Pro & Contra: Alles nur Verschwörungstheorie?

Am Viganò-Aufruf „Veritas liberabit vos!“ scheiden sich die Geister. Ist es lediglich ein nicht ernst zu nehmendes Machwerk?

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Historiker de Mattei zu Viganò-Aufruf: Bischöfe sollen Kompetenz nicht überschreiten
Nach Viganò-Papier: Müller übt Kritik an Reaktion der DBK

Man könne den Umgang der Kirche mit den Verboten öffentlicher Messfeiern durchaus kritisch sehen, meint Roberto de Mattei, einer der führenden italienischen Traditionalisten – Bischöfe hätten jedoch nicht die Autorität, sich zu wissenschaftlichen Aspekten des Virus zu äussern.

Chur/Astana

Pro & Contra: Alles nur Verschwörungstheorie?

Am Viganò-Aufruf „Veritas liberabit vos!“ scheiden sich die Geister. Ist es lediglich ein nicht ernst zu nehmendes Machwerk?

Martin Grichting
Athanasius Schneider

14. Mai 2020

Pro: Aus der Zeit gefallene Argumente

Von Martin Grichting

Zweifellos darf man staatliche Massnahmen im Zusammenhang mit Corona kritisieren, gerade auch wenn sie die Kirche betreffen. Denn Staaten haben Fehler gemacht. So wurde meist zu spät reagiert, was umso drastischere Eingriffe in die Freiheitsrechte zur Folge hatte, unter denen auch die Kirche schwer zu leiden hat.

Peinliches staatliches Versagen spricht freilich dagegen, dass heimlich eine Verschwörung zur Etablierung einer Weltregierung im Gang sei oder eine „verabscheuenswürdige technokratische Tyrannei“ aufgerichtet werden solle, wie es im Aufruf „Veritas liberabit vos“ martialisch heisst.

Im Übrigen gehört es zur westlichen Rechtstradition, dass der Anklagende die Beweise vorlegt. Sie sind diesbezüglich nicht zu erkennen. Hier sind eher staatliche Überforderung und Improvisation als planmässiges Vorgehen am Werk. Sogar das Prinzip der offenen Grenzen, eine heilige Kuh des EU-Binnenmarktes, musste Corona geopfert werden. Und wenn König Fussball weggesperrt wurde, zusammen mit der feingeistigen Musik- und Theaterkultur der so genannten Eliten, spricht auch dies nicht für eine finstere Verschwörung.

„Mit dem Willen Gottes politisch zu fechten, war jedoch im 20. Jahrhundert nicht mehr praktikabel“

Dennoch ist es lobenswert, die Rechte der Kirche und der Gläubigen zu verteidigen. Es stellt sich allerdings die Frage, wie die Kirche dies unter den heutigen Rahmenbedingungen bewerkstelligen soll. „Veritas liberavit vos“ tut es in problematischer Weise. Der Aufruf beruft sich gegenüber dem demokratischen Rechtsstaat auf die „Souveränität der Kirche“ und „die Rechte Gottes“. Und er verneint rundheraus, dass Zivilbehörden ermächtigt seien, „ganz gleich in welcher Form Verbote oder Einschränkungen des öffentlichen Gottesdienstes und der Seelsorge zu verhängen“. Diese Rede atmet den Geist des „Ius Publicum Ecclesiasticum“ (IPE), einer argumentativen Verteidigungsstrategie der Kirche aus dem 19. Jahrhundert. Diese Theorie ging davon aus, dass es nach Gottes Willen nebeneinander zwei souveräne höchste Gewalten gebe: den Staat und die Kirche. Jede bewege sich in ihrem Rechtskreis. Aus diesem Grund sei es dem Staat nicht erlaubt, sich in die Angelegenheiten des anderen Souveräns, der Kirche, einzumischen.

Mit dem Willen Gottes politisch zu fechten, war jedoch im 20. Jahrhundert nicht mehr praktikabel. Die Kirche hat sich deshalb durch das II. Vatikanische Konzil vom IPE verabschiedet und den gemeinsamen Bezugspunkt von Staat und Kirche in den Grundrechten, insbesondere in der Religionsfreiheit, gefunden. Diese liegen Staat und Kirche gleichermassen voraus und stellen ihren „gemeinsamen Rechtsboden“ (Böckenförde) dar.

Dem entsprechend heisst es in der Erklärung „Dignitatis Humanae“ (DH), das Recht auf Freiheit in religiösen Dingen werde innerhalb der menschlichen Gesellschaft verwirklicht. Deshalb sei deren Ausübung umgrenzenden Normen unterworfen. Einschränkungen seien im Interesse der öffentlichen Ordnung möglich (DH 7). Gleichwohl reklamiert die Kirche für sich auch weiterhin ihre Freiheit und stellt fest: Werde das Grundrecht der Religionsfreiheit nicht nur mit Worten proklamiert, sondern sei es in der Praxis ernsthaft in Geltung, stehe dieses Grundrecht mit dem Recht der Kirche auf Freiheit in Einklang (DH 13).

Man sollte deshalb die Kultusfreiheit nicht mit Argumentationsmustern verteidigen, die aus der Zeit gefallen sind. Vielmehr muss dies auf dem gemeinsamen Rechtsboden der Grundrechte erfolgen. Man kann die Frage aufwerfen, ob im Zuge der Corona-Krise seitens der Kirche genügend eindringlich auf die Respektierung der Religionsfreiheit gepocht wurde. Denn der Kerngehalt auch dieses Grundrechts ist in einem Rechtstaat niemals einschränkbar. Es ist Aufgabe der Diplomatie und der Bischöfe, dies auf informellem oder offiziellem Weg an Regierungen, Parlamente und allenfalls an Gerichte heranzutragen. Zudem stehen allen Gläubigen politische und rechtliche Mittel zu Gebot, auch Petitionen. Nur sollte man dabei argumentativ auf der Höhe der Zeit sein und dem Ansehen der Kirche in einer säkularen Öffentlichkeit nicht durch Verschwörungstheorien Schaden zufügen.

Contra: Katalysator für ehrliche Debatte

Von Athanasius Schneider

Am 8. Mai 2020 wurde ein Text mit dem Titel „Ein Aufruf für die Kirche und für die Welt an Katholiken und alle Menschen guten Willens“ publiziert. Erstunterzeichner waren unter anderen drei Kardinäle, neun Bischöfe, elf Ärzte, zweiundzwanzig Journalisten und dreizehn Juristen. Es erstaunt, wie Vertreter sowohl des kirchlichen wie des politischen und medialen Establishments das Anliegen des „Aufrufs“ unisono gemäss dem herrschenden Einheitsdenken mit dem Totschlagargument der „Verschwörungstheorie“ diskreditierten, um somit jede weitere Diskussion im Keim zu ersticken.

Ich erinnere mich an ähnliche Reaktions- und Sprechweisen aus der Zeit der Sowjetdiktatur, wo Andersdenkende und Kritiker der herrschenden Ideologie und Politik der Komplizenschaft an der „Verschwörungstheorie“ des kapitalistischen Westens bezichtigt wurden. Die Kritiker des „Aufrufs“ weigern sich, die evidente Faktenlage zur Kenntnis zu nehmen, wie zum Beispiel den Vergleich zwischen der offiziell bestätigten Sterblichkeitsrate des gleichen Zeitraums bei der Influenza Saison 2017/18 und der aktuellen Covid-19 Epidemie in Deutschland, wobei die Sterblichkeitsrate der letzteren wesentlich geringer ist.

„Nur Diktaturen fürchten sachliche Debatten bei Meinungsverschiedenheiten“

Es gibt Länder mit moderaten Sicherheits- und Präventionsmassnahmen zum Coronavirus, die deswegen keine höhere Sterblichkeitsrate aufweisen. Wenn schon die Kenntnisnahme offensichtlicher Fakten und deren Diskussion als „Verschwörungstheorie“ abgestempelt wird, dann besteht für jeden noch selbstständig denkenden Menschen die begründete Besorgnis über das Vorhandensein subtiler Formen der Diktatur in unserer Gesellschaft. Die Eliminierung oder Diskreditierung von gesellschaftlichen Debatten und der Stimmen von Dissidenten ist bekanntlich ein Hauptmerkmal totalitärer Regime, deren Hauptwaffe gegen Dissidenten keine Sachargumente sind, sondern demagogische und publikumswirksame Rhetorik. Nur Diktaturen fürchten sachliche Debatten bei Meinungsverschiedenheiten. Der „Aufruf“ leugnet nicht die Existenz einer Epidemie und der Notwendigkeit, sie zu bekämpfen. Allerdings weisen manche der Sicherheits- und Präventionsmassnahmen ein Aufzwingen von Formen totaler Überwachung der Menschen auf, die unter dem Vorwand einer Epidemie gegen grundrechtliche Freiheiten und die staatliche Freiheitsordnung verstossen.

Äusserst gefährlich ist dabei auch der angekündigte Impfzwang, der keine Alternativen zulässt, mit den vorauszusehenden Folgen der persönlichen Freiheitsbeschränkung. Die Bürger werden dadurch an Formen einer technokratischen und zentral dirigierten Tyrannei gewöhnt, wobei Bürgercourage, selbstständiges Denken und vor allem jede Widerstandskraft stark gelähmt werden. Ein in fast allen Ländern ähnlich gehandhabter Aspekt der Sicherheits- und Präventionsmassnahmen besteht im drastischen Verbot öffentlicher Gottesdienste, welcher in solch einer Unerbittlichkeit nur in Zeiten systematischer Christenverfolgungen vorhanden war.

Das absolut Neue dabei ist der Umstand, dass die Staatsgewalt der Kirche mancherorts sogar liturgische Vorschriften macht, was zum Beispiel den Ritus der Kommunionausteilung anbelangt, eine Einmischung in Angelegenheiten, die in die unmittelbare Zuständigkeit der Kirche fallen. Die Geschichte wird einmal mit Bedauern über Regime-Kleriker unserer Zeit berichten, die sogar solch eine Einmischung der Staatsgewalt untertänig akzeptiert haben. Die Geschichte hat es immer bedauert, dass in grossen Krisenzeiten die Mehrheit geschwiegen hat und die Stimmen Andersdenkender erstickt wurden. Deshalb sollte man dem „Aufruf“ fairerweise wenigstens die Chance einräumen, ohne Furcht vor sozialen und moralischen Repressalien eine ehrliche Debatte anzustossen, wie es in einer demokratischen Gesellschaft erforderlich ist.

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