Syrien: “Habt ihr uns Christen vergessen?”

Krieg, Sanktionen und zuletzt noch ein Erdbeben: Syriens christliche Minderheit schrumpft dramatisch. Doch nicht alle wollen sich diesem Schicksal ergeben. Die Geschichte einer Gruppe junger Christen in Aleppo, die alles tut, damit ihr Glaube überlebt

Quelle
Syrien

13.01.2024

Christoph Lehermayr

Plötzlich, inmitten einer Geschichte, die sie gerade erzählt, stockt Carla Audo die Sprache. Sie streift sich eine Strähne ihres langen schwarzen Haares aus dem Gesicht und starrt aus dem Fenster des Autos. Ein Straßenzug gleitet vorbei. Bröckelnde, pulverisierte und von Kugeln durchsiebte Bauten. Eingänge zu Läden, denen die Auslagen fehlen und die wie klaffende Wunden daliegen. Eine Schneise der Zerstörung, wie so viele in Syriens zweitgrößter Stadt Aleppo. Aber irgendetwas ist anders. Carla späht vorsichtig nach oben, hoch zu den Dächern, so als ob dort etwas lauere. “Hier lag sie”, sagt sie schließlich, “die ,sniper alley’, wie wir sie nannten. Ein Straßenzug, in dem sich die Scharfschützen verbargen.” Wer ihn querte, lief um sein Leben, nie wissend, ob nicht gleich Schüsse fallen. “Aber die Straße war eine wichtige Verbindung, es blieb keine Wahl. Also rannten wir. Später spannten sie Plastikplanen darüber. Damit den Snipern zumindest die Sicht versperrt war.”

Gut elf Jahre ist das her. Der Beginn des Krieges. Der Anfang des Absturzes von Aleppo. Eine uralte, einst wohlhabende Stadt, ein Handelszentrum, Weltkulturerbe, ein Ort, an dem Muslime wie Christen friedlich lebten. Wo Moscheen neben Kirchen standen, und wo auf Weihnachten das Opferfest folgte. Carla war damals 22. Eine junge Frau, Christin, mit armenischen und syrisch-chaldäischen Wurzeln, wie sie typisch für die Glaubensvielfalt der Levante sind. Sie hatte begonnen, Bauingenieurwesen zu studieren, lernte, ging aus, lachte viel und genoss das Leben. Bis alles zerbrach. Und Aleppo in ein Armageddon glitt.

Erbarmungsloser Kampf gegen Aufständische

Das Auto stoppt. Carla eilt über Stiegen hoch in eine kleine Wohnung. Krikor heißt der Mann, der sie herzlich begrüßt. Er steht am Anfang seines dritten Lebens. Sein erstes endete mit 18, als der Krieg kam und er in die Armee einberufen wurde. Wie jeder männliche Syrer, sofern er nicht der einzige Sohn der Familie war, musste Krikor fortan dienen. Auf unbestimmte Zeit, wie es seit Kriegsbeginn hieß. Wehrdienst in einer Diktatur, im erbarmungslosen Kampf gegen Aufständische, die bald große Teile des Landes unter ihre Kontrolle bringen würden. Im Unterschied zu vielen Kameraden überlebte Krikor. Unvorstellbare zehn Jahre sollte es dauern, bevor die Armee ihn ziehen ließ. Krikor, der Christ, der nie kämpfen wollte, trug als Mahnmal einen Körper übersät von Wunden davon und eine Seele, die langsam heilt. Auch, weil zu Hause eine liebe Frau und ein Sohn auf ihn warteten. Doch der passionierte Tischler stand vor dem Nichts. Keine Arbeit, kein Geld, keine Perspektive. Dann kam Carla ins Spiel.

“Wie oft stellte ich mir in all den Jahren des Krieges die Frage, ob ich und wir alle hier noch eine Zukunft haben”, sagt Carla später, als sie durch den ältesten Teil von Aleppo führt. Dort, rund um den Basar, eine Handelsstätte, deren Geschichte fünftausend Jahre zurückreicht, wird so klar wie nirgendwo anders, was dieser Krieg anrichtete. Während der Westen damals noch den friedlichen Aufstand gegen den Machthaber Baschar al-Assad herbeifantasierte, hatten in Aleppo längst Islamisten die halbe Stadt unter ihre Kontrolle gebracht.

Von Russen bombardiert, von Islamisten terrorisiert

Aufmunitioniert von ihren Gönnern in Saudi-Arabien, Katar und der Türkei, strömten Dschihadisten aus der ganzen Welt zum selbst ausgerufenen “Heiligen Krieg” nach Syrien. In Aleppo verschanzten sie sich auch in den uralten Gängen des gewaltigen Basars, verminten den Souk, die Karawansereien und nahmen die Zitadelle ins Visier, die Assads Armee hielt. Aleppo fiel in vier Jahre der Belagerung, konnte nur noch über Schleichwege versorgt werden, wurde von der Armee und deren russischen Verbündeten aus der Luft bombardiert und von Islamisten am Boden terrorisiert. Am Ende waren 31.000 Menschen tot. Übrig blieb ein staubiges Meer aus Trümmern. Absolute Zerstörung. Ein Stalingrad unserer Zeit.

Vor Ausbruch des Krieges lebte eine viertel Million Christen in Aleppo. Sie stellten zehn Prozent der Bevölkerung der Stadt – der höchste absolute Anteil in ganz Syrien. Und gerade sie gerieten zwischen die Fronten. Während ihnen die einen allzu große Nähe zur Staatsmacht vorwarfen, trieben auf der anderen Seite Islamisten deren Auslöschung voran. “So viele unserer Kirchen wurden zerstört”, sagt Carla, “so viel von unserem Erbe geschändet. Und so viele von uns flohen aus dem Land. Gebäude lassen sich jedoch wieder aufbauen, aber Menschen, die einmal alles hinter sich lassen, kann keiner mehr zurückholen.” Das Thema bewegt sie und ihre Geschwister im Glauben wie kein anderes. In ganzen Vierteln, die zuvor christlich geprägt waren, stünden nun Häuser leer, die nach und nach von Muslimen übernommen werden. Syrien, mit der Wandlung vom Saulus zum Paulus eine Wiege des frühen Christentums, droht zum Land ohne dieses zu werden. Geschieht nichts, stirbt in Aleppo im Jahr 2059 der letzte Christ.

Doch Carla ist trotzig. Als sie für sich beschlossen hatte, zu bleiben, egal, was käme, keimte Hoffnung in ihr. Erst auf ein Ende der Belagerung, dann des Krieges und später all der Entbehrungen. Aber hoffen allein reicht nicht. “Will man, dass es uns als Christen hier weiter gibt, muss man für sie auch etwas tun, damit sie eine Perspektive bekommen. Den einen Grund, zu bleiben.” Carla traf auf zwei Männer, Freddy und Safir, die das ähnlich sahen, Unternehmertypen sind und einen Plan hegten. Sie gründeten das “Christian Hope Center”, eine Organisation, die Christen konkret helfen soll und etwa einem Mann wie Krikor einen Start in sein drittes Leben ermöglichte.

Syrien gleicht einem Patienten auf der Sterbebahre

Stolz steigt dieser die Treppen in einen Keller hinunter. Dreht das Licht an, das er über Stromgeneratoren teuer bezahlen muss und zeigt seine Werkstatt. Er, der Tischler, hat dank Spenden an das Hope Center die Geräte als Mikrokredit finanziert bekommen, mit denen er sich seinen Weg zurück in ein normales Leben baut. “Aufträge gibt es genug”, sagt er und zeigt am Handy Bilder seiner letzten Werkstücke. “So viel ist kaputt, da hat man als Tischler reichlich zu tun.”

Wenn Carla durch Aleppo fährt, sind Menschen wie Krikor das Ziel. Solche, die nicht aufgeben, die anpacken, die aber einen Anschub brauchen. Diese eine Zufuhr an Atemluft. Denn Syrien gleicht heute einem Patienten auf der Sterbebahre. Erst fast erwürgt vom Krieg. Dann mit einer engen Schlinge um den Hals liegen gelassen, in Form westlicher Wirtschaftssanktionen. Die Sanktionen sollten sich eigentlich gegen den Machtapparat richten, treffen aber die einfachen Menschen am meisten und treiben sie in völlige Armut. Sie verhindern auch den Import von nötiger Technik, um zerstörte Infrastruktur wie Stromnetze und Kraftwerke wieder aufzubauen. So aber bleibt alles rationiert. Lebensmittel genauso wie Strom, der staatlich nur eine Stunde am Tag fließt. Die horrende Inflation frisst die Einkommen auf. Ein einfacher Arbeiter verdient 30 Euro im Monat. Dabei kostet ein Kilo Hühnerfleisch auf dem Schwarzmarkt acht Euro. Hunger, einst undenkbar in Syrien, hat Einzug gehalten. Jedes dritte Kind ist bereits unterernährt, Millionen von Menschen auf Nahrungshilfen angewiesen.

Mit dem Krieg in Gaza wurde es noch schlimmer

Am 6. Februar dieses Jahres bebte zudem um 4:17 Uhr die Erde. Es war der vorerst letzte Schlag auf einen halb tot Geprügelten. “Ein Weckruf vielleicht, dass es allerhöchste Zeit wäre, von hier zu verschwinden”, sagt Carla. Sie sitzt in einer Bar in einem der christlichen Viertel. Es ist ein Ort von Früher, der sich ins Jetzt gerettet hat. Arabische Musik läuft. Falafel-Bällchen, Pitabrot, Hummus mit Pistazien und Oliven machen die Runde. Es gibt kühlen Weißwein. Von draußen weht ein angenehm warmer Wind. “Aber all das zurücklassen?”, fragt Carla, “unsere Heimat, unsere Familie, unser Erbe? Wie die Millionen von Syrern, die gingen? Sind die im Ausland jetzt alle so glücklich? Ich kann das nicht! Ich wünsche mir eine Zukunft hier!”

Dabei gleicht Syrien weiter dem Patienten auf der Bahre, voller Kanülen und Schläuche, fern davon, frei zu atmen. So sehr die Welt am Beginn der Aufstände auf das Land sah, alles verfolgte, Reporter schickte, die selbst in Dschihadisten noch Freiheitsfanatiker zu entdecken glaubten, so wenig fühlen sich die Menschen nun, seit das Regime die Kontrolle über die Bevölkerungszentren zurückgewonnen hat, von dieser Welt weiter beachtet. Mit dem Beginn des Kriegs im Gazastreifen wurde es noch schlimmer.

“Manchmal möchte ich einfach nur schreien: Hallo! Es gibt uns Christen hier noch! Habt ihr uns vergessen?”, sagt Carla. “Am stärksten merkte ich es einmal zu Weihnachten”, erinnert sie sich. “Wir konnten nach vielen Jahren das erste Mal in der vom Krieg zerstörten St.-Elias-Kathedrale feiern. Der Wiederaufbau hatte gerade begonnen. Mit dem Chor sangen wir die Mozart-Messe. Der Kirche fehlte noch das Dach. Es war bitterkalt und dann begann es zu schneien und wir sangen. Was für eine schöne Christnacht, was für eine Gemeinschaft, welch starkes Zeichen des Aufbruchs und der Hoffnung inmitten der Trümmer!” Endlich eine gute Nachricht, von wo sonst nur vom Elend berichtet wird, dachte Carla. “Am nächsten Tag stöberte ich neugierig auf den Internetseiten internationaler Medien, erwartete mir dort große Berichte. Und fand doch kein einziges Wort über uns.”

Der Autor leitet “alle welt”, das Magazin von Missio Österreich. Er reiste nach Syrien und recherchierte vor Ort an Reportagen aus dem sonst kaum zugänglichen Land.

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