondern dazwischen, in dem, was alles miteinander verbindet.
Wolfram Hogrebe, 78, emeritierter Philosophie-Professor in Bonn, hat über diese seltsame Sphäre, die schon bei Platon und Aristoteles erwähnt wird, eine Monographie geschrieben: “Das Zwischenreich” (Klostermann). “Wo man auch hinschaut”, so Hogrebe, “Zwischentliches, wie man sagen könnte, findet sich überall.” Zwischenräume sind uns “häufig als ungeregelte Spielräume offen”, Areale der Freiheit, in denen wir Menschen uns ungezwungen entfalten können. “In solchen nicht nur musikalischen Intervallen als Spielräumen sind wir zuhause”, sagt Hogrebe. “Intervallum heißt ja ursprünglich Zwischenraum zwischen zwei Pfählen. Wir sind in gewisser Weise die diskret Gepfählten.”
Die Welt – ein einziges “Zwischen”?
Das Zwischen aber ist viel mehr als nur eine soziologische Größe, ein Schlupfloch zum Unterlaufen gesellschaftlicher Regeln. Unsere Welt ist erfüllt von unendlichen vielen großen und kleinen Zwischen: Jeder Festkörper, so lehrt uns die Quantenmechanik, ist unterhalb der Sichtbarkeit ein Netzwerk aus Wellen und Teilchen, die in unterschiedlichen Spannungszuständen formativ oszillieren. Das Formative ist das Informative: Quantenphysiker beschreiben unsere Wirklichkeit als informatives Gewebe. Jede Gestalt ist zugleich eine Botschaft. Die Welt – ein einziges Zwischen?
Schon Platon machte das Zwischen augenfällig, indem er seine philosophischen Texte in Dialogform verfasste. Er trug die Ergebnisse seiner Einsichten nicht einfach vor, sondern machte in den Gesprächen den Prozess des Erkennens sichtbar. In der Polarität von These und Gegenthese schwingt sich der Geist dialektisch zu neuer Erleuchtung einer Synthese empor. Mag sein, dass das Wesentliche unsichtbar ist, wie ein kleiner Prinz uns nahelegt. In Platons Sinne können wir anfügen, dass das Wesentliche im Unsichtbaren des Zwischen erfahrbar ist.
Von Platon und den Aborigines bis Heidegger und Buber
Auch in unsere Alltagssprache hat sich das Zwischen hineingeschmuggelt. Das Wort Interesse gebrauchen wir üblicherweise, wenn wir Anteilnahme oder Wissbegier meinen, im lateinischen Ursprung bedeutet es Zwischen-Sein. Ein diskreter Hinweis darauf, dass unser Sein sich ausdrückt in Zugewandtheit und Aufmerksamkeit – und seine Atemluft im Miteinander zwischen den Dingen findet. “Der homo sapiens”, sagt Hogrebe, “tritt zuerst zuerst im Zwischenreich auf.” Die Urvölker haben in unzähligen Erzählungen überliefert, dass der Mensch aus einer Traumsphäre hervorgebracht wurde. Die australischen Aborigines sprechen ausdrücklich von einer Traumzeit, aus der sie entstammen. So wie ein neugeborenes Kind sich in seinen ersten Jahren in die Welt hineinträumt, so verbrachte die anfängliche Menschheit zunächst in einem wohlig-grausigen aniministischen Dämmer, ehe sie eines Tages zur Vernunft emporschreckte. “Aus der onirischen Wildnis”, so Hogrebe, aus dem Dickicht des Traums also, “nährt sich das, was wir Geist nennen.” Am Anfang also war ein einziges großes Zwischen.
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In unübertroffener Klarheit und Knappheit brachte Karl Jaspers das Zwischen auf den Nenner: “Wahrheit ist, was uns verbindet.” In seiner rhetorischen Wucht steht Jaspers damit in enger Verwandtschaft zum paulinischen “Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die Größte unter ihnen”. Im Zueinanderhingezogensein leuchtet der Mensch auf, wie er gemeint ist; im Zwischen-Menschlichen findet er seinen Kompass. Martin Buber entdeckte, wie sich das humane Ich allein über das Gespiegeltsein im Du zu entwickeln vermag. “Das Dialogische Prinzip” hat Buber diesen Reifungsvorgang genannt. Der Mensch erwacht im Zwischen. Umgekehrt könnten wir kalauern: In Martin Heidegger ist das Zwischen als revolutioniertes Denken erwacht. Für den Schwarzwälder Boten des Seins ist Denken kein initiativ betriebener Vorgang mehr, eher etwas harrend Empfangenes, eine Inspiration. Das Denken sucht uns auf, nicht umgekehrt. Heidegger wirft damit das Subjektivitätskonzept der Neuzeit über Bord.
Überhaupt scheint es, je eindeutiger die Naturwissenschaften uns die Welt weismachen wollten, desto rebellischer brachten Philosophen ein Zwischen in Stellung. Der Marxist Ernst Bloch hielt der verabscheuten “Klotzmaterie” sein “Dunkel des gelebten Augenblicks” entgegen, eine Art Zwischenraum in einer durchadministrierten, materiellen Welt, ein Zwinkern individueller Freiheit, aus der das Neue, das Unerwartete, das Lebendige aufsteigen kann. Wer will, mag sich Blochs gelebten Augenblick vorstellen als eine wilde Blume, die sich zwischen Gehwegplatten hindurchschummelt, als Triumph alles Lebendigen über die Erstarrung. Theodor W. Adorno deutete mit einem lakonischen “Mehr” etwas an, jenseits des rational Beschreibbaren, wo das Eigentliche, das Wahrhaftige stattfindet. Was Adorno “Mehr” nannte, hieß bei Walter Benjamin “Aura”.
Wo uns kein Zwischen verbindet, ersticken wir
Es muss doch mehr als Alles geben – so ungefähr könnte die Logik des Zwischen lauten. Was für jeden Vernunftanbeter ein schierer Unfug ist, rüttelt Schwärmer und Poeten erst richtig wach. “Haben wir die Geheimnisse des Sichtbaren erschöpft?”, fragt Ernst Jünger und deutet damit an, dass wir alle auch auf dem sehenden Auge blind sein können. “Im Sichtbaren”, versichert uns Jünger, “sind alle Hinweise auf den unsichtbaren Plan.” Und was ist das Unsichtbare im Sichtbaren, das uns allgegenwärtig umflort? Genau, die Luft. Machen wir uns den Spaß und stellen uns das Zwischen für einen Moment als die Luft vor. Es läge nach Jaspers, für den Wahrheit ist, was uns verbindet, die Wahrheit gleichsam in der Luft. Damit wird auch verständlich, was Carl Schmitt in sein Tagebuch notierte: “Der Teufel isoliert.”
Wo kein Zwischen uns verbindet, ersticken wir. Mit dem Aufkommen von Quantenphysik, Kybernetik und schließlich digitaler Vernetzung hat sich zudem durchzusetzen begonnen, dass alles mit allem zusammenhängt: Die neuzeitlichen Wissenschaften waren zunächst ganz erfüllt vom Geist der Trennung, die Natur wurde in immer kleinere Einheiten zerstückelt und inspiziert. Als weiteres Leitbild kam nun das Netzwerk hinzu, die Beziehung, das Gewebe des Lebendigen. Das Zwischen drängte sich gleichsam an die Rampe. Es tauchten Philosophen auf, die zwar nicht mehr metaphysisch spekulierten, aber sich doch dem Transphysischen widmeten, dem Unterschwelligen, dem Stimmungsvollen, einer Art säkularisierter Metaphysik der Bodenständigkeit. Auf das Haben folgte das Sein, jetzt wurde das Werden wichtig. Das Werden ist der Rhythmus des Zwischen.
“Alles spricht uns sprachlos an”
Und auch Peter Sloterdijk hat in seinem dreibändigen Hauptwerk “Sphären” den Menschen als Wesen beschrieben, das in Sphären lebt, in Beziehungsräumen. Gernot Böhme untersuchte “den eigentümlichen Zwischenstatus von Atmosphären zwischen Subjekt und Objekt”. Und Rudolf zur Lippe, Künstler und Philosoph und von östlichem Denken angeregt, versuchte sich der Starrheit westlicher Traditionen zu entledigen: “Das Denken zum Tanzen bringen” heißt eines seiner letzten Bücher. Darin schaut er sich von den alten Chinesen und dem Seinsbegriff des Tao einer beweglichen Ordnung ab, die sich unserer gewohnten statischen Planbarkeit entzieht. “Bewegungskommunikation” nennt Lippe das, was das Zwischen wohl ausmacht. Fällt einem dabei nicht sofort die Ouvertüre zum Johannes-Evangelium ein? “Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und das Wort war Gott.” In seiner Musikalität gleicht dieser Satz einem Tanz. Wir haben förmlich vor Augen, wie aus diesen Worten im Wiegeschritt die Welt aufsteigt.
Gegen Ende seiner Erkundungsreise durch “Das Zwischenreich” wagt sich Wolfram Hogrebe immer mehr an Mystisches heran. Es ist zu spüren, wie dies einem Philosophie-Professor auch noch im Ruhestand zur Belastungsprobe werden kann. Auf einmal ist von Versenkung die Rede, von Kontemplation: “Sie nimmt das Nichtgegenständliche aller Gegenstände wahr.” Und vielleicht ist das behutsame Herantasten auch angemessen, denn das Zwischen können wir nur umkreisen, nie dingfest machen. Wer allzu nassforsch umkreist, riskiert ein Schleudertrauma. “Alles spricht uns schon sprachlos an”, schreibt Hogrebe. Für den, der diese Ansprache empfängt, “ist jeder Gegenstandsbezug etwas Mystisches”. Doch das Mystische ist nichts Übersinnliches. Jedes Kind kommt mit einer mystischen Antenne zur Welt. “Infanten”, so Hogrebe, “suchen von Anfang an nach dem Lächeln der Mutter, das für alles steht, was es gibt.” Wem dieses Lächeln zuteilwurde, der hat gute Aussichten, dass seine Antenne auch später aktiv bleibt. Dann wird ihm bewusst bleiben, dass das, was er sieht, nicht alles ist. Er wird die Dinge betrachten und gewiss sein:
Zwischen den Dingen tanzen die Engel.
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