Wegvergessenheit und die Erneuerung der Kirche
1. Juli 2020 Communio veritatis Journalistische Gastbeiträge
Gastbeitrag von Dr. Raphael E. Bexten
Die Erneuerung der Kirche vollzieht sich durch die Erneuerung ihrer Hirten. Hirten und Herde sind eins im mystischen Leib Christi. Die Erneuerung der Hirten wiederum hängt mit der Erneuerung der Herde zusammen. Es besteht also ein tiefer geheimnisvoller geistlicher Zusammenhang zwischen Hirten und Herde. Besonders die Hirten und mit ihnen auch die Herde leiden zur Zeit an einer ausgeprägten und tiefen Form der Wegvergessenheit. Diese ist letztendlich eine der Hauptursachen für viele Übel in Kirche und Gesellschaft. Was ist mit der Wegvergessenheit gemeint?
Wegvergessenheit ist ein Synonym für Gottvergessenheit, denn der Gottmensch Jesus Christus ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Er ist der einzige Weg zum Vater (Joh 14,6f.). Hirte und Herde leiden an einer Gottvergessenheit. „Wie jede Wahrheit mit dem Glaubenslicht erworben wird, so gerät man durch Unglaube in Lüge und Täuschungen.“[1] Neuevangelisierung und eine erfolgreiche Pastoral im Sinne des Evangeliums setzen eine Überwindung der Wegvergessenheit voraus. Doch hierzu fehlt, wie es scheint, bislang der Wille.[2]
Manfred Hauke macht uns in seinem aktuellen Artikel „Die Corona-Pandemie und die Frage nach Gott“ auf eine schwere Form der Wegvergessenheit von deutschen Hirten aufmerksam:
„Wer also grundsätzlich betont, wie anscheinend die deutschen Bischöfe Bätzing und Wilmer, dass „Gott nicht straft“, wendet sich gegen das offenkundige Zeugnis des Wortes Gottes, verkündet ein falsches Gottesbild und nimmt die Wirklichkeit der Sünde nicht ernst. Wer die Sünde leugnet, lehnt auch Christus ab, dessen Heilswerk darin besteht, uns von unseren Sünden zu erlösen und uns das ewige Heil zu schenken. „Gott straft nicht“: wer diese Behauptung zu Ende denkt, hat sich vom christlichen Glauben verabschiedet und ist zum Gnostiker geworden, der eine eigengestrickte Ideologie verkündet.“[3]
Die unendliche Liebe Gottes möchte nicht den Tod des Sünders, sondern sein Leben, das er durch seine Umkehr „in Selbsterkenntnis und Beichte“ erreichen kann. Bis zum Tod ist es also nie zu spät; dies gilt für Hirten und Herde gleichermassen. Wer als Wanderer und Pilger auf Erden den Weg zum Ziel vergessen hat, der irrt umher, ohne jemals ans Ziel kommen zu können. Analog verhält es sich mit der Gottvergessenheit. Ist das erste und wichtigste Gebot „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken“ (Mt 22,17) vergessen worden, ist auch alles andere hinfällig. Das heisst, ohne Gottesliebe kann auch der Mitmensch nicht vollkommen geliebt werden. Im Dialog mit Gottes Vorsehung antwortet Gottvater auf die Fragen der hl. Caterina bzgl. der „Erneuerung der Hirten“:
„Kein Amt kann weder nach weltlichem noch nach göttlichem Recht ohne die heilige Gerechtigkeit im Stande der Gnade ausgeübt werden, denn wer nicht gerügt wird und nicht rügt, ist wie ein Glied, an dem die Fäulnis angesetzt hat […] Gesetzt aber, das Glied verharrt eigensinnig im bösen Tun, dann wird er es aus der Gemeinschaft entfernen, damit es die anderen nicht mit der Fäulnis der Todsünde verseucht. Heutzutage verfährt man nicht so; die Hirten tun so, als sähen sie nichts. Weisst du warum? Weil die Wurzel der Eigensucht in ihnen lebendig ist, woraus Ihnen die verkehrte knechtische Furcht erwächst: Aus Angst, ihren Posten, die irdischen Besitztümer oder geistliche Würden zu verlieren, rügen sie nicht; sie verhalten sich wie Blinde und erkennen daher nicht, wie man seinen Amt versieht. Denn verstünden sie, dass man es kraft heiliger Gerechtigkeit versieht, so liessen sie diese nicht fahren. Da sie aber des wahren Lichtes beraubt sind, werden sie von der sinnlichen Leidenschaft und der Gier nach Herrschaft und geistlichen Würden irregeführt. […] Sie sind Blinde und Führer von Blinden, und wenn ein Blinder einen anderen Blinden führt, dann fallen beide in die Grube.“[4]
Der dreipersonale Gott ist doch allmächtig, da Er die unendliche Vollkommenheit und vollkommne Unendlichkeit ist, ist Er auch die unendliche Liebe. Wie kann Er es also zulassen, dass es so schlecht um Seinen mystischen Leib die Kirche steht, so könnte hier einwendend gefragt werden. Wenn es ferner keinen gibt, wie Gottvater der hl. Caterina mitteilt: „weder Gerechte noch Sünder, der nicht in meiner Vorsehung stünde, weil doch jegliches Ding von meiner Güte geschaffen wurde, ausser der Sünde, die nicht ist“,[5] wie kann dann der allmächtige Gott einen solchen Zustand seines mystischen Leibes zulassen? Aus demselben Grund, wie er auch die Kreuzigung seines Sohnes zugelassen hat, nämlich aus unendlicher Liebe zu uns Sündern.
Der scheinbare Sieg des Teufels, nämlich Jesu leibliche Vernichtung am Holz des Kreuzes, entpuppt sich als Erlösung des Menschengeschlechts von unendlichem Wert, als Sieg über Teufel, Sünde und Tod. Dem mystischen Leib Christi, ergeht es gemäss dem göttlichen Willen nicht anders — er erleidet, wie der Gottmensch vor 2000 Jahren den Kreuzestod, nicht blutig, sondern unblutig — eben den mystischen Kreuzestod. Was aber ist für die Kirche der mystische Kreuzestod? Hiervon spricht, so die These, Mt 24,15: Es steht „am heiligen Ort der Gräuel der Verwüstung“ (Mt 24,15) und Dan 11,31: Jemand „stellt Streitkräfte auf, die das Heiligtum auf der Burg entweihen, das tägliche Opfer abschaffen und den unheilvollen Gräuel aufstellen.“ Was genau ist hiermit gemeint?
Die Kreuzigung des mystischen Leibes Christi ist dann erreicht, so meine These, wenn sowohl die Zahl der wahren Glieder des Leibes Christi immer kleiner wird (Mt 24,22), obwohl die Zahl bzw. die vermeintliche Wirkung der formell kirchlichen Mitglieder nicht wirklich schrumpft; jedenfalls die Stellung der kirchlichen Würdenträger von Staat und Welt scheinbar in ihrer weltlichen bzw. medialen Bedeutung unvermindert ist. Als auch, und dies geht mit der eben dargelegten Entwicklung einher, das tägliche hl. Messopfer abgeschafft wird und an dessen Stelle ein „unheilvolles Gräuel“ aufgestellt wird. Hierbei handelt es sich, der These folgend, um eine in ihrer liturgischen Subsatz veränderte hl. Messe. In dieser hl. Messe kommt das Messopfer, die Transsubstantiation, also die Verwandlung von Brot und Wein durch die Wandlungsworte des Priesters, nicht mehr zustande. Bei einer solchen sakrilegischen Messe gibt es also keine unblutige Vergegenwärtigung des einen Kreuzesopfers Jesu Christi mehr, auch wenn diese, in veränderten Form simuliert wird. Nach katholischen Verständnis handelt es sich dabei um eine schwer sakrilegische Messsimulation, die aber als solche von den meisten formell kirchlichen Mitgliedern, so die These, nicht wahrgenommen werden wird.
Wenn wir wirklich gemeinsam nach Wegen aus der kirchlichen Wegvergessenheit suchen, so sollten wir die Frage stellen, wie es zu einer solchen negativen Entwicklung, die sich in ihren Vorboten schon jetzt abzeichnet, wird kommen können. Eine Antwort liefert Gottvater der hl. Caterina in dem Zitat oben. Da Hirten und Herde zu einem mystischen Leib gehören, besteht zwischen Ihnen eine geistliche Verbindung. Das heisst, eine Herde zu einer bestimmten Zeit hat nicht rein zufällig diese Hirten. Alles Geschehen auf Erden ereignet sich innerhalb der göttlichen Vorsehung, auch wenn Gott die Sünde nicht positiv will, sondern zulässt. Überdies stehen Hirten und Herde als Glieder eines Leibes miteinander in geistlicher Beziehung. Sie sollten füreinander dasein, besonders im Gebet und in der sich dem anderen hingebenden Proexistenz. Gott beruft und begnadigt die Hirten wie und wann er will, doch er lässt auch für Seine Herde schlechte und laue Hirten zu. Diese Hirten sind, obwohl er ihre Sünden, ihre Lauheit und die Verführung der vielen unsterblichen ihnen anvertrauten Seelen nicht will, ein Mittel im göttlichen Heilsplan, um einerseits die Spreu vom Weizen zu trennen und andererseits die guten Schafe zu prüfen, damit sie sich bewähren.
„[D]enn wir wissen: Bedrängnis bewirkt Geduld, Geduld aber Bewährung, Bewährung Hoffnung. Die Hoffnung aber lässt nicht zugrunde gehen; denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ (Röm 5,3-5)
Der dreifaltige Gott sorgt für jeden von uns unglaublich gut in seiner unendlich liebenden Vorsehung. Wir sollten noch heute anfangen, seine unendliche Liebe in seiner Vorsehung, in der wir uns geborgen wissen sollten und der wir uns nicht entziehen können, sehen zu lernen. Lernen wir dies, so können wir auch, was uns zustösst, scheinbar Positives oder auch scheinbar Negatives, wie Hiob, besser annehmen und Gottes Namen preisen, in guten wie in schlechten Tagen.
Was auch passieren mag, wie gross auch immer die Bedrängnis werden mag, es gibt keinen vernünftigen Grund, seinen katholischen Glauben aufzugeben und ihn durch einen Götzenglauben zu ersetzen. „Niemand kann zwei Herren dienen.“ (Mt 6,24) Und Gottvater spricht weiter zur hl. Caterina: „Das aber bedenken die Elenden, Untreuen und Hochfahrenden nicht, dass Ich es bin, der in allem vorsieht, was Leib und Seele brauchen, so dass im Mass als ihr auf Mich hofft, Meine Vorsehung euch zuteil wird.“[6]
Wie sich die scheinbare Vernichtung Jesu am Holz des Schandpfahls als unzerstörbarer letzter Sieg über Sünde, Tod und Teufel entpuppt hat, so wird sich auch die scheinbare Vernichtung des mystischen Leibes Christi durch die damit verbundene freiwillige Annahme der Leiden der noch verbleibenden Glieder des Leibes Christi als Höhepunkt der subjektiven Erlösung entpuppen und viel dazu beisteuern, „was an den Leiden Christi noch fehlt“ (Kol 1,24). Nach der Kreuzigung des mystischen Leibes Christi steht dieser, durch Marias Hand vermittelt, glorreich auf. In Jesu Christi sühnendem Liebestod am Holz des Kreuzes hat das Gute ein für alle Mal gesiegt. Der ewige Sieg des Guten über alles Böse ist also absolut gewiss, auch wenn er sich in unserer Lebenswirklichkeit phänomenal noch nicht, oder noch nicht vollkommen zeigt.
Was also können wir tun? Wie finden wir einen Weg aus unserer Wegvergessenheit heraus hin zu Erneuerung der Kirche? Die Kraft und den Weg hierzu können wir nicht aus uns selbst heraus finden. Nur durch den nährenden Saft des Rebstocks, des einen wahren Rebstocks, können wir die Kirche erneuern. Was also können wir tun? Jesus gibt uns auf diese Frage eine klare Antwort, die auch ein überzeitlich gültiger Massstab für Hirte und Herde ist: „Wer meine Gebote hat und sie hält, der ist es, der mich liebt; wer mich aber liebt, wird von meinem Vater geliebt werden und auch ich werde ihn lieben und mich ihm offenbaren“ (Joh 14,21). Durch jede Form der Wegvergessenheit, also durch das Vergessen des Gottmenschen Jesus Christus in Tat und Wahrheit und damit auch in der Lebenswirklichkeit der Kirche, mit anderen Worten aufgrund unserer Gottvergessenheit, können die beiden Gebote, auf denen das ganze Gesetz und die Propheten beruhen, nicht mehr erfüllt werden. „[U]nd ohne diese beiden kann kein anderes Gebot mehr erfüllt werden.“[7] Wir sind also dazu berufen, Jesus, unseren Gott, über alles zu lieben und Ihn in Tat und Wahrheit anzubeten. ER ist „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6)
„Ubi amor ibi oculus.“ Wo Liebe ist, dort ist Auge. Dieser Ausspruch Richard von St. Viktors umreisst einen Wesenszug der Liebe. Er zeigt uns den Weg aus der Wegvergessenheit hin zur Erneuerung der Kirche. Es fehlt uns an glühender Gottesliebe! Antworten wir also, solange wir noch können, auf Gottes unendliche Liebe zu uns: Uns gibt es, weil Gott die unendliche Liebe ist. Gott hat jeden Menschen seit Ewigkeit erdacht und gewollt. Jedes menschliche Leben, auch das ungeborene und das ergraute, ist von unendlicher Kostbarkeit, besitzt eine unverlierbare ontologische Würde. Gott, der die unendliche Liebe ist, hat uns erschaffen, uns eine geistige Seele mit Wille, Verstand und Gedächtnis geschenkt. Er hat uns in seinem Bild geschaffen und erhält uns jeden Augenblick unseres Daseins im Sein. Wir sind, als eigenständige menschliche Personen mit Vernunft und freiem Willen ein einmaliger, unwiederholbarer Ausdruck seiner Liebe.
Gott hat uns, indem er uns einen freien Willen schenkte, zur Liebe berufen. Liebe verlangt nach Gegenliebe, oder besser gesagt: „Euer Stoff ist die Liebe, denn Ich schuf euch aus Liebe, und darum könnt ihr ohne Liebe nicht leben.“[8] So einfach kann unser Lebensauftrag zusammengefasst werden. Das Ziel des Lebens kann im Eifer des Alltags leicht aus den Augen verloren werden. Aus den Augen — aus dem Sinn — wir tragen die Schwachheit in uns. Dasselbe gilt von uns als Glieder des mystischen Leibes Christi. Seien wir nun Schaf oder Hirten. Wir sind nur Staub und zum Staub werden wir zurückkehren.
In der Taufe sind wir als Christen neugeboren worden und Gotteskinder geworden. Gott wohnt im Herzen derjenigen, die im Stande der Gnade sind – Ihn durch keine schwere Sünden beleidigt haben bzw. in der hl. Beichte von Gott die Verzeihung ihrer Sünden erlangt haben.
„Wer mich liebt und mein Wort hält, dem werde ich mich offenbaren, und er wird eins sein mit mir und ich mit ihm.“ (Joh 14, 23)
Um diese Realität weiss der Glaubende. Sie ist etwas ungeheuerlich Grosses und gleichzeitig ein Geheimnis, das sich unseren Alltagsaugen entzieht. „Ubi amor ibi oculus.“ Joh 14, 23 ist Auftrag und Verheissung zugleich. Die unendliche Vollkommenheit und vollkommene Unendlichkeit, die der dreifaltige Gott ist, möchte in uns wohnen. Der Christ kann also durch die Selbsterkenntnis zur grösseren Gotteserkenntnis und Gottesliebe gelangen. Dies ist der Weg zur Erneuerung der Kirche, der bei mir selbst anfängt, indem ich durch Gottes Gnade meiner Taufberufung entspreche und so ein wahres Glied des Leibes Christi bin / werde und bleibe. Dann werden wir in der glühenden Gottesliebe in Tat und Wahrheit eins sein mit Gott und Gott mit uns.[9]
[1] Caterina von Siena. Gespräch von Gottes Vorsehung, Einsiedeln 1985. S. 57. Im Zitat ist die Rede von dem Unglauben der Getauften.
[2] Der Synodale Weg ist, so zeichnet sich ab, ein Weg in die noch tiefere Wegvergessenheit und nicht aus ihr heraus. Vgl. Der Synodale Weg abwärts von Communio veritatis
[3] Manfred Hauke „Die Corona-Pandemie und die Frage nach Gott“ Theologisches 50.5/6 (2020): 219.
[4] Caterina von Siena. Gespräch von Gottes Vorsehung, Einsiedeln 1985. S. 155-156.
[5] Ebd. S. 189.
[6] Ebd. S. 157.
[7] Ebd. S. 67.
[8] Ebd. S. 143.
[9] Vgl. Joh 14, 23
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