Unser Sonntag: Höre Israel

Im Evangelium dieses Sonntags will ein Pharisäer Jesus versuchen und seine mangelnden Schriftkenntnisse entlarven

Quelle
Unser Sonntag: Gib Gott, was Gott gehört

Im Evangelium dieses Sonntags will ein Pharisäer Jesus versuchen und seine mangelnden Schriftkenntnisse entlarven. Doch Jesu Antwort ist umfassend und er zitiert Gebote aus der Heiligen Schrift. Uns macht Pater Buholzer deutlich, dass wir uns zuallererst Gott in Liebe öffnen müssen, dann aber auch dem Nächsten.

Pater Josef Buholzer

Mt 22,34-40

Im heutigen Evangelium versuchen es die Pharisäer nochmals, Jesus zum Schweigen zu bringen. Die Pharisäer waren eine Art eifrige ‚Bibelexperten‘, die die Schrift und Tradition streng befolgten und auch versuchten, sie in die Reichweite der einfachen Menschen zu bringen, indem sie die Gebote praktisch und in allen möglichen Einzelheiten und Aspekten auslegten. In der Absicht, sie richtig und präzise zu interpretieren, wurden die ZEHN GEBOTE in 248 Gebote und 365 Verbote für die verschiedenen Bereiche des Lebens entfaltet. Also 613 Lebensregeln, die sagen, wie wir mit Gott und miteinander umgehen sollen… Du musst und: Du darfst nicht…

Wir können uns vorstellen, dass die Ausübung des Glaubens so zu einer komplizierten Angelegenheit wurde und wo man vor lauter Geboten Gott fast nicht mehr sah… Und so gab es auch Schriftgelehrte, die versuchten, es zu vereinfachen und diese Komplexität in einigen Grundregeln zusammenzufassen. Hillel ist vielleicht der bekannteste mit diesem Satz: Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem Anderen zu!…

Jesu Antwort ist präzise

Beim Pharisäer, der heute zu Jesus kommt, geht es aber nicht darum, offen und aufrichtig mit Jesus zu diskutieren, sondern er „wollte ihn versuchen“ und den versammelten Leuten zeigen, wie wenig Schriftkenntnisse Jesus hat. – Denn Jesus hat weder die heilige Schrift noch die Traditionen eingehend und speziell studiert. Und so will der Pharisäer wahrscheinlich Jesus, einen einfachen Galiläer, in Verwirrung bringen und so seinem öffentlichen Auftreten im Tempelvorhof ein Ende setzen …. Aber zu unserer Überraschung stellen wir im Evangelium fest, dass Jesus gar nicht verlegen ist. Seine Antwort ist präzise.

„Meister, welches Gebot im Gesetz ist das wichtigste?“ Darauf antwortet Jesus ohne langes Zögern: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit deinem ganzen Denken. Das ist das wichtigste und erste Gebot. Ebenso wichtig ist das zweite: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“

Zunächst ist zu bemerken, dass Jesus, entgegen der Erwartung des Fragestellers, nicht nur ein Gebot zitiert, sondern gleich ein zweites daran anschliesst. Es gibt also nicht nur eines, das sehr wichtig ist, sondern noch ein anderes. – Fragen wir uns zuerst: Wo findet Jesus seine Antwort? Ja, beides sind Zitate aus der Hl Schrift. Schriftstellen, die wahrscheinlich Jesus besonders wertvoll geworden sind und die dem entsprechen, was er innerlich lebt und spürt. Sie entsprechen Jesu innerer Ausrichtung. Sie sind gleichsam die Koordinaten seines Lebens und seiner Sendung. – Seine Antwort fasst er zunächst in einem Wort zusammen: Lieben; mit ganzem Herzen und ganzer Seele lieben … Du sollst lieben – LIEBEN … Dies ist die Grundhaltung Jesu: also nicht in sich selbst zurückziehen und herumgrübeln, sondern: sich öffnen. Liebe ist wichtig: es ist eine positive Öffnung über sich hinaus. Jesus ist also nicht eine Art abstrakter Aszetiker… in sich zurückgezogen, in der Einsamkeit.

Gott hat Vorrang über allem

Und diese Liebe hat für Jesus zwei Ausrichtungen: eine vertikale und eine horizontale – gleichsam in der Form eines Kreuzes.

Ja, zuallererst sich Gott in Liebe öffnen; ihn lieben mit ganzem Herzen und ganzer Seele; Jesus zitiert hier ein Gebet, dass jeder Jude morgens und abends betet – auch heute noch: das „Schema Jisrael“ – „Höre Israel…, Du sollst Gott lieben, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all Deiner Kraft“ (Deut 6,4). Ein Gebet, das Jesus sicher mit besonderer Tiefe gebetet und gelebt hat. Denn diese Beziehung mit Gott dem Vater hat für ihn einen ganz besonderen und innigen Charakter. Er lebt sie in der Tiefe seines Herzens: Vater – Sohn. Von ihm empfängt sich der Sohn immer wieder neu. – Dies ist die erste treibende Kraft oder Motivation in Jesus; seine erste Antwort also… Gott hat Vorrang über allem: ihn sollst du lieben mit all deinen Kräften. Gott lieben – die vertikale Ausrichtung!

Jesus fügt hinzu: „Ebenso wichtig ist das zweite…“ Die andere, die horizontale Orientierung ist nun die Liebe zu den Menschen. Hier zitiert Jesus wiederum einen wichtigen Satz, dieses Mal aus dem Leviticus (19,18): „Du sollst den Nächsten lieben wie dich selbst“. Ja, Jesus liebt die Menschen auf eine einmalige Art. Zu ihnen gesandt, geht er zu ihnen, kehrt bei ihnen ein, begegnet ihnen unterwegs. Er ist also ständig auf dem Weg zu ihnen und lässt sich niemals zurückhalten, wenn Leute wollen, dass er doch in ihrem Dorf bleiben solle… Auch den andern muss er seine Frohbotschaft bringen… Dies ist die zweite Stärke in Jesus: Liebe. Liebe zur Menschheit, Liebe für alle Menschen: seien sie gute Menschen, seien sie verachtet, krank, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft, Sünder, Nichtjuden/Goyim… Es ist nicht einfach eine allgemeine oder generelle Liebe, sondern Liebe für jeden Menschen, dem er begegnet oder der abwesend ist. Eine Liebe, die hinsieht, die sich hinsetzt und hinhört; die verzeiht, die heilt und neue Kraft gibt.

Diese zweifache Antwort, die Jesus dem Pharisäer gibt, ist also dem Wortlaut nach nicht etwas Neues; aber Jesus bindet sie gleichsam zusammen, verbindet sie – die Vertikale und die Horizontale – in eine Art Kreuzform. Diese Antwort ist für Jesus nicht einfache Theorie, sondern sie entspricht ganz seinem Herzen; dem, was er lebt und in der Tiefe spürt und empfindet; was ihn motiviert and antreibt.

Ausrichtungen der Liebe

Und diese zweifache Hauptausrichtung der Liebe, die Vertikale zu Gott und die Horizontale zu den Mitmenschen, soll auch die seiner Jünger und Anhänger sein; also auch unsere: Du sollst den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von ganzem Verstand lieben. – Und liebe deinen Nächsten wie dich selbst….

Und da können wir uns nun fragen:

● Was ist die treibende Kraft in meinem alltäglichen Leben, in meinem Leben in der Familie und in der Gemeinschaft, in meinem geistlichen Leben? Ist es Willenskraft, Pflichtbewusstsein? … oder ist es Liebe?

● Habe ich in mir ein Glaubensgefühl für den lebendigen, persönlichen Gott, der mich/der uns trägt und mich begleitet in Christus und dem Geist; der zu mir spricht? Und ist so meine religiöse Praxis eine Antwort auf diese Liebe, und wird selber Liebe?

● Gelingt es mir, wenn ich Menschen sehe, die Denkkategorien von „Sympathisch und Unsympatisch“ zu überschreiten und aufzulösen, und im Nächsten einen Mensch zu sehen, der – wie ich – auch von Gott geliebt ist?

● Kann ich die Kategorien von „Die dort, die Fremden“ und „Wir hier“ überschreiten und mich an ‚Fremden‘ interessieren, von denen die Massenmedien berichten oder denen ich auf der Strasse begegne? – Sie sind Menschen wie ich, geliebt von Gott… und auch geliebt von mir?

Im Buch des Exodus lesen wir:
„So spricht der Herr: einen Fremden sollst du nicht ausnützen oder ausbeuten, denn ihr selbst seid einmal … Fremde gewesen… Wenn er zu mir schreit, höre ich es, denn ich habe Mitleid“ (Ex 22,20.26b).

radio vatikan – claudia kaminski, 24. Oktober 2020

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