Über das Zusammentreffen von Kulturen
Psalm 25: “Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele…”
29 Juli 2022
Rom, das 6. Jahrhundert neigt sich dem Ende zu. Papst Gregor der Grosse betet: “Herr, schenke mir die Gabe der Musik, damit mir die Komposition heiliger Gesänge gelingen möge.” Plötzlich das ersehnte Zeichen: Eine weisse Taube kommt vom Himmel herab und lässt sich auf seiner rechten Schulter nieder. Ihr Schnabel nähert sich dem Ohr des Papstes, aber es ist nichts zu hören. Und so befruchtet der Heilige Geist das Herz des Papstes: Sein Gebet wurde erhört! Die Gabe der sakralen Musik erleuchtet sein Inneres und Papst Gregor unterbricht die Stille des Gebets, als er den Beginn von Psalm 25 singt: “Zu dir, Herr, erhebe ich meine Seele…”
Sein Leib und seine Stimme sind im Einklang, und zum Erstaunen aller Anwesenden springt er auf und verkörpert so die Komposition, die ihm der Heilige Geist eingegeben hat: er erhebt seine Seele mit einer Melodie, würdig das Lob Gottes zu singen. Der päpstliche Schreiber eilt herbei und beginnt, mit Zeichen auf einer Tafel festzuhalten, was später in allen liturgischen Büchern überliefert werden sollte. Der Gesang der römischen Kirche war geboren und dessen Vater war Papst Gregor.
Diese Geschichte, gleichsam eine zweite Verkündigung – wie an Maria – des gesungenen Wortes, steht am Ursprung dessen, was wir als gregorianischen Gesang kennen. Eine Legende, die zu Beginn eines jeden Kirchenjahres andächtig überliefert wurde, denn vor dem Eingangshymnus (Introitus) fügten die Sänger in Kathedralen und Klosterkirchen jahrhundertelang Worte und Musik von Psalm 25 hinzu, um an dieses legendäre außer-gewöhnliche Ereignis zu erinnern.
Aber das ist leider nur Legende, denn es vergingen mindestens 200 Jahre zwischen Papst Gregor I., der als Gregor der Große in die Geschichte einging, und den ersten sogenannten »gregorianischen« Gesängen. Wie entstand dann der gregorianische Gesang? Dazu müssen wir von Rom in das Gebiet aufbrechen, das wir heute als Frankreich kennen. Unter der Herrschaft von Pippin dem Kurzen und dann seinem Sohn Karl dem Großen wurde hier, im Gallien des 8. und 9. Jahrhunderts, der »cantus Romanus« Roms zum »cantus Romanus« Galliens. Richtig zu singen war ebenso wie den Gottesdienst richtig zu feiern ein Wunsch, ja ein Befehl der Herrschenden und bedeutete nur eines: von Rom zu lernen.
Aus frühmittelalterlichen Aufzeichnungen wissen wir, dass ein Kantor, ein gewisser Simeon, der zweitwichtigste Sänger der »schola romana« (des Päpstlichen Chores), im Jahr 760 aus dem Norden des heutigen Frankreich nach Rom zurückgerufen wurde. Einige Jahre lang hatte er sich in der Erzdiözese Rouen aufgehalten, um den Sängern des Erzbischofs Remigius die »Cantilena Romana« beizubringen, das heißt den alten römischen Gesang, der damals in den Basiliken Roms erklang. Damals gab es weder Tonaufnahmen noch eine Notenschrift, um die Melodien aufzuzeichnen. Alles war dem Gedächtnis anvertraut, wobei man sich ausgeklügelter Techniken bediente, um es optimal zu nutzen.
Aber wie auch bei den Messformularen führte dieser Versuch, ein authentisches römisches Repertoire nach Gallien zu bringen, zu einem echten Prozess der Anpassung des römischen Vorbilds. Es hatte den Ansprüchen der Kirchen im Frankenreich zu entsprechen. Neufassungen und Hinzufügungen ergaben eine Kontamination des römischen Gesangs mit dem gallikanischen Gesang (Gesänge und Gesangsstile der von Rom weit entfernten Diözesen), so dass man von einem echten römisch-fränkischen Gesang sprechen kann.
Und unser gregorianischer Gesang? Er ist genau das, eine Begegnung von Kulturen und musikalischen Traditionen: Die Sehnsucht, auf das Vorbild Rom zu blicken, und gleichzeitig ist da die Realität einer Liturgie, die die Klänge und die Ästhetik der Heimat widerspiegelt. Der gregorianische Gesang wird zu einer inklusiven Realität, in der wir, wie viele Wissenschaftler gezeigt haben, nicht nur die »Klänge« des römischen 7. und des gallischen 8. Jahrhunderts wiederfinden können, sondern auch Spuren vieler liturgisch-musikalischer Traditionen der westlichen Kirche, wie den Ambrosianischen Gesang aus Mailand oder den Beneventanischen Gesang, der mit den Langobarden verbunden ist, um nur einige zu nennen.
Es fehlt noch ein Schritt: die Verbindung zu Gregor dem Großen. Im Mittelalter gab es eine übliche Praxis, die man heute in der Fachsprache als »Pseudoepigraphie« (Falschzuschreibung) bezeichnet: eine maßgebliche Autorschaft für Texte oder Dokumente zu suchen, die universale Bedeutung haben sollten. Man denke nur an die Konstantinische Schenkung, die nicht von Kaiser Konstantin verfasst wurde. Die liturgischen Gesänge, die für das Karolingerreich als universal anerkannt werden sollten, erhielten ein verbindliches Siegel: den Namen von Papst Gregor I. als Urheber. Für die Herrscher war dies Teil eines politischen Plans. Auch die Einführung eines universalen und unveränderlichen Gesangs sollte neben vielen anderen Elementen zur politischen Einheit und Solidität beitragen.
Aber wie wir wissen, enthalten Legenden immer einen Kern Wahrheit. Der heilige Ursprung wurde nicht nur durch den Namen des gelehrten Papstes bestätigt, sondern vor allem durch jene weiße Taube. Der gregorianische Gesang sollte als ein Geschenk des Heiligen Geistes an die Kirche betrachtet werden. Und auch heute, Jahrhunderte später, »betrachtet die Kirche den Gregorianischen Choral als den der römischen Liturgie eigenen Gesang« (Sacrosanctum concilium, 116) und schlägt ihn als Modell vor, an dem man sich orientieren kann, um sich inspirieren zu lassen und neue Gesänge für das Lob Gottes zu komponieren.
(Orig. ital. in O.R. 19.7.2022)
Von Claudio Campesato
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