Zeuge der Hoffnung

Quelle

Von Kardinal Gerhard Müller, 14. Mai 2020

Johannes Paul II. ist einer der ganz grossen Heiligen, und das zu unseren Lebzeiten, vor unseren Augen, als ein Mensch, der uns berührte und sich von uns berühren liess. Als Vorbild der Nachfolge Christi hat er unmittelbar überzeugt. Er war wirklich, wie George Weigel seine Biografie über ihn nannte, ein Zeuge der Hoffnung, und ein leuchtendes Beispiel für Kirche und Papsttum zu unserer Zeit.

Mehrmals war ich zur Teilnahme an seiner Morgenmesse eingeladen. Beim Mittagstisch später war ich immer fasziniert, wie er in den persönlichen Gesprächen durchdrungen war von seinem Interesse für die Themen der modernen Theologie und für die Situation der Kirche in Deutschland. Vor allem aber war er in seinem Denken und Sein ganz und gar von der Gegenwart Gottes und seiner Gnade durchdrungen.

Für Priester war er ein Vater und eine unermüdliche Quelle der Inspiration und Stärkung. Sein Priesterbild kam dabei ganz aus der Heiligen Schrift. Die Priester, ob Bischof oder Presbyter, stehen in der Nachfolge der Apostel. Das Volk Gottes lehren sie das Evangelium in der Vollmacht und Sendung Christi, heiligen es in der Gnade und leiten es als gute Hirten. Sie dienen dem Heil der Menschen nur, wenn sie all ihr Tun und Leiden nach dem Beispiel des Hohepriesters Jesus Christus ausrichten, dessen Diener sie sind.

Ihm war auch sehr wohl bewusst, dass das Versagen von Individuen nicht kollektiv einer ganzen Menschengruppe angelastet werden kann. Wie soll das nicht auch für den Priesterstand und die Seelsorger gelten, die doch geweiht, aber immer auch Menschen sind? Als Pole in der Zeit des Warschauer Pakts war Karol Wojtyla schmerzlich vertraut gemacht worden mit den Methoden totalitärer Regimes, die Hexenjagden und Schauprozesse veranstalteten gegen die “Kulaken”, die “Offiziere”, “die Ärzte”, wie etwa in den Moskauer Schauprozessen und gegen die polnischen Gefangenen als Klassenfeind, die in den Massakern von Katyn umkamen. Denn auch diese Exzesse wurden natürlich immer erklärt und begründet durch faktische Übergriffe einzelner Kulaken, Offiziere oder Ärzte. Das hätte Johannes Paul II sicher auch bei dem neuen Antiklerikalismus erkannt und benannt, wo nun selbst viele Hirten der Kirche das Versagen, die Sünden und gar die Verbrechen einzelner nicht individuell, und in persönlicher Verantwortung, sondern als “systemisch bedingt” sehen wollen. Destruktive Propaganda offen zu kritisieren hat Johannes Paul II. sich nie gescheut. Dafür wurden sogar Killer auf ihn angesetzt. Ali Agcas Attentat war Tatsache, keine Verschwörungstheorie. Johannes Paul war ungeheuer empfindlich gegen alle totalitären Versuchungen.

Darum stärkte und verteidigte er auch kompromisslos die christliche Familie und jedes ungeborene Leben seit seinem Anbeginn. Die “Zivilisation der Liebe” wird für immer mit seinem Namen verbunden bleiben als Bollwerk gegen alle Mächte einer Zivilisation des Todes, die er ebenso scharf wahrnahm wie die falschen Versprechen des sowjetischen Heilsplans. Er hat so viel vorausgesehen. Was würde er wohl uns und den zerstrittenen Bischöfen deshalb heute raten? Dazu brauchen wir nicht raten und rätseln, sondern müssen nur noch einmal seine wegweisenden Schriften lesen. Als wahrer Prophet Gottes rief er uns auf, dem Willen Gottes treu zu bleiben, weil uns das zum Heil gereicht. Im vierten Gebot heisst es, dass wir die Eltern ehren sollen, damit es uns gut geht und wir lange leben auf Erden. Es ist ja das einzige der zehn Gebote mit dieser Glücksverheissung als Belohnung, die Gott selbst denen verspricht, die es beherzigen und ernst nehmen. Das kennt die Bibel nicht einmal für das fünfte oder sechste Gebot! Die Eltern zu ehren wird hier gewissermassen zur Voraussetzung und Grundlage (als conditio sine qua non) der eigenen seelischen Gesundheit. Und wie könnten wir unsere Augen davor verschliessen, wie sehr sich die Praxen der Seelenärzte füllen, je weniger Geltung dem vierten Gebot beigemessen wird? Ferner nimmt dieses Gebot aber auch den Zusammenhang der Verantwortung für das Leben über viele Generationen hinweg im Blick. Dass Tiere einen artgemässen Lebensraum haben, darum kümmern sich viele mit grossem Einsatz. Aber noch mehr brauchen die Menschen die natürlichen Bedingungen der Familie, um leiblich, geistig, religiös, sozial, kulturell heranwachsen und reifen zu können.

In diesem Netzwerk der Generationen war für ihn die menschliche Sexualität ein Geschenk des Himmels. Ihm war bewusst, dass die Sexualität ohne persönliche Liebe so lebensbedrohlich für den Fortbestand der Menschheit ist wie eine Pandemie, wie er es auch in seiner epochalen “Theologie des Leibes” dargestellt hat. Die verheerende Pandemie der Pornoindustrie der digitalen Welt hat er schon geahnt und erkannt, ohne die Erkenntnisse und das statistische Zahlenmaterial, das uns heute zu dieser Seuche zur Verfügung steht.

Sein Menschenbild war ganz und gar biblisch und göttlich und himmlisch, mitten auf der Erde, die er kannte wie kaum ein zweiter seiner Generation in all ihren Schwächen und Versuchungen. Gott – davon war er durchdrungen – hat den Menschen in Leib und Seele als Mann und Frau erschaffen. ER hat ihre Liebe gesegnet und macht sie fruchtbar in den Kindern. Die Eltern dienen dem Heilsplan Gottes, der in seiner ewigen Vorsehung beschlossen hat, wie viele Menschen im Laufe der Geschichte geboren werden sollen, um so ein Netz der Generationen zu bilden. Es ist darum ein grosses Glück der Eltern zu wissen, dass sie nicht Sklaven eines animalischen Triebes sind, sondern als von Gott geliebte Personen durch ihre wechselseitige geistige und körperliche Liebe ihre Kinder als zu ewigen Heil erwählte Söhne und Töchter Gottes gezeugt, geboren, erzogen haben, um sie schliesslich als frohe Eltern ihrer eigenen Enkel zu sehen. Dies betrifft auch die geistliche Vaterschaft und Mutterschaft der Priester und Ordensleute im Verhältnis zu allen, die sie auf ihrem Weg zu Gott gefördert haben.

Die Kirche hat er nicht verändert und belebt und verjüngt und gestärkt durch eine permanente Strukturdebatte, sondern durch seine persönliche Heiligkeit. In ihm war der Satz Jesu gleichsam Fleisch geworden: “Marta, Marta, du sorgst dich um vieles, nur eines ist notwendig”.

Was liesse sich nicht noch alles aufzählen, was er vollbracht hat für die Überwindung der militärisch-politischen Blöcke, für das Verschwinden des Eisernen Vorhangs und für seine grundsätzlichen Impulse bei der schwierigen Suche nach der wahren Identität Europas, nachdem in dem alten Abendland die Grenzen gefallen sind, die christliche Seele aber noch nicht wiedergefunden wurde nach des Schaffung einer gemeinsamen Währung. Ein anderes kommt mir im Erinnern an ihn heute jedoch am stärksten in den Blick.

Dass er mit der Kraft seines Gebets jeden Menschen aufs tiefste beeindruckte, ist schon oft gesagt worden. Heute muss aber vielleicht noch einmal besonders daran erinnert werden, wie sehr die eucharistische Anbetung für diesen grossen Rosenkranzbeter die Mitte seiner Frömmigkeit war. Denn die Eucharistie ist nicht eine austauschbare Gottesdienstform unter anderen, sondern die einzige wahre Anbetung des Vaters durch Christus am Kreuz im Heiligen Geist. Alle anderen Gebete haben in der Eucharistie ihre Mitte. Wie das Wasser aus einer Quelle sprudelt aus der heiligen Messe die Gnade Gottes hervor. Der heilige Papst lebte aus dem Bewusstsein, dass das kirchliche Gebot, an Sonn- und Feiertagen am eucharistischen Opfer teilzunehmen, nicht bloss menschlichen Rechtes ist, das die kirchliche Autorität aufheben könnte. Den Sabbat zu heiligen ist das dritte Gebot des Dekalogs. Es ist übergegangen auf den Sonntag, als den wahren Tag des Herrn, der sich an den Sabbat anschliesst, als Tag der Auferstehung Christi von den Toten und des Anfang der neuen Schöpfung mit unserer Taufe und der Eucharistie, der Speise für das ewige Leben. Darum hat Jesus uns das Gebot gegeben, am Sonntag, als dem ersten Tag unserer Wochen, sein Lebensopfer am Kreuz in der heiligen Messe zu seinem Gedächtnis zu feiern, “bis er wiederkommt”.

Deshalb sollten wir heute nicht nur stolz sein auf einen der grossen Söhne und Heiligen unserer Lebenszeit, sondern wir sollten noch mehr und zum eigenen Wohl und Heil seine Lehren befolgen, weil Gott uns in ihm auch einen Kirchenlehrer geschenkt hat. Er wird sicher hier eingereiht werden neben Johannes von Kreuz, Teresa von Avila, Therese von Liseux, Petrus Canisius, Robert Bellarmin oder Gregor den Grossen. Der grosse Beter ist sicher auch im Himmel ein Beter geblieben. Da betet er mit uns und für uns und geht uns auf Erden voran mit seinem Beispiel und Vorbild, als der Mann, der so unerschrocken und unermüdlich mitten unter uns ein Heiliger war!

Das Buch “Johannes Paul II. und die Kunst des Sterbens” von Paul Badde ist im Fe-Medienverlag erschienen und hat 208 Seiten.

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