Die Sünde des Anderen verpflichtet dich, ihn auf sie hinzuweisen

In der Lesung und im Evangelium haben wir davon gehört, dass wir bei Fehlern einander zurechtweisen, einander korrigieren sollen

Quelle
Offenbarung 3:19 Welche ich liebhabe, die strafe und züchtige ich. So sei nun fleißig und tue Buße! (bibeltext.com)

Von Pater Eberhard von Gemmingen SJ

10. September 2023

[Lesungen HIER]

In der Lesung und im Evangelium haben wir davon gehört, dass wir bei Fehlern einander zurechtweisen, einander korrigieren sollen. Diese Aufforderung Jesu und des Propheten Ezechiel ist vermutlich für viele moderne Menschen nicht so ganz leicht anzunehmen. Wir sind in der Moderne eher geneigt, den Anderen machen zu lassen, wie er eben sein Leben lebt. Wir wollen selbst ja auch nicht korrigiert werden. Dahinter steht die Überzeugung, dass jeder für sich selbst verantwortlich ist, und dass keiner sich in das Tun und Lassen Anderer einmischen soll. Lediglich Straftaten sollen wir verhindern oder – wenn sie geschehen sind – anzeigen. Im Übrigen gilt das persönliche Recht jedes Menschen, nach seiner Fasson zu leben. Diese verbreitete Haltung ist vielleicht die Reaktion auf viele Jahrhunderte, in denen die Freiheit der Menschen durch gesellschaftliche Normen begrenzt wurde.

Dabei übersehen wir vielleicht, dass wir füreinander verantwortlich sind. Zunächst einmal sind Eltern für das Tun und Lassen ihrer Kinder verantwortlich. Das gilt für kleine Kinder – es nimmt ab, wenn die Kinder größer werden. Aber auch Kinder nach der Pubertät brauchen vermutlich dann und wann eine kritische Frage, eine Zurechtweisung, einen Hinweis auf Normen und Verhaltensweisen. Aber es stellt sich gleich die Frage: Inwieweit sind wir auch als erwachsene Menschen füreinander verantwortlich, für das Tun und Lassen des Anderen? Kann und darf es uns gleichgültig sein, wie sich unsere Nachbarn, unsere Mitmenschen verhalten? Ist ein Hinweis auf ungutes, unsoziales Verhalten von Menschen in der Umgebung immer und überall verboten?

Die erste Antwort muss sicher lauten: Der Prophet und Jesus – sie sprechen wohl von der gläubigen Gemeinde, von einer Gemeinschaft, nicht von dem Zusammenleben im Staat. Vor allem Jesus meint wohl: Wenn ihr zusammen betet und Abendmahl feiert, dann könnt und soll ihr einander auf Fehlverhalten hinweisen, da ihr ja zusammengehören wollt, da ihr ja eine Gemeinschaft von Geschwistern sein wollt.

Aber wenn wir auf den Propheten Ezechiel ganz genau hinhören, dann sagt er: Du wirst schuldig, wenn du den Nächsten, der gesündigt hat, nicht auf seine Sünde hinweist. Mit anderen Worten: Die Sünde des Anderen verpflichtet dich, ihn auf sie hinzuweisen. Wenn Du es nicht tust, wirst du schuldig.

Haben wir also zum Beispiel die Verpflichtung, Abtreibungswillige darauf hinzuweisen, dass sie durch Abtreibung schuldig werden. Meine Antwort wäre: Wir müssen sie so liebevoll wie möglich, auf das Übel, auf die Sünde hinweisen. Unsere Worte dürfen aber nicht von oben herunterkommen. Unsere Worte dürfen nicht hart sein, sondern müssen liebevoll sein. Aber wir dürfen eigentlich nicht wegschauen. Gleiches gilt für Suizid.

Ich glaube, dass diese heutigen Texte uns auch auf ein Problemfeld der modernen Welt hinweisen. Es gibt immer weniger gesellschaftliche Normen. Bis vor wenigen Jahren, vielleicht bis vor 80 Jahren, gab es viele Normen, an die sich die Menschen halten mussten. Sie waren ohne viele Worte gezwungen, sich an allgemein gültige Verhaltensweisen zu halten. Das galt für die Lebensform, für Kleidung, Essen, Schule, Verkehr auf der Straße, den ganzen Umgang miteinander. Vor allem Eltern hatten das Sagen. Ist das heute noch so? Die Menschen haben sich damals beobachtet und mehr oder weniger deutlich kritisiert, wenn sie sich nicht an die Normen hielten. Seit einigen Jahrzehnten sind die meisten dieser Normen gefallen. Und dahinter steht eben auch die Theorie: Jeder kann nach seiner Weise leben, wenn es dem Anderen nicht schadet, wenn er sich an die Gesetze hält.

Aber sind wir solche Individuen? Sind wir so losgelöst von den Anderen, von einander?

Vor allem gilt wohl immer noch: Jeder von uns ist für andere ein anziehendes oder ein abschreckendes Beispiel. Wir sind es, ob wir wollen oder nicht. Das gilt vor allem für Eltern und auch Großeltern.

Zurück zum Evangelium – der Herr sagt: Weise deinen Nächsten, wenn er etwas Unrichtiges getan hat, zunächst unter vier Augen zurecht. Wenn das nichts nützt, dann ziehe noch andere hinzu. Wenn dies nichts nützt, spricht mit ihm vor der ganzen Gemeinschaft, zu der ihr gehört.

Das für uns heute entscheidende lautet meiner Ansicht nach: Wir sind füreinander verantwortlich. Wir müssen auch vor Gott eines Tages Rechenschaft geben über unseren Umgang miteinander. Wenn uns schlechtes Tun des Anderen ganz gleichgültig ist, stimmt etwas nicht. Das Denken und Tun Anderer darf uns nicht gleichgültig sein. Hinter dem Denken und Tun steht ja eine Gesinnung. Und kann uns die Gesinnung des Anderen gleichgültig sein? Muss er uns nicht leid tun, wenn er ein reiner Egoist ist? Darf es uns gleichgültig sein, ob der Nächste ein reiner Egoist ist oder nicht. Muss es uns nicht schmerzen, wenn wir sehen, dass ihn der Hunger von Flaschensammlern nicht bewegt? Es ist sehr schwer, andere Menschen auf ihre Defekte hinzuweisen. Aber ganz schlimm ist es, wenn es uns gleichgültig ist, dass Menschen unserer Umgebung ein hartes Herz haben. Hier ist zunächst einfach Mitleid angefragt. Vielleicht müssen wir neu lernen, uns gegenseitig liebenswürdig auf unsere Defekte hinzuweisen. Keiner ist ohne Defekte.

Amen.

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Predigt
Pater Eberhard von Gemmingen SJ

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