Eine Lanze für Papst Benedikt XVI.
Joseph Ratzinger hat im Missbrauchsskandal Fehler gemacht. Aber ist deshalb sein Lebenswerk zerstört?
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‘Für Jakobiner mag es genügen’
Missbrauch – Professor Georg May
“Vater der Transparenz” – Privatsekretär Gänswein im EWTN-Interview über Benedikt XVI.
Galater 1.6
Joseph Ratzinger hat im Missbrauchsskandal Fehler gemacht. Aber ist deshalb sein Lebenswerk zerstört?
Joseph Ratzinger gilt als einer der bedeutendsten Intellektuellen unserer Zeit. Er ist mit seinen Millionenauflagen der meistgelesene Theologe der Neuzeit. Seine Anhänger sehen in ihm den Kirchenlehrer der Moderne. Um 12 Uhr mittags des 20. Januar jedoch war er der Falschaussage überführt. Ein Papst, der lügt? Ein “Mitarbeiter der Wahrheit”, wie sein Bischofsmotto lautet, dem die Wahrheit schnuppe ist?
Es sei Zeit für die Wende in der Wahrnehmung des früheren Papstes, forderte die Theologin Doris Reisinger: “Wir wissen jetzt, dass Ratzinger bereit ist, öffentlich zu lügen, um sich seiner Verantwortung zu entledigen.” Für den Berliner “Tagesspiegel” ist Ratzinger “jetzt völlig diskreditiert”. Der Emeritus werde “sein Leben in Schande beschliessen”.
Nach seiner schriftlichen Einlassung gegenüber Anwälten im Gutachten über sexuellen Missbrauch im Erzbistum München und Freising, er sei bei einer bestimmten Sitzung nicht anwesend gewesen, musste Benedikt die Aussage zurückziehen. Sie sei “ein Irrtum” gewesen. Eine Steilvorlage für den Münsteraner Kirchenrechtler Thomas Schüller: Ratzinger sei endlich “der Unwahrheit überführt und demaskiert sich damit selbst als aktiver Vertuscher”.
Der Schaden ist gewaltig. Für die Opfer von Missbrauch, die sich verhöhnt fühlen. Für die Reputation der katholischen Kirche in Deutschland, die das Heer der flüchtenden Mitglieder kaum noch überblicken kann. Nicht zuletzt für die Anhänger der Linie Benedikts, die die Stärkung sogenannter Reformkräfte und damit eine weitere Abkehr von überlieferten Glaubensgrundsätzen befürchten müssen. “Vorübergehend verzweifelter Katholik”, schreibt der Verleger Bernhard Müller im aktuellen “Vatican- Magazin”, alles sei “verstrickt, vermengt, trüb”.
Der Absturz Joseph Ratzingers entschied sich, als drei Anwälte der Kanzlei Westpfahl Spilker Wastl ihr Gutachten der Presse präsentierten. In einem knapp 1900 Seiten umfassenden, in Kardinalrot gebundenen Dossier. Mit der Zahl von 497 Missbrauchsopfern, die sie für die Zeit zwischen 1945 und 2019 auflisteten, war die Zahl der Fälle geringer ausgefallen als erwartet. Von den 235 mutmasslichen Tätern im Bistum waren allerdings 173 Priester. Die Ankündigung eines 350 Seiten starken “Sondergutachtens” für lediglich fünf der insgesamt 74 Jahre des Untersuchungszeitraums signalisierte, wen die Anwälte ins Visier nehmen wollten: Joseph Ratzinger, Amtszeit 1977 bis 1982. Alle anderen Fälle mitsamt der damit verbundenen Opfer traten in den Hintergrund. Der Schuldspruch: Fehlverhalten in vier Fällen. Nicht genug. Der ehemalige Bischof wird auch der Falschaussage beschuldigt. Entgegen seiner Einlassung sei er an der Sitzung des Münchner Ordinariatsrates am 15. Januar 1980, in dem es um den Fall des Priesters Peter H. aus Essen ging, anwesend gewesen.
Dass der Prüfbericht der Anwälte eine mediale Lawine auslösen würde, war keine Überraschung. Als Protagonist des traditionellen Katholizismus ist Ratzinger seit der Zeit des Konzils, das er massgeblich prägte, neben Johannes Paul II. der am meisten angegriffene Kirchenführer. Oft genügten Bagatellen, um ihm Skandale vorzuwerfen. Der bislang grösste Angriff erfolgte im Zusammenhang mit der schismatischen Piusbruderschaft 2009, als dem deutschen Papst vorgehalten wurde, er wolle bewusst einen HolocaustLeugner der Piusbrüder wieder zum Bischof machen. Nichts daran entsprach den Fakten, die Affäre aber genügte, die weltweite “Benedetto”Begeisterung abzuwürgen und dem Pontifikat Benedikts einen entscheidenden Schaden zuzufügen.
Schweres Fehlverhalten eines Pontifex?
Bereits im Vorfeld der Pressekonferenz erschienen seitenlange Medienbeiträge, gespickt mit durchgesteckten Informationen, die Ratzinger Vertuschung von Missbrauch in seinem früheren Bistum unterstellten. Vor allem der Fall des Priesters Peter H. kam zum Tragen, der bereits 1986 und 2010 durch die Medien ging. Mit Blick auf einen Papst, mit dem erstmals in der Kirchengeschichte ein Pontifex des Fehlverhaltens in seiner Zeit als Erzbischof beschuldigt wird, bekam der Missbrauchsskandal eine neue Dimension. Erst recht, seit er der Falschaussage bezichtigt werden konnte. “Pädophile Priester in München”, titelte die italienische “Repubblica”, “Ratzinger deckte vier Fälle”. “Du sollst nicht lügen”, höhnte in Deutschland die für ihre strikte Wahrheitsliebe bekannte “Bild“”Zeitung. “Bild am Sonntag” markerte Ratzinger gleich noch als den “Hauptverantwortlichen”: “Wie ein Höllenhund verteidigt der heilige Mann die Institution Kirche und sich selbst. Und lügt und sündigt und windet sich.”
Katholische Bischöfe und Funktionäre, die sich zuvor verkrochen, um nicht in Gefahr zu geraten, ein Wort für ihren Ex Papst einlegen zu müssen, drückten ihre Abscheu aus. Georg Bätzing, Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz, erkannte ein “desaströses Verhalten”. Bischof Helmut Dieser aus Aachen forderte ein öffentliches Schuldeingeständnis. Der Jesuitenpater und Kinderschutzexperte Hans Zollner hielt eine “Neubewertung des Pontifikats des emeritierten Papstes notwendig”. Zuvor hatte er als Mitglied der Päpstlichen Kommission für den Schutz der Minderjährigen noch bekundet, Benedikt XVI. sei für ihn “ein Held, der den Missbrauch bekämpfte und alles Menschenmögliche tat, um Missbräuche in der Zukunft zu verhindern”.
Was ist Fakt im “BenediktBeben”? Darf man den emeritierten Papst noch verteidigen? Oder muss man es sogar, weil es im medialen Overkill vorwiegend um das Abschiessen geht, mit einem Mix aus Wahrem, Verlogenem und einer starken Prise Boshaftigkeit? Weil mit dem Beharren auf Standards, die zur Zeit des Geschehens noch in weiter Ferne lagen, Geschichtsschreibung zu einem blossen Moralismus degeneriert, der die Werte einer rechtsstaatlichen Gesellschaft gefährdet? Willy Brandts Zuarbeit für den US
Militärgeheimdienst CIC zwischen 1948 und 1952 etwa sieht ohne Blick auf die historische Situation nach Spionage aus, was es nicht war.
Allerorten werden Denkmäler gestürzt, Geschichtsbücher “entkernt”, wird Sprache umgebaut. Das Mass an echter oder vermeintlicher Verfehlung, das noch geduldet wird, um nicht sofort den Bannfluch über eine Person zu verhängen, schrumpft rapide. Darf Richard Wagner heute noch gespielt werden angesichts seiner antisemitischen Haltung? Muss man die evangelische Kirche zwangsauflösen, weil sie sich auf Martin Luther gründet, einen fürchterlichen Judenhasser? Ist das Werk Martin Heideggers kontaminiert, weil der Philosoph früh der HitlerPartei beitrat (aber sich davon trennte, als ihm der Fehler klar wurde)?
“Darf man den emeritierten Papst noch verteidigen? Oder muss man es sogar?”
Ratzinger trug als Bischof von München Sorge für fast zwei Millionen Katholiken. Er hatte die Verantwortung für rund 750 Pfarreien, 1000 Priester und Diakone, Tausende von Mitarbeitern, 20 kirchliche Schulen, 1400 soziale Einrichtungen, unzählige Vereine und Gremien, von Kolping bis zum Frauenbund. Er war Vorsitzender der Bayerischen Bischofskonferenz, der Glaubenskommission der deutschen Bischöfe. Im Vatikan gehörte er der internationalen Theologenkommission, der Glaubenskongregation, dem Einheitssekretariat und dem Rat der Bischofssynode an. In der Regel waren jährlich etwa 30 Tage alleine für Reisen nach Italien zu reservieren. Hinzu kamen die Vollversammlungen der deutschen und der bayerischen Bischöfe, die Treffen des Ständigen Rats der Bischofskonferenz, die Kommissionssitzungen, die Treffen mit den Dekanen des Bistums, dem Priester und Diözesanrat, die wöchentlichen Sitzungen im Ordinariat, die Treffen mit Diakonen, Pastoral und Gemeindereferenten, mit Ordensoberen, Autoren der Zeitschrift “Communio”, die er mit herausgab, Vorträge bei Sozialvereinen und Symposien, Jubiläumsfeiern in Akademien. Verwaltungsdinge habe er gerne anderen überlassen, merkte sein damaliger Generalvikar an, zur Chefsache erklärt habe er hingegen alle Fragen, die die Lehre und Glaubensvermittlung betrafen.
Ratzinger wird “Fehlverhalten” in vier Fällen zur Last gelegt, darunter im Fall des erwähnten Essener Priesters Peter H. Er habe “mit hoher Wahrscheinlichkeit”, so die vom Erzbistum München beauftragten Gutachter, dabei Missbrauchstäter wissentlich in der Seelsorge eingesetzt. Benedikt erklärte in seiner Einlassung gegenüber der Anwaltskanzlei, er habe von den Fällen “keine Kenntnis” gehabt. Auch über die Vorgeschichte des Peter H. sei er nicht informiert gewesen. Tatsächlich bestätigt das Protokoll der Ordinariatssitzung vom 15. Januar 1980 das Gesuch des Personalreferenten der Diözese Essen, den damals 33 Jahre alten Kaplan “für einige Zeit”, wie es wörtlich heisst, aufzunehmen und ihm “Wohnung und Unterkunft bei einem Pfarrer in einer Münchner Pfarrgemeinde” zu gewähren. Grund: Der Kaplan werde sich “einer psychischtherapeutischen Behandlung unterziehen”. “Dem Gesuch wird zugestimmt”, schliesst das Protokoll. Zuständig für Peter H. blieb weiterhin sein Heimatbistum Essen.
Es war nicht ausschlaggebend, ob Ratzinger an der inkriminierten Sitzung teilgenommen hat oder nicht. Er war Bischof. Er stand in einer Letztverantwortung, auch wenn er, wie sich Kardinal Marx in den ihm zur Last gelegten Fällen verteidigte, “als Erzbischof nicht in die operative Sachbearbeitung eingebunden” war. Warum also hatte er in seiner schriftlichen Erklärung gegenüber der Kanzlei ausgesagt, bei der Sitzung als abwesend geführt worden zu sein? Von den 82 Seiten der Befragung sind 50 mit Fragen und Textvorlagen der Gutachter gefüllt. Aber wenn schon diese Anwälte Benedikt nicht auf seinen Irrtum aufmerksam machten, was bei einem 94-Jährigen geboten gewesen wäre, warum dann nicht die vom Vatikan hinzugezogenen Juristen, die seine Antworten mitformulierten und redigierten?
Ratzinger hatte in der Vergangenheit immer wieder Problemlagen angesprochen und Verantwortung übernommen. Selbst für Dinge, für die er keine Schuld trug, wie etwa für das Desaster der Williamson-Affäre. Unvergesslich seine Meditation des Kreuzweges im März 2005: “Wie viel Schmutz gibt es in der Kirche”, rief er aus, “und gerade auch unter denen, die im Priestertum ihm ganz zugehören sollten?”
Als Papst drückte er bei unterschiedlichsten Gelegenheiten seine Scham, sein Mitgefühl mit den Opfern sexuellen Missbrauchs durch Kleriker aus, bekannte die Schuld der Kirche. Keine grössere Reise, bei der er nicht darauf bestand, auch Missbrauchsopfer zu treffen. Im Februar 2010 klagte er die “abscheulichen Verbrechen” von Männern im Kirchendienst an. Anstelle eines wirksamen Umgangs mit sexuellen Missbräuchen seien jedoch “die Bischöfe nicht eingeschritten”, sondern hätten, um den öffentlichen Skandal zu vermeiden, Taten vertuscht und Täter gedeckt. Am 19. März 2010 schrieb er in einem Hirtenbrief an die Gläubigen in Irland: “Ihr habt schrecklich gelitten, und das tut mir aufrichtig leid. Ich weiss, dass nichts das von Euch Erlittene ungeschehen machen kann.” Im Namen der Kirche drücke er “offen die Scham und die Reue aus, die wir alle empfinden”.
Inzwischen hat der emeritierte Papst eingeräumt, sein Irrtum in Bezug auf die Ordinariatssitzung vom Januar 1980 sei auf einen Fehler bei der redaktionellen Arbeit zurückzuführen. Es sei keine Absicht gewesen und täte ihm sehr leid. Tatsächlich ist der Hintergrund für die Falschaussage so erschreckend, dass man ihn kaum erzählen möchte. Auch deshalb, weil er weitere Angriffe auslösen wird, Benedikt XVI. suche lediglich eine Ausflucht. Aber Wahrheit kann manchmal banal sein.
Recherchen ergeben, dass der greise Emeritus gegenüber seinem Stab erklärte, er habe wohl an der betreffenden Sitzung von vor gut 40 Jahren teilgenommen, könne sich aber nicht mehr genau daran erinnern. Sein Gedächtnis hatte ihn nicht getrogen. Seine Anwesenheit wird auch in meiner Papst-Biografie bestätigt. Benedikts Berater hätten sich informieren können. Stattdessen bewogen sie ihn zu einer Falschaussage: Nein, Papa Benedetto, erklärten sie, da waren Sie nicht dabei. Das Sitzungsprotokoll belege seine Abwesenheit. In Wirklichkeit spricht das Dokument jedoch von der “Abwesenheit von GV (Generalvikar) Dr. Gruber”. Ein Mitarbeiter hatte das Papier schlampig gelesen. Seine Aussage wurde nicht mehr gecheckt. Der fatale Irrtum war in der Welt. Als die Lüge des Papstes.
Es ist nicht der einzige Punkt, der den Dilettantismus in juristischen und medialen Fragen der vom Vatikan hinzugezogenen Berater Benedikts offenbart. Der Emeritus hat das Münchner Gutachten unterstützt. In seiner Antwort an die Anwälte betonte er einleitend, “jeder einzelne Fall eines sexuellen Übergriffs ist furchtbar und jeder fehlerhafte Umgang” damit “nicht wiedergutzumachen”. Er begrüsse die Untersuchung und wünsche den Aufklärern “im Interesse der Opfer und Betroffenen von Fällen sexuellen Missbrauchs … deren Schicksale mir sehr zu Herzen gehen, eine gute, lückenlose und erfolgreiche Aufarbeitung”.
“Der Hintergrund für die Falschaussage ist so erschreckend, dass man ihn kaum erzählen kann”
Ein Text für die Weltöffentlichkeit
Ganz offensichtlich war jedoch weder Benedikt noch seinem Stab klar, dass die Dimension des Falles die ganze Weltkirche betreffen würde. Dass es in der schriftlichen Einlassung vor allem nicht um juristische Spitzfindigkeiten gehen könne, etwa ab wann nach damaligem Kirchenrecht exhibitionistische Handlungen strafbar waren und wann nicht, wie die Juristen formulierten, sondern um einen Text, der auch an die Öffentlichkeit gehen würde und deshalb eine Botschaft enthalten müsse, die Scham, Mitgefühl mit den Opfern und Verantwortung für das eigene Versagen und das von Verantwortlichen der Kirche enthalten müsse. Auch wenn in den 80er Jahren noch gegolten hatte, Pädophilie sei durch entsprechende Therapien zu überwinden.
Es wäre ein Leichtes gewesen. Denn Ratzingers Kirchenbild hat mit einer “Überidentifizierung mit der Institution”, mit einem “einseitigen Kirchenbild” und der Vorstellung, “alles müsse nach aussen hin makellos sein”, wie ihm vorgehalten wird, wenig zu tun.
Mit dem heiligen Augustinus teilt er das Bild von der Kirche als einem Gebilde, “in dem immer auch Weizen und Unkraut gemeinsam wachsen”, der Sünder neben dem Heiligen existiere. Manchmal sei sie sogar so sehr “Kirche der Sünder”, schrieb Augustinus, dass man sich fragen könnte, ob es in ihr überhaupt noch einen einzigen Gerechten gibt. Früh kritisierte Ratzinger die Überinstitutionalisierung und Verweltlichung seiner Institution. Geisselte, dass sich hinter den teuren Fassaden zunehmend Glaubensleere und Untreue verbergen, was ihm bis heute die Feindschaft des katholischen Establishments in Deutschland eintrug. “Dieser Mann liest seiner Kirche die Leviten”, urteilte die “Süddeutsche Zeitung” über sein Interviewbuch “Salz der Erde”, “wie sie ihr seit Martin Luther nicht mehr gelesen worden sind”.
Hat der Papst aus den Versäumnissen und Fehlern der Vergangenheit nichts gelernt und nicht gehandelt, wie ihm Kritiker vorwerfen? Fachleute sind sich einig: Es war Ratzinger, der als Präfekt und Pontifex den Weg für die Aufklärung sexuellen Missbrauchs geebnet und dafür gesorgt hat, dass die Vergehen aufgeklärt und geahndet werden. Als Präfekt der Glaubenskongregation drängte er auf die Verschärfung des kirchlichen Strafrechts, um “vor allen Dingen auch schneller zugreifen zu können” und den Opferschutz zu stärken.
Er setzte durch, dass die Strafverfolgung auf die Glaubenskongregation überging. Der zuvor beauftragten Kleruskongregation warf er vor, nicht rasch und effizient aufgeklärt zu haben. Die Marschroute lautete: Nähe und Verständnis für die Opfer, Sanktionen gegen Bischöfe, die ihre Pflichten vernachlässigen, Reform der Priesterseminare, Zusammenarbeit mit der zivilen Justiz, null Toleranz gegenüber den Schuldigen.
Als Papst entliess er allein in den Jahren 2011 und 2012 384 Priester und hochgestellte Verantwortliche, darunter den irischen Bischof und ehemaligen Sekretär von drei Päpsten, John Magee. Bereits 2008 und 2009 waren 171 Geistliche suspendiert worden. Im Sommer 2010 liess Benedikt XVI. durch eine Reform des Motu proprio “Sacramentorum sanctitatis tutela” das kirchliche Verfahren im Umgang mit Missbrauch noch einmal verschärfen. Das “erste Interesse” müsse “den Opfern gelten”, erläuterte er im September 2010 gegenüber Journalisten: “Wie können wir Wiedergutmachung leisten, was können wir tun, um diesen Menschen zu helfen, das Trauma zu überwinden, das Leben wiederzufinden?
Sorge und Engagement für die Opfer ist die erste Priorität mit materieller, psychologischer, geistlicher Hilfe und Unterstützung.” Gleichsam müssten die Schuldigen “die gerechte Strafe finden”. Dritter Punkt sei “die Prävention in der Ausbildung und der Auswahl der Priesteramtskandidaten”.
Dass der deutsche Papst konsequent die NullToleranzLinie gegenüber jeglichen Missbrauchstätern verfolgte, bestätigte der italienische Enthüllungsjournalist Gianluigi Nuzzi: “Der Kampf Papst Benedikts XVI. gegen den Missbrauch war entschiedener und härter als der seines Nachfolgers.” Benedikt habe “den Mantel des Schweigens weggezogen und seine Kirche gezwungen, den Blick auf die Opfer zu richten”.
Nicht alle Massnahmen Ratzingers waren wirksam. Vieles wurde zu spät gesagt, manches nicht oft genug. “Für jeden, der unparteiisch ist”, befand der Erzbischof von Boston, Patrick O’Malley, sei jedoch immer klar gewesen: “Kardinal Ratzinger und der spätere Papst Benedikt hat sich der Aufgabe gewidmet, sexuellen Missbrauch in der Kirche auszumerzen und die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren.”
Es gibt für die Kirchen, für die katholische wie die evangelische, keinen anderen Weg als den der Aufklärung, der Sühne, der Prophylaxe, des Umbaus von miss brauchsfördernden Strukturen. Aber muss es nicht auch erlaubt sein, darauf hinzuweisen, dass sexueller Missbrauch ein gesamtgesellschaftliches Problem, ein allgemeines systemisches Versagen ist?
“Einer der Grossen unserer Zeit. Einer, der Fehler machte. Der aber auch mutig war”
Es gibt kein Menschenleben ohne innere und äussere Kämpfe, ohne Versagen. Niemand ist ohne Schuld. Auch ein Papst nicht. Wären unter Benedikts Vorgängern im Petrusdienst die ihnen vor dem Pontifikat anvertrauten Bistümer einer ähnlichen Durchleuchtung unterzogen worden – welcher Papst hätte ohne Fehl und Tadel bestehen können?
Die Geschichte entscheidet über Benedikt
Das Gutachten von München, so Kirchenrechtler Schüller, stelle eine historische Zäsur dar. Mit seiner Stellungnahme habe Ratzinger “sein Lebenswerk zerstört”. Ist das so? Ist Ratzinger ein Leben lang als Lügner und Betrüger aufgefallen? Ist er ein Rassist, ein Hassprediger, ein Antisemit? Hat er Kinder und Jugendliche missbraucht? Genügen vier in einem Anwaltsgutachten aufgelistete Fälle von mutmasslichem Fehlverhalten, einen Bannfluch auszusprechen? Müssen nun seine Bücher auf den Scheiterhaufen? Müssen Institute schliessen und Schulen sich umbenennen, die seinen Namen tragen? Müssen letztlich auch die Menschen geächtet werden, die an Ratzingers Werk und Sendung festhalten?
Das Leben des Joseph Ratzinger schrieb eine Jahrhundertbiografie. Es steht für das Werk eines der Grossen unserer Zeit, der Fehler machte, der aber auch mutig wie kein anderer gegen die Verwässerung und Verfälschung der Botschaft Jesu kämpfte, vor den Gefahren der Moderne warnte, Antworten gab und dabei ein Vermächtnis hinterliess, das für Kirche und Glauben im 21. Jahrhundert von unersetzlichem Wert ist.
Letztendlich muss die Geschichte darüber urteilen, welche Bedeutung Benedikt XVI. über den Tag hinaus zukommt. Ein Gutachten einiger Anwälte ist jedenfalls kein überzeugender Grund, den Stab über ihn zu brechen. Für Jakobiner mag es genügen. Sie halten ihre Guillotine gut geschmiert und zögern keine Sekunde. Für mich genügt es nicht.
Wie bemerkte der deutsche Aphoristiker Erwin Koch: “Wirklich freigebig ist der Mensch nur dann, wenn es um die Verteilung von Schuldzuweisungen geht.”
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