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Türkei: Bei der Hagia Sophia geht es um Nationalismus

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Mittwoch, 22. Juli 2020

Türkei: Bei der Hagia Sophia geht es um Nationalismus

Am 10. Juli kündigte Präsident Erdogan in einer Rede an die Nation an, dass die ehemalige Basilika der Hagia Sophia, die zum UNESCO-Weltkulturerbe gehört, am 24. Juli 2020 wieder für muslimische Gottesdienste geöffnet werden soll. Er hob hervor, dass die Umwandlung des monumentalen Komplexes in eine Moschee „ein Hoheitsrecht“ der Türkei sei. Der türkische Staatsrat, der auf Erdogans Wunsch hin in dieser Frage entscheiden sollte, hob das Dekret des damaligen Präsidenten Mustafa Kemal (Atatürk) vom 24. November 1934 tatsächlich auf. Letzterer hatte die Hagia Sophia, die nach der Eroberung von Konstantinopel durch die Osmanen (1453) zur Moschee geworden war, in ein Museum umgewandelt.

Das internationale päpstliche Hilfswerk «Kirche in Not (ACN)» sprach wieder mit Etienne Copeaux, der sich als Historiker mit der zeitgenössischen Türkei befasst, um mit ihm der Frage nachzugehen, was hinter der jüngsten Entscheidung steht. Der frühere Mitarbeiter des Französischen Instituts für Anatolische Studien (Institut Français d’Études Anatoliennes) in Istanbul und ehemalige Forscher am Nationalen Zentrum für wissenschaftliche Forschung CNRS (Centre National de la Recherche Scientifique) betreibt den Susam-Sosak-Blog, der ausschliesslich der Türkei gewidmet ist. Das Interview führte Christophe Lafontaine.

1) Würden Sie sagen, dass Erdogan, indem er die alte christliche Basilika der Hagia Sophia, die seit 1934 ein Museum gewesen ist, wieder in eine Moschee umwandelt, einen schon lange bestehenden Prozess besiegelt?

Der Prozess geht zurück auf die Zeit der Eroberung von Konstantinopel (1453), bekannt als „Fetih“, wörtlich „Öffnung für den Islam“. Der Eroberer, Sultan Mehmet II., hat den Beinamen Fatih, „der, der einen Gewinn für den Islam realisiert hat“. Um die Einnahme der Stadt und den Untergang des Byzantinischen Reiches durch eine Handlung zu „bezeugen“, begab sich Mehmet II. zur Hagia Sophia (türkisch Ayasofya), um dort zu beten. Das ist eine sehr wichtige Geste. Auf diese Weise wurde die Hagia Sophia für fast fünf Jahrhunderte zu einer Moschee. Darüber hinaus findet die Ayasofya auch in Aussprüchen Erwähnung, die Mohammed zugeschrieben werden (Hadith). Eines der Hadithe des Propheten verkündete, derjenige, der Konstantinopel einnähme, würde Ruhm erlangen, und tatsächlich rühmen sich die Türken, das getan zu haben, was den Arabern nicht gelungen ist. Zum anderen wird ihm in einer Legende eine Prophezeiung zugeschrieben, die man kennen sollte, um zu verstehen, welchen Wert muslimische Türken der Hagia Sophia zumessen: Ein Erdbeben brachte im Jahr 558 die Kuppel der Basilika zum Einsturz – ein Ereignis, das sich nach einer Legende, die Stéphane Yerasimos in seinem grundlegenden Werk wiedergibt, in der Nacht der Geburt Mohammeds zugetragen haben soll.* Mohammed soll dann den Kaiser von Byzanz im Traum besucht und ihn dazu ermächtigt haben, die Basilika wiederaufzubauen, „weil (…) seine Anhänger eines Tages dort beten werden“. Das Gebäude galt als besonders heilig bzw. wurde so sehr verehrt, dass die Anhänger des Islam zur Zeit des Osmanischen Reichs Wert darauf legten, die „Nacht der Bestimmung“ – jene heilige Nacht des Monats Ramadan, in der gefeiert wird, dass der Koran Mohammed offenbart wurde – in der Hagia Sophia zu verbringen.

2) Mit der Entsakralisierung der Moschee im Jahr 1934 durch Atatürk war also für türkische Muslime der kritische Wendepunkt erreicht?

Da die Hagia Sophia einen besonderen Platz im Herzen und im Glauben der türkischen Muslime einnimmt, kann man verstehen, was für ein Skandal die Entsakralisierung der Moschee und ihre Umwandlung in ein Museum durch Atatürk für sie war. Dieser Akt wird allgemein als Symbol des türkischen Säkularismus angesehen. Doch diese Einschätzung muss im Kontext der damaligen Situation stark abgemildert werden: Zu jener Zeit hatte die Türkei durch Völkermord, Massenvertreibungen und Pogrome die meisten Nichtmuslime vernichtet oder vertrieben. Diese ethnische Säuberung setzte sich 1955, 1964 und 1974 fort. Die Entsakralisierung löste unter den Muslimen unterdrückte Wut aus, gefolgt von einer Reaktion, die nach der fünften Hundertjahrfeier des Fetih – der Eroberung Konstantinopels – 1953 schliesslich offen zutage trat. Daraufhin wurden von reaktionären Parteien, sowohl von ultranationalistischen als auch von religiösen, regelmäßig Demonstrationen vor der Hagia Sophia organisiert, in denen sie als muslimische Gebetsstätte zurückgefordert wurde. Diese Forderung blieb in der Folgezeit immer weiter bestehen; es hörte nie auf. Bei der „Eroberung“ des Rathauses von Istanbul 1994, die Erdogan zum Bürgermeister der Stadt machte und ebenfalls als „fetih“ bezeichnet wird, sowie anlässlich des Sieges der islamistischen Partei Refah, der Erdogan angehörte, bei den Parlamentswahlen 1995 wurde den Wählern versprochen, die Ayasofya wieder dem Islam zurückzugeben. Dieses Versprechen ist nun erfüllt.

3) Wie viel hat die Entscheidung mit der Person Erdogans zu tun?

Natürlich ist eine „Handschrift“ Erdogans erkennbar. Denn dafür – wenn ich es mal so ausdrücken darf – war eine Dreistigkeit erforderlich, die keine frühere Macht oder Vorgänger hatte. Doch es ist zu bemerken, dass Erdogan die Rückgabe nicht auf dem Höhepunkt seiner Macht und Popularität eingefordert hat. Er ist in Schwierigkeiten. Die Islamisten haben das Istanbuler Rathaus verloren, die wirtschaftliche Lage ist katastrophal, die Kritiker Erdogans werden immer mehr und er ist nicht mehr in der Lage, sie durch Repression ganz zum Schweigen zu bringen. Mit diesem Schritt hofft er offensichtlich, die religiöse Rechte stärker um sich zu scharen. Die Kriegshandlungen der Türkei, die trotz der NATO-Mitgliedschaft des Landes eindeutig antiwestlich sind, bieten dafür einen günstigen Kontext. Die Rückgabe der Hagia Sophia an den Islam wäre in gewisser Weise das „Sahnehäubchen auf dem Kuchen“.

4) Ist die allgemeine Anspannung, die aus der Entscheidung Erdogans erwächst, in erster Linie religiös oder politisch?

Ich denke, wir sollten hier relativieren. Die Ayasofya war 500 Jahre lang eine Moschee. Sie ist von einer immensen – sowohl christlichen als auch muslimischen – Sakralität durchdrungen. Wenn wir sie weiterhin mit Respekt besuchen können, wie jede andere türkische Moschee, wenn die byzantinischen Mosaiken respektiert werden, warum dann so grossen Anstoss daran nehmen? Meiner Meinung nach ist das Problem kein religiöses, da der Koran und viele religiöse Schriften Jesus/Issa und Maria/Meryem verehren. Es ist ein politisches. Erdogan hat nicht um des muslimischen Glaubens willen gehandelt, sondern um den türkischen Nationalismus zufriedenzustellen. Die Ayasofya ist ein ein nationalistischer Streitgegenstand, da liegt das Problem. Denn diese Rückgabe ist aus kultureller Sicht unnötig: Die Menschen in Istanbul haben viel mehr Moscheen, als sie brauchen, oft sind sie riesig und prächtig.

5) Welche Botschaft sendet Erdogan den religiösen Minderheiten der Türkei und – direkter – den Christen? Denn es ist nicht das erste Mal in den letzten Jahren, dass Kirchen in Moscheen umgewandelt worden sind.

Auf religiöser Ebene war die wichtigste „Botschaft“, die die Türkei im 20. Jahrhundert der Welt sandte, die totale Zerstörung einer multiethnischen und multikonfessionellen Gesellschaft durch extreme Gewalt. Alle Massaker und Vertreibungen wurden nach rein religiösen Kriterien durchgeführt, im Dienste einer nationalistischen Politik. Zypern ist der letzte Fall, der Nordteil der Insel ist ein regelrechtes Labor dieses Prozesses: Bei der türkischen Intervention 1974 wurden alle Orthodoxen von einer Stunde zur anderen von der Armee vertrieben. Nicht weil sie Griechisch sprachen, sondern weil sie orthodox waren.
Eine solche Politik entspringt der osmanischen Mentalität, die Religionsgemeinschaften institutionalisiert hat. Ungeheuer paradox ist jedoch, dass sich das Reich trotz der Probleme und auch Massaker als multireligiöses Land behauptet hat, wohingegen die vermeintlich säkulare Republik die Türkei zu einem zu 99% muslimischen Land gemacht hat. Aus dieser Perspektive sage ich gewöhnlich, dass der Völkermord an den Armeniern, obwohl einige Jahre vor der Republik begangen, der Gründungsakt der Republik ist.

6) Wenn die universelle kulturelle und religiöse Bestimmung der Hagia Sophia missachtet wird, ist das dann als Angriff auf die Religionsfreiheit in der Türkei anzusehen?

Wie ich bereits sagte, ist die „Religionsfreiheit“ durch Gewalt zerstört worden. Aus der Sicht des türkischen Nationalismus ist „die türkische Nation muslimisch“, das heisst, man ist kein echter Türke, wenn man kein Muslim ist. Diese Denkweise wird von der „anderen Seite“ entsprechend aufgegriffen: Oft habe ich gehört, wie Juden oder Orthodoxe, Bürger der Republik Türkei, zu mir sagten: „Ich bin kein Türke“. Das ist ein grundlegendes Problem: Die nationalistische Türkei betrachtet Nichtmuslime als Ausländer; Nationalismus ist wirklich DAS Problem in diesem Land. Mitunter findet man es sogar schwarz auf weiß. Beispielsweise haben Kommissionen zur Vergabe von Ortsnamen bei mehreren Gelegenheiten Bezeichnungen griechischer, armenischer oder anderer Herkunft ersetzt, die als „ausländisch“ betrachtet werden. Armenier, Orthodoxe und Juden sind Ausländer in ihrem eigenen Land, wo sie schon lange vor den Türken lebten! In einem solchen Kontext besteht die Religionsfreiheit zwar formell auf dem Papier, doch die Einschüchterung – Zerstörung von Gräbern oder ganzer Friedhöfe, wie in Zypern, oder sogar Morde, wie mehrmals in Istanbul – ist so stark, dass sich Nichtmuslime bedeckt halten. Diese Haltung wird außerdem von den Priestern in ihren Predigten vertreten, wie ich während einer Ostermesse in Istanbul erlebt habe.

7) Glauben Sie an eine Schockwelle in der östlichen Welt auf der einen Seite und in der westlichen Welt auf der anderen?

Warum so viel Aufhebens um die Hagia Sophia, wo doch die türkischen Nationalisten im Umgang mit Nichtmuslimen schon immer gemacht haben, was sie wollten, ohne jeglichen Protest im Westen? Schauen Sie sich zum Beispiel die schrecklichen antiorthodoxen Pogrome in Istanbul im September 1955 an, gefolgt von der Vertreibung von 100.000 Bürgern griechischer Herkunft aus der Stadt, von Bürgern der Republik Türkei, die nach Griechenland ausreisen mussten – in ein Land, das sie gar nicht kannten, denn sie waren Nachkommen der ursprünglichen Bevölkerung der Stadt – und zwar mit nur „20 Dollar und 20 Kilo Gepäck“, alles andere wurde ihnen weggenommen. Wo sind denn die „Schockwellen“, die nicht durch Religion, sondern einfach durch Menschlichkeit hätten motiviert sein sollen? Sind solche Fakten – und ich spreche nicht einmal vom Völkermord an den Armeniern – nicht wichtiger als die Rückgabe der heiligen Sophia an den Islam?

(*) Stéphane Yerasimos: La Fondation de Constantinople et de Sainte-Sophie dans les Traditions Turques. Istanbul, Paris 1990.

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