Der “Doctor apostolicus”, der nur eine Wahrheit kannte
Die Kapuziner, Teil 1: Der heilige Kirchenlehrer Laurentius von Brindisi
Von Dirk Weisbrod
Bonn, 22. Juli 2019 (CNA Deutsch)
Zum heutigen 400. Todestag und 460. Geburtstag des heiligen Laurentius von Brindisi: Auftakt einer neuen Serie über die Kapuziner, in der CNA Deutsch-Autor Dirk Weisbrod in loser Reihenfolge bedeutende Persönlichkeiten dieses so prägenden Ordens der katholischen Kirche vorstellt.
März 1959: Es herrscht grosse Aufregung in den Kolumnen kirchennaher und insbesondere protestantischer Blätter. Man spricht von einem “Dokument einer, erneuten und verstärkten, Abkapselung” der katholischen Kirche. Und dies, nachdem Papst Johannes XXIII. nur zwei Monate zuvor “Aggiornamento” gerufen und das II. vatikanische Konzil einberufen hatte, womit viele die Hoffnung verstärkter Ökumene verbanden. Was war geschehen? Der Papst hatte am 19. März Laurentius von Brindisi zum Kirchenlehrer ernannt, als bislang einzigen Kapuziner, und ihm dem Beinamen “Doctor Apostolicus” verliehen.
Ausgerechnet Laurentius, der Protestantenfresser, der mit seinen Predigten und seiner dreibändigen “Lutheranismi Hypotyposis” den reformatorischen Glauben so treffend auseinandergenommen hatte, dass man sich bis heute nördlich der Alpen scheut, dieses Werk vollständig ins Deutsche zu übersetzen.
Dieser Laurentius also, aus protestantischer Sicht der böse Geist der Gegenreformation, soll nunmehr Kirchenlehrer werden? Eine Auszeichnung, rarer als eine Heiligsprechung! Ein Affront! Die vatikanische Pressestelle beschwichtigte sogleich: Gerade die Tätigkeit des neuen Kirchenlehrers während der Gegenreformation habe man bei der Entscheidung weniger in Betracht gezogen. Zudem ahnten die erzürnten Protestanten noch nicht, was wir heute wissen: Johannes XXIII. war, wie eigentlich alle Päpste nach ihm, ein Kind Hegels – ein Dialektiker, der beiden Seiten Zucker gab. Wollte man die Kirche im Sinne moderner Theologie durchlüften, musste man die in Jahrhunderten und Jahrtausenden denkenden Katholiken beruhigen, indem man nochmal einen Rechtgläubigen alter Schule ehrte. So geschah es auch drei Jahre später, als der Papst auf dem Altar von St. Peter mit Weihrauch und Choral die apostolische Konstitution “Veterum sapientia” promulgierte, die Latein als die für Liturgie und Theologie verbindliche Sprache der Kirche definierte… . Acht Jahre später wurden die Messen in Landessprache gehalten. Der Kirchenlehrer Laurentius hätte somit heute einige Schwierigkeiten mit der Hierarchie – er, der immer ein Vorbild an Gehorsam gewesen war.
Es gibt wohl kaum einen anderen Sohn des Franziskus, der Charisma und Sendung des Kapuzinerordens sinnfälliger repräsentiert als der Heilige Laurentius. Ja, es scheint so, als ob dies durch ihn zum ersten Mal vor aller Augen sichtbar wird – neben dem schon erwähnten Gehorsam und seiner Tätigkeit in der Gegenreformation sind das die selbstgewählte Armut als Ordensideal, die Selbstheiligung durch Askese und Disziplin, das mystische Verhältnis zur Eucharistie und Priestertum, die kindliche Liebe zu Jesus und Maria, die wortgewaltige Predigt, eng verbunden mit der ausgeprägten Missionstätigkeit, die bei den Kapuzinern immer direkt vor der eigenen Pforte beginnt, wenn Arme, Kranke und Notleidende versorgt werden – und die vielen Wunder, die der Heilige und Mystiker ausweislich der Akten seines Selig- und Heiligsprechungsprozesses gewirkt hat.
Es sind aber auch noch andere Charismen darunter, die heute nicht mehr im Schwange sind: Von seiner Tätigkeit als Gegenreformator haben wir schon gesprochen, auch bekämpfte er die Türken, predigte den Juden und betätigte sich als Diplomat und Politiker. Eigentlich fehlt hier nur noch die Aura des Beichtvaters und Seelenführers, was damit zu tun hat, dass die Ordensregel anfangs das “Beichthören von Weltleuten” verbot. Will man also die Kapuziner kennenlernen, dann beschäftige man sich mit Laurentius aus Brindisi.
Als Laurentius am 22. Juli 1559 als Giulio Cesare Russo im apulischen Brindisi zur Welt kam, waren die Kapuziner gerade einmal 30 Jahre alt und hatten bereits mehrere Krisen hinter sich. Ja, eigentlich kann man es nur als Wunder bezeichnen, dass der Orden überhaupt noch existierte. Ihr Gründervater und erster Generalvikar, Mateo da Bascio, hatte den Orden schon nach einem Jahr aus Unzufriedenheit verlassen. Der vierte Generalvikar, Bernardino Ochino, war 1542 Protestant geworden, nachdem er zuvor noch von der Kanzel Luthers Lehren verkündet hatte. Das Ergebnis: drei Jahre Predigtverbot für den ganzen Orden, der nun – ganze 15 Jahre nach seiner Gründung – unter dem Verdacht der Häresie stand und ausführlich visitiert wurde. Aber das war 1559 fast schon wieder vergessen, als die Kapuziner sich vor Berufungen nicht mehr retten konnten. Ochino war ein Einzelfall – und was die Reformation anging so sollten sich gerade die Kapuziner als besonders immun gegen die neuen Lehren aus dem Norden erweisen. Allen voran Julius Cäsar aus Brindisi, der spätere Feldherr der Gegenreformation.
Giulio Cesares Vater Guglielmo war ein wohlhabender Kaufmann, der aber früh starb. Wie so oft, lud nun Elisabetta, die Mutter, alle ihre Hoffnungen auf den Sohn, der ob der zu starken Mutterliebe bald nach Venedig floh, wo ein Bruder des Vaters Priester im Markusdom war und ihn aufnahm. Zu diesem Zeitpunkt war schon klar, dass er selbst in den geistlichen Stand eintreten wollte. Venedig jedenfalls sollte so etwas wie eine zweite Heimat für den Kirchenlehrer werden, in die er sich, wann immer es möglich war, zurückzog. Zuvor soll der Knabe schon als sechsjähriger mehrmals in der Kathedrale von Brindisi mit großem gepredigt haben. Die Sitte Kinder zur Weihnachtszeit als alter ego des Christuskinds predigen zu lassen, war in Italien seinerzeit weit verbreitet. Früh übt sich, wer ein Meister werden will.
Am 18. Februar 1575 trat er als Novize in das Kapuzinerkonvent von Verona ein, wo man schnell die Fähigkeiten des damals 16jährigen erkannte. Wenige Jahre später wurde er zum Studium der Philosophie und Theologie nach Padua geschickt, wo er seine legendären Kenntnisse ausbildete und vermehrte. Zeugen berichten, dass er Hebräisch, Chaldäisch, Syrisch, Griechisch und Latein fließend beherrschte, er selbst behauptete einmal, dass – sollte die Bibel verloren gehen – er sie aus dem Gedächtnis in der hebräischen und griechischen Ursprache rekonstruieren könne. Ende des 16. Jahrhunderts galt er als der geistliche Universalgelehrte seiner Zeit; ein Gelehrter, der zudem noch seine Erkenntnisse und Überzeugungen in glänzender Rede vortragen konnte: Eine seltene Kombination.
So wird denn auch der 1583 zum Priester geweihte Laurentius sehr früh schon von Papst Clemens VIII als Prediger an den päpstlichen Hof geladen. Dieses Privileg verblieb bei den Kapuzinern. Der heutige Nachfolger des Laurentius heißt Raniero Cantalamessa. Immer wieder wurde der Kirchenlehrer mit der “Kapuzinerpredigt” in Verbindung gebracht, jenem drastischen, wortgewaltigen und gebärdenreichen Predigtstil, der sogar den Einzug in die deutsche Sprache, Schillers Wallenstein und das Lexikon für Theologie und Kirche geschafft hat. Nun ist die Bezeichnung abwertend gemeint und eine Verballhornung aus Gegenreformation und Aufklärung. Laurentius hingegen vertraute auch auf das Argument, nicht nur auf Drohung und Buße, wovon die Disputationen mit Lutheranern am Hofe Kaiser Rudolfs in Prag zeugen. Es heißt, die Lutheraner hätten danach die Flucht ergriffen, so vernichtend seien Brindisis Argumente gewesen. Frucht dieser Redegefechte sind die oben schon erwähnten “Lutheranismi Hypotyposis”. Ob nun dieses Werk vielleicht doch seine Ernennung zum Kirchenlehrer befördert hat oder eher seine Zusammenfassung der Lehren über Maria, das “Mariale” und seine biblische Kosmologie, die “Explanatio in Genesim”, sei dahingestellt. 15 Bände umfasst das Werk des Kirchenlehrers.
Laurentius Karriere als Kirchenpolitiker und Diplomat verlief ebenso glänzend. 1590 wurde er Provinzial in der Toskana, dann in seiner Wahlheimat Venedig, später auch in Genua. Mehrmals fungierte er als Stellvertreter des Generalvikars und 1602 wurde er selbst für drei Jahre zum 18. General der Kapuziner gewählt. Zuvor schon hatte er vom Hofe Kaiser Rudolf II. in Prag aus die Kapuzinerprovinzen in Österreich und Böhmen aufgebaut, womit der Orden auf das seit Ochino gefürchtete deutsche Sprachgebiet vorstieß. Der Kaiser selbst hatte ihn dorthin berufen.
Kaiser Rudolf, zumindest wenn er einmal bei klarem Verstand war, war so von Laurentius Fähigkeiten überzeugt, dass er ihn zum Militärkaplan seines Heeres ernannte. Das stand 1601 im ungarischen Stuhlweißenburg vor dem noch ungeschlagenen türkischen Heer. Ob Legende oder Wahrheit: In Stuhlweißenburg tritt uns ein unvergessliches Kapuziner-Bild vor Augen, wenn Laurentius – auf einem Esel reitend und das Kreuz hoch erhoben – das eigentlich schon geschlagene habsburgische Herr gegen die Türken antreibt. Es gibt Berichte, dass die Kugeln vor dem Mann in der braunen Kutte kehrt machten und zurückflogen oder in seinem Kapuzinerbart hängen blieben, woraus er sie nach der siegreichen Schlacht mit wenigen Handbewegungen herauskämmte. Ein Heiliger als Schlachtross.
Eine enge Freundschaft verband ihn mit dem bayrischen Herzog Maximilian I. Der Papst hatte ihn nach seinem Generalat als Nuntius nach Bayern geschickt, wo er dann in einer Doppelfunktion auch Gesandter Spaniens war. Das lag ganz Interesse von Papst und Herzog, denn am Markustag 1606 und 1607 wurden Katholiken während einer Prozession in der protestantisch gewordenen freien Reichstadt Donauwörth angegriffen. Damit hatten die Protestanten den Augsburger Religionsfrieden verletzt. Nach einigen Quellen soll auch Laurentius bei der zweiten Prozession zugegen gewesen sein. Jedenfalls setzte der sich beim Kaiser für die Verhängung der Reichsacht über die freie Reichsstadt ein. Erfolgreich! Herzog Maximilian annektierte Donauwörth, das daraufhin bayrisch und sofort rekatholisiert wurde.
Das konnten die protestantischen Fürsten nicht auf sich sitzen lassen. Sie gründeten 1608 die protestantische Union, auf dass nie wieder eine solche Schmach geschehe. Die katholischen Reichsstände reagierten und formierten sich 1609 zur katholischen Liga, die aber alleine zu schwach schien und deswegen die Unterstützung der größten katholischen Nation benötigte: Spaniens. Mit der diplomatischen Mission wurde Laurentius betraut. Wieder war er erfolgreich, sodass er die katholische Liga mitgründen konnte. Sicher glaubte Laurentius – der das alles auf Wunsch und Befehl des Papstes tat – für die Zukunft der katholischen Kirche zu arbeiten, denn den ersten Stein hatten in Donauwörth die Protestanten geworfen. Das daraus 1618 die erste große Katastrophe Deutschland wurde, kann man getrost dem “Mysterium inquietatis” zuordnen!
In den drei Jahren seiner Amtszeit als Ordensgeneral – in denen er alle bestehenden Kapuziner-Provinzen bereiste und ordnete – und auch bei fast allen anderen Missionen reiste er zu Fuß, obwohl er an der Podegra, der äußerst schmerzhaften Fußgicht, litt. Es sollen sogar Menschen auf seine Fürbitte geheilt worden sein, während er sich selbst nicht vom Krankenlager erheben konnte. Er betete jedoch nicht für die eigene Gesundung, sondern nahm seine Krankheit als Buße, als Selbstkasteiung.
Legendär sind seine Maßnahmen gegen die Laxheit in den Provinzen. Luxus war ihm ein Graus, da er selbst jede Annehmlichkeit ablehnte. Manche sagen, er sei cholerisch gewesen, etwa wenn er etwa mit einer Lutherbibel nach protestantischen Predigern warf! Wer weiß, vielleicht ist das auch eine kapuzinische Eigenart? Erinnern wir uns nur an Pater Pio, der schnell unwirsch wurde, wenn die Menschmassen auf ihn eindrangen. Auch Laurentius zog Menschenmassen an: Bitten um Segen und Gebet, um Berührung! Aufgrund der Wunderheilungen war er bekannt wie ein Popstar; zudem besaß er die Gabe der Seelenschau. Er war der Pater Pio seiner Zeit. Oft soll er davor geflohen sein, durch Hintertüren und Geheimgänge. Auch ein Heiliger braucht Luft zum Atmen!
Sein öffentliches Wirken war ihm eine Last. Er befürchtete, dass die innige und mystische Vereinigung mit Jesus im Heiligen Altarsakrament dabei auf der Strecke bleiben könnte. Auch deswegen hatte er vom Papst die Erlaubnis bekommen, Privatmessen ohne die Anwesenheit von Gläubigen zu zelebrieren. Sie sollen bis zu acht Stunden gedauert haben, wobei er in Ekstase geriet und vor dem Altar schwebte. So behauptet es zumindest Graf Francesco Visconti, der einmal als Messdiener einer solchen Liturgie beiwohnte. Vor Gläubigen schaffte Laurentius die Liturgie auch in einer halben Stunde.
Ende 1618 begab er sich Laurentius auf seine letzte Mission. Mit päpstlicher Erlaubnis sandten ihn die Bürger von Neapel zu Philipp III., den König von Spanien, damit er Abberufung des tyrannischen Vizekönigs erreiche. Er fügte sich! Der Vizekönig aber hatte Wind von der Sache bekommen und versuchte alles, die Abreise der Gesandtschaft zu verhindern. Laurentius musste in einer Nacht und Nebelaktion aus der Stadt gebracht werden. Seine Flucht über Schleichwege, Felder, Felsen und Weinberge, in denen gerade die Weinlese stattfand, ist wohldokumentiert und kann es an Suspense mit einem Hitchcock-Thriller aufnehmen. Obwohl ihm die Verfolger dicht auf den Fersen waren, ließ er sich nicht daran hindern in einem abgelegenen Kapuzinerkloster die Messe am Festtag des Heiligen Franziskus, dem 06. Oktober, zu lesen. Von dort aus erreichte die Gesandtschaft in letzter Minute ein Schiff, geriet in einen Sturm und wurde zu Wasser noch bis nach Genua verfolgt, von wo man sich nach Monaten endlich nach Spanien einschiffen konnte. Die Reise endete in Lissabon, wo Philipp III., der ja auch König von Portugal war, gerade residierte. Da hatte Laurentius aber schon vorausgesagt, dass er an seinem 60. Geburtstag sterben werde und tatsächlich war der ausgezehrte und erschöpfte Körper eine leichte Beute für die damals in Portugal grassierende Ruhr.
Am 22. Juli 1619 starb Laurentius von Brindisi im Palast des Marquis von Villafranca zu Lissabon. Zuvor hatte er dem spanischen König selbst noch den nahen Tod vorausgesagt und dafür gesorgt, dass der Vizekönig abberufen wurde. Das Sterbezimmer war von einer Menschenmenge umlagert, Popularität bis zum Tod und über den Tod hinaus! Seine Leiche wurde nach Nordspanien, nach Villafranca del Bierzo, überführt, dem Stammsitz seines letzten Gastgebers, und dort in einem Nonnenkloster beerdigt. Napoleons Truppen haben sein Grab 1808 zerstört.
Es verwundert nicht, dass ein solcher Volks- und Leutpriester von Anfang an als Fürsprecher verehrt wurde. Zumal auch nach seinem Tod die Wunder nicht ausblieben. Da man es mit Kanonisierungen früher noch etwas genauer nahm, dauerte es mit der Seligsprechung bis 1783. Die Heiligsprechung nahm 1881 Papst Leo XIII. vor.
Was für ein Leben und welch ein Beispiel für den noch jungen Kapuzinerorden. Generationen haben ihm nachgeeifert und genau deswegen ist der Heilige Laurentius von Brindisi exemplarisch für den Kapuzinerorden. In seiner Striktheit, in seiner Unbedingtheit, mag er uns heute fremder denn je erscheinen, denn der laue Kompromiss war nicht seine Sache. Er kannte nur eine Wahrheit, keine graduellen Wahrheiten. So war etwa der Krieg für ihn ein Übel, aber immer noch ein letztes Mittel, um den wahren Glauben zu verteidigen. Sogar mit seinem Hauptwerk gegen Luther könnte er heute, nach “Unitatis redintegratio”, keinen Blumentopf mehr gewinnen. So waren und so sind die Zeiten!
Trotzdem ist er ein Heiliger, ein Vorbild im Glauben und ein Kirchenlehrer, der Jesus und Maria in den Mittelpunkt seines Schaffens stellte. So steht auch am Ende dieser Zeilen jener Segen, den er am liebsten erteilte und der sich unter anderem auch deswegen in der ganzen Kirche verbreitete:
“Maria mit dem Kinde lieb, uns allen Deinen Segen gib.”
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