Diagnostiker des kranken Abendlandes

Papst Benedikt XVI. teilte die Überzeugung seines Vorgängers Johannes Paul II.

….dass Europa seine tiefe Identitätskrise und Zukunftsangst nur durch eine mutige Rückbesinnung auf seine christliche Prägung überwinden kann.

Die Tagespost, 18. Februar 2013, von Stephan Baier

Auch das sind Aspekte jenes Doppelpontifikates, das 1978 mit einer überraschenden Wahl begann und 2013 mit einem nicht minder überraschenden Amtsverzicht endet: Karol Wojtyla und Joseph Ratzinger gehören etwa derselben Generation an, deren Jugend unter dem Schatten des Zweiten Weltkriegs lag, deren eigener Lebensweg mitgeprägt war von Machtentfaltung und Niedergang der beiden übermächtigen antichristlichen Totalitarismen in Europa.

Beide setzten sich lange vor ihrer Berufung auf den Stuhl Petri intellektuell mit den ideologischen Dämonen des 20. Jahrhunderts und ihren geistesgeschichtlichen Wurzeln auseinander, diagnostizierten die Malaise des Abendlands und versuchten auf ihre je eigene Weise, dem sich politisch und wirtschaftlich einigenden Europa das geeignete Antibiotikum zu verabreichen.

Anders als der frühere Präsident der Europäischen Kommission, Jacques Delors, der gefordert hatte, Europa “eine Seele, eine Spiritualität, eine Bedeutung zu verschaffen”, war Papst Johannes Paul II. stets davon überzeugt, dass Europa eine Seele und eine ihm gemässe Berufung habe, dass diese aber verschüttet und überlagert sei und deshalb wieder entdeckt, freigelegt, fruchtbar gemacht werden muss. So sagte er 1987 auf dem Domplatz von Speyer, es gehe darum, der “europäischen Heimat zu helfen, ihre christliche Seele wiederzuentdecken”.

1984 formulierte der damalige Papst: “Europa kann sich nur erneuern und wieder zu sich selber finden durch die Erneuerung jener gemeinsamen Werte, denen es seine eigene Geschichte, sein wertvolles Kulturgut und seine Sendung in der Welt verdankt.” Bereits 1982 hatte er im äussersten Westen des Kontinents, in Santiago de Compostela erklärt, dass das europäische Wesen unverständlich ist ohne das Christentum”. Die anti-christlichen Ideologien, die das 20. Jahrhundert in ihren Klauen hielten, sind demnach eine Verdunkelung der Identität Europas.

Der Papst aus Polen, der selbst einen massgeblichen Anteil an der Überwindung der kommunistischen Schreckensherrschaft über die östliche Hälfte Europas hat, begrüsste die Einigung Europas als ein Projekt der Solidarität der europäischen Nationen: “Entweder retten sich die Europäer gemeinsam, oder sie werden gemeinsam zugrunde gehen.”

Deutlich plädierte er 1998 für die rasche Osterweiterung der Europäischen Union: “Noch eine weitere grosse Aufgabe stellt sich den Baumeistern Europas: aus einer west-europäischen Wohlstandsinsel eine gesamteuropäische Zone der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens zu schaffen.” Und doch ging es ihm immer um mehr als um Strukturen und politische oder wirtschaftliche Weichenstellungen, nämlich um eine innere Erneuerung des leidgeprüften Erdteils.

1999 mahnte Johannes Paul II.: “Um das neue Europa auf solide Grundlagen zu stellen, genügt es sicher nicht, nur an die wirtschaftlichen Interessen zu appellieren, die manchmal zusammenführen und dann wieder spalten. Vielmehr gilt es, die für Europa authentischen Werte zu betonen, deren Fundament das in das Herz eines jeden Menschen eingeschriebene allgemeine Sittengesetz ist. Ein Europa, das den Wert der Toleranz und der allgemeinen Achtung mit ethischem Indifferentismus und Skeptizismus in Bezug auf die unverzichtbaren Werte verwechselte, würde sich den riskantesten Abenteuern öffnen und früher oder später die erschreckendsten Gespenster seiner Geschichte in neuer Gestalt wiederauftauchen sehen.”

Als Joseph Ratzinger 2005 den Namen des heiligen Mönchsvaters Benedikt – den Papst Paul VI. 1964 zum Patron Europas erklärt hatte – als Papstnamen wählte, da hatte er bereits ein monumentales theologisches Werk geschaffen. Und darin spielt die Dimension der Krise und Genesung Europas eine große Rolle.

In seinem Buch “Wendezeit für Europa” benannte er zwei “Sündenfälle Europas in der Neuzeit”: den Nationalismus als die “mythische Überhöhung der eigenen Nation”, und die Zerstörung des Ethos durch die Ausschliesslichkeit der technischen Vernunft. Zum ersten Phänomen schrieb Kardinal Ratzinger noch als Erzbischof von München-Freising: “Der Nationalismus hat nicht nur de facto historisch Europa an den Rand der Zerstörung gebracht; er widerspricht dem, was Europa seinem Wesen nach geistig und politisch ist.”

Aus dieser Analyse wird schon deutlich, was Kardinal Ratzinger im Jahr 2000 formulierte, nämlich “dass Europa nur ganz sekundär ein geografischer Begriff ist… sondern ein kultureller und historischer Begriff”. Arnold Toynbee zitierend legte Ratzinger damals dar, “dass sich das Abendland in einer Krise befindet, deren Ursache er im Abfall von der Religion zum Kult der Technik, der Nation und des Militarismus sieht”. Kardinal Ratzinger forderte dazu auf, “nach dem zu fragen, was Zukunft gewähren kann und was die innere Identität Europas in allen geschichtlichen Metamorphosen weiterzuführen vermag”. Als solche “Identitätsfaktoren Europas” nannte er “die Festschreibung von Wert und Würde des Menschen, von Freiheit, Gleichheit und Solidarität”. Dies schliesse aber “ein Menschenbild, eine moralische Option und eine Idee des Rechts” ein, über die er dann später als Papst im Deutschen Bundestag Wegweisendes sagte.

Aufschlussreich ist, dass Kardinal Ratzinger in diesem Kontext einen Punkt nannte, der Europa “sein besonderes Gesicht und seine besondere Menschlichkeit gegeben” habe: “Die monogame Ehe als grundlegende Ordnungsgestalt des Verhältnisses von Mann und Frau und zugleich als Zelle staatlicher Gemeinschaftsbildung”. Ratzinger warnend: “Europa wäre nicht mehr Europa, wenn diese Grundzelle seines sozialen Aufbaus verschwände oder wesentlich verändert würde.” Drei Gefährdungen der Ehe nannte er hier: “die Aushöhlung ihrer Unauflöslichkeit durch immer leichtere Formen der Scheidung”, die Ausbreitung des “Zusammenlebens von Mann und Frau ohne die rechtliche Form der Ehe” und die Gleichstellung homosexueller Lebensgemeinschaften mit der Ehe. “Mit dieser Tendenz tritt man aus der gesamten moralischen Geschichte der Menschheit heraus”, so der damalige Präfekt der Glaubenskongregation.

Wenige Tage vor seiner Wahl zum Papst sprach Kardinal Ratzinger 2005 in Subiaco über die Krise Europas: Hier habe sich eine Kultur entwickelt, “die Gott auf eine der Menschheit bislang unbekannte Weise aus dem öffentlichen Bewusstsein ausschliesst”. Diese “rein funktionelle Rationalität” habe auch zu einer “Erschütterung des moralischen Bewusstseins geführt”. Diese Argumentation begegnet uns in seinem Pontifikat immer wieder, etwa in der “Regensburger Vorlesung” Papst Benedikts XVI., die einer Relecture harrt.

Worin besteht nun die Medizin, an der Europa nach Ansicht dieses grossen abendländischen Denkers auf dem Stuhl Petri genesen kann? In dem oben zitierten Vortrag aus dem Jahr 2000 empfahl Kardinal Ratzinger Europa “eine neue – gewiss kritische und demütige – Annahme seiner selbst”. Dazu gehöre das Bewusstsein für das Heilige, ohne das Europa auch die anderen Kulturen nicht verstehen könne: “Den Kulturen der Welt ist die absolute Profanität, die sich im Abendland herausgebildet hat, zutiefst fremd. Sie sind überzeugt, dass eine Welt ohne Gott keine Zukunft hat.”

Benedikt XVI. bleibt nicht stehen bei der Analyse des 20. Jahrhunderts, das sich vom Christentum weit entfernte und sich an den pseudoreligiös gefärbten Nationalismus sowie an eine Illusion des säkularen Rationalismus klammerte. Er hat eine Vision für das 21. Jahrhundert, das durch die technische und ökonomische Globalisierung zu einem neuen Dialog der Kulturen herausgefordert ist, und in dem gleichzeitig der alte Rationalismus einem neuen postmodernen Irrationalismus – mit patchworkartig gefügter, subjektivistischer Religiosität – gewichen ist.

Weder die rationalistische Verengung des Vernunftbegriffs noch der bunte Cocktail an Spiritualitäten und Ideologien führt die Europäer aus ihrer Identitätskrise. Das Rezept des Papstes lautet: “Als am meisten universale und rationale religiöse Kultur hat sich der christliche Glaube erwiesen, der auch heute der Vernunft jenes Grundgefüge an moralischer Einsicht darbietet, das entweder zu einer gewissen Evidenz führt oder wenigstens einen vernünftigen moralischen Glauben begründet, ohne den eine Gesellschaft nicht bestehen kann.”

Anders als Papst Johannes Paul II. hat Benedikt XVI. die Einladung zu einer Rede im Europäischen Parlament, die der damalige Präsident Hans-Gert Pöttering aussprach, nicht angenommen. Und doch finden sich in diesem Pontifikat Wegweisungen für das vereinte Europa, die ans Licht gehoben zu werden verdienen.

In der Wiener Hofburg, “an einer historischen Stätte, von der aus über Jahrhunderte ein Reich regiert worden ist, das grosse Teile des mittleren und östlichen Europa vereint hat”, nahm Benedikt XVI. 2007 “das ganze Europa von heute in den Blick”. Hier bezeichnete er den Prozess der Einigung Europas als “Werk von grosser Tragweite” und würdigte auch den diesbezüglichen Beitrag seines Vorgängers. Vor allem aber legte er die Fundamente Europas frei: “Europa kann und darf seine christlichen Wurzeln nicht verleugnen. Sie sind ein Ferment unserer Zivilisation auf dem Weg in das dritte Jahrtausend.”

Dabei ging es Papst Benedikt XVI. nicht um eine – zweifellos auch berechtigte – geschichtliche Würdigung des Christentums in der Gestaltwerdung Europas, sondern um das “europäische Lebensmodell” für die Zukunft: “Damit ist eine Gesellschaftsordnung gemeint, die wirtschaftliche Effizienz mit sozialer Gerechtigkeit, politische Pluralität mit Toleranz, Liberalität und Offenheit, aber auch das Festhalten an Werten bedeutet, die diesem Kontinent seine besondere Stellung geben.” Noch einmal referierte der Papst die “schrecklichen Irrwege” Europas: “ideologische Engführungen von Philosophie, Wissenschaft und auch Glaube, der Missbrauch von Religion und Vernunft zu imperialistischen Zielen, die Entwürdigung des Menschen durch einen theoretischen oder praktischen Materialismus und schliesslich die Degeneration von Toleranz zu einer Gleichgültigkeit ohne Bezug zu bleibenden Werten”. Es hiesse den Papst missverstehen, wollte man dies als eine bloss historische Aufzählung lesen, nicht auch als Analyse der Gegenwart.

Warum aber setzt der Papst nach einer so niederschmetternden Analyse noch auf Europa? Warum wendet er sich nicht einfach den kirchlichen Hoffnungsmärkten Afrikas, Asiens und Lateinamerikas zu? Warum betrachtet er das einst christliche Abendland nicht einfach als abgeschlossenes Kapitel, wie viele Historiker das einst christliche Kleinasien oder Nordafrika?

“Zu den Eigenschaften Europas gehört die Fähigkeit zur Selbstkritik”, meinte Benedikt XVI. in Wien. An diese appellierte der Papst, als er Europa von Wien aus “die Einmaligkeit seiner Berufung“ und seine “einmalige Verantwortung in der Welt“ in Erinnerung rief: “Europa wird seiner selbst auch dann besser gewiss werden, wenn es eine seiner einzigartigen geistigen Tradition, seinen ausserordentlichen Fähigkeiten und seinem grossen wirtschaftlichen Vermögen angemessene Verantwortung in der Welt übernimmt.” Noch ist nicht sichtbar, dass Europa den Weckruf dieser beiden grossen abendländischen Päpste gehört hätte. Noch harrt die Vision Johannes Pauls II. und Benedikts XVI. für Europa einer Rezeption durch jene, die es betrifft: durch die Europäer.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Kategorien

Die drei Säulen der röm. kath. Kirche

monstranz maria papst-franziskus

Archiv

Empfehlung

Ausgewählte Artikel