Sternstunden des Lesens **UPDATE

Trotz Apps und anderer digitaler Gimmicks

Höllensturz und Hoffnung*Das richtige Leben – Norbert Bolz
*Literatur/Musik/DVD (3269)
**Die göttliche Komödie

Trotz Apps und anderer digitaler Gimmicks – es geht doch nichts über ein gutes, anspruchsvolles Buch und ausreichend Zeit und Ruhe zum Lesen. Zum heutigen Welttag des Buches kann es deshalb nur eines geben: Ein klares Plädoyer für das Lesen. Von der Bibel bis Franz Kafka, von Goethe bis zu Hermann Hesse.

Die Tagespost, 22. April 2014, Von Björn Hayer

In seiner just erschienenen, zornigen Abrechnung mit der Gesellschaft der Gegenwart “Das richtige Leben” schreibt der Medien- und Kulturphilosoph Norbert Bolz: “Die Moderne hat sich unterhalb der Platonischen Höhle in einer zweiten Höhle eingerichtet. Das bedeutet aber, dass es nur noch einen einzigen philosophischen Weg gibt, nämlich den Aufstieg aus der Höhle der Moderne in die Höhle Platons.”

Fristen die Bewohner in der allegorischen Kaverne des antiken Denkers ein Dasein in Verblendung, zumal sie von der wahren Wirklichkeit ausserhalb ihrer urweltlichen Umgebung nur Schatten wahrnehmen, situiert Bolz den heutigen Menschen nochmals ein Geschoss tiefer. Dekadenz, Spasskultur und Übersättigung kennzeichnen den von Fernsehgeflimmer und technischem Gedudel umnebelten Zeitgenossen.

Um aus diesem sinnlosen Siechtum auszubrechen, ja zunächst einmal in die erste Höhle aufzusteigen, gelte es, so der in Berlin lehrende Bolz, die literarischen Klassiker wieder zu entdecken. Bildung müsse ihren heheren Traditionen gerecht werden. Nur so liesse sich die allgemeine Verdummung und Verflachung aufhalten. Obgleich der Ton des Kritikers von Schärfe und Polemik kaum zu übertreffen sein mag, liegt doch eine unbezweifelbare, basale Wahrheit in ihm: Die Lektüre eines Buches ist stets mehr als einfach Unterhaltung. Wer liest, wächst schon mit trivialen Texten ein wenig über sich hinaus. Denn der Geist ist grundsätzlich aktiv, indem er Schrift in Bilderwelten projiziert und so einen ganz individuellen Blick entwickelt. Zwar etabliert sich durch Gutenbergs Erfindung der Druckerpresse das geschriebene Medium im Laufe der Jahrhunderte mehr und mehr zum Massenerzeugnis, dennoch bleibt jedes einzelne Werk ein Unikat, weil sein Innenleben in jedem einzelnen Leser unterschiedlich reift. Wenn also schon einfache Literatur unsere Fantasie zu stimulieren vermag, was lehren uns dann erst Klassiker?

Zugegeben, die Moderne hat den Heros längst begraben. Dennoch fesseln die Irrfahrten des Odysseus oder der Mythos um Parzival, den Gralsritter, noch heute unverändert. Mag den einen die reine Abenteuerlust in ein vergessenes Zeitalter hineinziehen, suchen andere darin nach Sinnangeboten. Denn die Epen des Homer oder zeitlose Monumentalwerke wie “Das Nibelungenlied“ offenbaren sich als wahre Welterklärungswerke. Dass gerade am Beginn der Moderne, als die Entzauberung schon spürbar war, die Romantiker wie Novalis, Brentano oder Tieck sich verklärend dem Mittelalter zuwendeten, gibt das zeitlose Bedürfnis des Menschen nach Stoffen der Sinnstiftung und Ganzheitlichkeit zu erkennen. Entgegen der Anforderungen an lineare, streng dem Karriereweg verpflichtenden Biografien, wie sie die aktuelle Personalwirtschaft der heranwachsenden Beschäftigtengeneration abverlangt, zeugt die Odyssee von einem Leben als Labyrinth mit Irrungen und Wirrungen, Höhen und Tiefen, Licht und Schatten.

Solcherlei Standardwerke entpuppen sich auf paradoxe Weise sowohl als Refugien vor einer in Realismus und Sachlichkeit ergrauenden Wirklichkeit als auch als zeitlose Seismografen des Lebens. In der Literatur lernen wir das Hier und Heute und die Geschichte, wie es dazu kam, besser zu verstehen. Wir tauchen in einen Sog ein und sind doch hellwach. Manchmal reicht schon ein poetischer Schnappschuss, eine bestimmte Stimmung oder eine kleine Idee aus, um unsere Existenz vom einen Augenblick zum nächsten zu verändern. Wundervoll hält Rainer Maria Rilke einen solchen Moment in seinem Gedicht “Archaischer Torso Apollos”, basierend auf einer Beobachtung der besagten Skulptur im Louvre im Sommer 1908, fest. Beschreibt er in vier Quartetten die Formvollendung und den Glanz jenes Körpers von oben nach unten, so stolpert jeder Rezipient mit dem letzten Vers des Textes zunächst in Unverständnis. Lakonisch begreift das Lyrische auf einmal: “Du musst dein Leben ändern.” Wie und warum es exakt dieser eruptiven Erkenntnis gewahr wird, bleibt ein Rätsel. Vielmehr ist aber wesentlich, dass sich das Subjekt in Anschauung der Kunst zu überdenken sucht. Raffiniert wird dieses Beispiel vor allem durch die Projektion des Lesers. Er selbst hat wohl eher selten das genaue Bild von Rilkes Beschreibung im Kopf. Stattdessen schafft er sich seine eigene Vorstellung, wobei die bildende Kunst in die Literatur übersetzt wird und dort eine Erneuerung durch das Lesen eintreten kann.

Das geschriebene Wort ist dabei das Vehikel zur Transzendenz, auch in religiöser Hinsicht. Die Lektüre der Thora verspricht etwa, im Lesen der Buchstaben das Göttliche zu erfassen. Kafka hat diese Grundidee seinem gesamten sich an der überirdischen Obdachlosigkeit einer diesseitsversessenen Moderne abarbeitenden OEuvre, unterlegt. Verliert der Mensch die Orientierung, kann ihn Literatur zurückführen. Klugerweise beginnt Dantes “Die göttliche Komödie, die den Autor durch Höllenkreise, Abarten und Finsternis zuletzt ins Paradies führt, mit einer sinnbildlichen Lebenskrise: “Als unseres Lebens Mitte ich erklommen,/ Befand ich mich in einem dunklen Wald,/ da ich vom rechten Wege abgekommen bin.”

Auch die Bibel, das Buch der Bücher, berichtet von ähnlichen, sich abhanden zu kommen drohenden Schicksalen. Hiob verliert auf Satans Einwirken Haus und Familie, wird gar von Krankheit niedergestreckt. Nachdem der Gestrauchelte dennoch in Überzeugungskraft dem Übel und Leid der Welt entgegentritt und seine Treue zu Gott bewahrt, gebietet Letzterer ihm schliesslich noch die späte Erlösung. Und selbst Faust, der Tausendsassa mit seinem unstillbaren, empirischen Drang, verfällt in seinem Pakt mit Mephisto anfangs dem Reich der Lust und des Geldes, um doch nur im letztem Moment nach der helfenden Hand Gottes zu greifen. Das Dasein in Widerspruch und Einheit, Vergänglichkeit und neuem Werden, Sinn und Aporie – das lehrt der Kanon.

Wertevermittlung mag daher als ein unmittelbarer Kern der Literatur zu bezeichnen sein. In ihr liest sich die Sitte und Moral einer Epoche ab. Sie diagnostiziert die Gegenwart und Geschichte und skizziert auf Grundlage dessen zumeist trefflich, was die Zukunft bringen mag. Fontane, Storm und Hebbel zeichnen im 19. Jahrhundert ein Porträt einer Gesellschaft, die an ihrem engen Normkorsett zu ersticken droht. Der Naturalismus eines Gerhard Hauptmanns kreist um die sozialen Abgründe seiner Zeit. Kafkas engräumige Kartausenbücher zeugen von einem aufkommenden, abstrakten Schrecken. All diese Strömungen und Werke nehmen mehr oder weniger vorweg, woran das 20. Jahrhundert erkranken wird.

Quälen sich heutige Schüler mit eben jenen manch einem indes verstaubt und altbacken vorkommenden Meilensteinen herum, dann nicht zuletzt auch zu dem Zweck, die darin hörbaren Rufe nach Freiheit, Autonomie und Toleranz zu vernehmen. So mögen die Tafeln mit den Zehn Geboten, welche Moses aus der Hand Gottes erhält, der Beginn eines Literaturverständnisses sein, dem moralische Vernunft und das Bemühen um gesellschaftlichen Zusammenhalt eingeschrieben sind.

Dass, obwohl jeder für sich liest, in der Lektüre Gemeinschaft und transkulturelles Bewusstsein entsteht, beschreibt Hermann Hesse in poetischer Luzidität: “Je differenzierter, je feinfühliger wir zu lesen verstehen, desto mehr sehen wir jeden Gedanken und jede Dichtung in ihrer Einmaligkeit […] und zugleich glauben wir dennoch, immer deutlicher zu sehen, wie alle diese hunderttausend Stimmen der Völker nach demselben Ziele streben, unter anderem Namen dieselben Götter anrufen, dieselben Wünsche träumen, dieselben Leiden leiden. Aus dem tausendfältigen Gespinste unzähliger Sprachen und Bücher […] blickt in erleuchteten Augenblicken den Leser eine wunderlich erhabene und überwirkliche Chimäre an: das Angesicht des Menschen, aus tausend widersprechenden Zügen zur Einheit gezaubert.” Geschichten in sich aufzunehmen, verleiht damit immer ein Einsehen in das scheinbar Andere und Fremde.

Lesen heisst Völkerverständigung, heisst die Erzählungen aus anderen Regionen und Ländern in den eigenen Traditionen zu spiegeln, heisst immer auch, einen Dialog einzugehen. “Unser Ziel ist, einander zu erkennen und einer im anderen das zu sehen und ehren zu lernen, was er ist, des andern Gegenstück und Ergänzung”, so Hesse in “Narziss und Goldmund” (1930). Was diesem pathetischen Konzept innewohnt, lässt sich am besten mit dem Begriff der Empathie erfassen. Indem wir uns in Glück und Fatalität fiktiver Charaktere hineinversetzen, ermöglicht es uns der Autor, eine andere Perspektive einzunehmen. Wir beginnen, das Dasein mit neuen Facetten wahrzunehmen, verstehen, was es bedeutet, mal am oberen Ende der Gesellschaft oder einmal ganz unten zu stehen. Wir machen uns möglicherweise ein genaueres Bild von Einsamkeit, Lebensüberdruss oder einer Opferrolle. Nur weniges mag für die Entwicklung sogenannter sozialer Kompetenzen so bedeutend sein, wie mit Büchern aufzuwachsen.

Dass in den letzten Jahren berechtigte Klagen über eine Jugendgeneration oder gar einen Grossteil der Gesellschaft ohne Mitgefühl aufkommen, hängt nicht zuletzt mit mangelnder Bereitschaft, sich auf ein zeitintensives und wahrhaftiges Lesen einzulassen, zusammen. Entgegen aller finsteren Untergangsgesänge steht zwar inzwischen fest, dass derzeit – unter Einbeziehung des Netzes – vielleicht so viel wie nie zuvor gelesen wird. Doch die Rezeptionskultur hat sich tiefgreifend gewandelt. Vielen dient die Lektüre nur noch zur reinen Wissenskumulation. Kurse zu “Speed Reading“ versprechen, mit geringem Zeitaufwand viele Informationen aufzunehmen. Von Passion oder Versenkung in ein Werk ist kaum mehr die Rede, da die Aneignung von Texten mehr und mehr einer ökonomischen Logik unterliegt. Beschallt von Smartphones, Apps und sonstiger leuchtender Konsumverführungen googlen wir, wählen den schnellen und direkten Weg der Datenbeschaffung, anstatt uns auf Umwege im Stöbern einzulassen. Selbst in den grossen Bibliotheken ist ein Verlieren zwischen den Bücherregalen nicht mehr gefragt. Jeder greift zum Online-Katalog und macht zielgenau mittels der Signatur das jeweilige Suchobjekt ausfindig.

Dass einem Teil der Bevölkerung in beschleunigten Zeiten die Leidenschaft für die grosse Literatur und noch beängstigender einer Mehrheit der heutigen, jungen Cyber-Generation abhanden gekommen ist, liegt auch in der Krise der Geisteswissenschaften begründet. Zu sehr hat man sich in den letzten Dekaden akademischen Zirkeldiskussionen hingegeben. Politische und ethische Dimensionen aktueller wie auch klassischer Werke traten in öffentlichen Debatten kaum zutage. Philosophie und Literaturwissenschaft haben sich ihrer Legitimation wegen teils in die falsche Richtung gewandt, sind abstrakt und selbstbezüglich geworden und bei vielen mit dem Makel des Elitären und Lebensfernen bedacht. Fordert nun ein Norbert Bolz mit einer gehörigen Portion Tollkühnheit und Polemik eine geistige Wende ein, so braucht das Land der Dichter und Denker genau wieder solche Intellektuelle. Bei allen Vorbehalten bedarf es mehr kantiger Typen wie Günther Grass, Peter Handke, Elfriede Jelinek oder Juli Zeh, die mit provokativen Thesen unser Denken aus der Macht des geschriebenen Wortes heraus vitalisieren. Nur wo Lesen anstösst, wo es bisweilen schockiert, ja etwas in uns freisetzt oder uns gar zur entschiedenen Abwehr stimuliert, kann Literatur gedeihen. Dies muss nicht auf einen schlichten Realismus hinauslaufen, der uns allenthalben erklärt, wie unzulänglich und hoffnungslos unsere Gegenwart sein soll. Allen voran die sich zaghaft anbahnende religiöse wie utopische, mirakulöse wie magische Wende, protegiert von Autoren wie Joseph Roth, Sibylle Lewitscharoff oder Daniel Kehlmann, scheint sich wieder der gesellschaftlichen Aufgabe von Literatur und ihrer Gestaltungsmacht bewusst zu werden. Vielleicht werden uns deren Entwürfe noch ganz neue Einsichten über das Lesen vermitteln, von denen wir jetzt noch nichts ahnen. Bleibt der Mut jener ambitionierten, neuen Poeten erhalten, könnte uns schon in Kürze eine neue Sternstunde der Literatur erwarten, Sternstunden des Lesens. Nur eines müssen auch wir alle dafür tun:

Viel lesen!

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