Die dunkle Nacht der Rassentrennung UPDATE
50 Jahre berühmte Rede “I have a dream…”
Vor 50 Jahren hielt Martin Luther King vor dem Lincoln Memorial sein berühmte Rede “I have a dream…”
Erinnerungen an den langen Kampf des amerikanischen Bürgerrechtlers um Gerechtigkeit und Aussöhnung, der letztlich mit seinem gewaltsamen Tod endete.
Die Tagespost, 26. August 2013, von Burkhardt Gorissen
“Ich habe einen Traum” – so der Titel einer Rede, die den Aufbruch in eine menschlichere Zukunft weisen sollte.
Vor 50 Jahren hielt sie der amerikanische Bürgerrechtler Martin Luther King vor dem Lincoln Memorial. Am 28. August 1963 hörten ihm in Washington über 250 000 Menschen zu.
Den Marsch für Arbeitsplätze, Freiheit und Gleichheit initiierten gleich sechs Menschenrechtsorganisationen, eine davon, die Southern Christian Leadership Conference, deren Vorsitzender Martin Luther King hiess. Seine aufsehenerregende Rede zählt zu den Glanzleistungen der Rhetorik. King verwendet darin Auszüge aus der Bibel, der US-Verfassung, der Unabhängigkeitserklärung, sowie aus Lincolns Erklärung zur Sklavenemanzipation. Trotz oder gerade wegen Kings getragener Vortragsweise wirkte sie wie ein Fanal:
“Vor hundert Jahren unterzeichnete ein grosser Amerikaner, in dessen symbolischem Schatten wir heute stehen, die Emanzipationsproklamation…”, begann er, “Hundert Jahre später ist das Leben des Negers immer noch verkrüppelt durch die Fesseln der Rassentrennung und die Ketten der Diskriminierung.”
Obwohl der am 15. Januar 1929 in Atlanta geborene King in einer Strasse aufwuchs, in der fast ausschliesslich wohlhabende Schwarze wohnten, wusste er um das Drama der Afroamerikaner. Sein Grossvater väterlicherseits hatte auf einer Baumwollfarm unter erbärmlichen Arbeits- und Lebensbedingungen gelitten. King empfand schon früh die Rassentrennung als himmelschreiende Ungerechtigkeit. In seiner Haltung vor allem durch die väterliche Erziehung geprägt, reiste er als 14-Jähriger nach Dublin in Georgia, wo er an einem Redner-Wettbewerb teilnahm, den er gewann. Ursprünglich hiess Kings Vater Michael und er selbst Michael King jr. Der Vater änderte beide Namen 1934 nach einer Europareise, die ihn auch nach Deutschland führte, im Gedenken an Martin Luther. Seine erste negative Erfahrung mit der Rassentrennung machte King junior schon früh. Sein bester Freund aus der Vorschulzeit war ein weisser Junge aus der Nachbarschaft. Doch dann mussten beide verschiedene Schulen besuchen. Die Eltern des Freundes teilten King mit, dass er mit ihrem Sohn nicht mehr spielen dürfe, weil er ein Farbiger sei.
Die USA, das war eben nicht das Land der Freien und Tapferen, wie die Nationalhymne pathetisch versprach. Die Sterne des “Star spangled banner” strahlten für die farbige Bevölkerung nicht in der dunklen Nacht der Rassentrennung, und die “des Morgenrots Strahl” brachte für sie bestenfalls knochenharte Arbeit, schlimmstenfalls den frühen Tod, wie dem 14-jährigen Emmet Louis Tillaus am 28. August 1955.
Flirrende Hitze stand über der allmählich erwachenden Stadt. In dieser heissen unbewegten Kiefernduftstille des Augustmorgens streunten ein paar weisse Männer durch das Viertel, das sie nur “Negerviertel” nannten. Sie blieben stehen. Warum? Später wird es keine Antwort geben, nur viele Fragen. Das Haus, vor dem sie stehen, ist aus rohen Rundbalken gezimmert, der Lehm, in der Hitze hart und grau geworden, längst aus den Fugen herausgebröckelt. Die Fenster sind halb geöffnet, windschief in ihren Verankerungen. Die Männer dringen gewaltsam in das Haus ein. Und so, als hätten sie Blut geleckt, reissen sie den 14-jährigen Farbigen aus seinen Träumen, zerren ihn aus dem Bett, misshandeln ihn brutal und versenken seine Leiche im nahen Tallahatchie-Fluss. Was eine Szene aus einem Roman William Faulkners sein könnte, dessen unnachahmlichen literarischen Südstaatengemälde ihm den Literaturnobelpreis einbrachten, ist blutige Realität. Die Mörder des Jungen kommen vor Gericht. Sie werden freigesprochen. Emmet Louis Tillaus’ Träume waren mit ihm im Tallahatchie-Fluss ertrunken. Gerechtigkeit in einem Land, dass sich selbst für das freiheitlichste hält? Freiheit ist in jener Zeit oft nur ein Synonym dafür, was Weisse sich gegenüber Farbigen herausnehmen. Doch die Tage der weissen Willkür sind gezählt: Eine schwarze, starke Bürgerrechtsbewegung wächst heran. Zwischen 1955 und 1968 wird sie die USA verändern.
“Ich habe einen Traum, dass eines Tages selbst der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze der Ungerechtigkeit und in der Hitze der Unterdrückung verschmachtet, in eine Oase der Freiheit und Gerechtigkeit verwandelt wird”, sagt Dr. Martin Luther King an einem 28. August, an dem sich der Mord an Emmet Louis Tillaus zum achten Mal jährte.
“Separate but equal”, “getrennt aber gleichwertig”, sollten die Einrichtungen für Schwarze und Weisse sein. So sah es das Gesetz vor, doch kontrolliert wurde diese Voraussetzung nicht. Die Sklaverei war seit 1865 offiziell beseitigt, die Rassentrennung nicht. Farbige und Weisse blieben getrennt, hatten ihre eigenen Schulen, Restaurants, Toiletten. Farbige bekamen weiterhin nur schlecht bezahlte Jobs, selbst beim Wahlrecht gab es Unterschiede. Viele Einrichtungen hatten eine schlechtere Qualität als diejenigen für Weisse. Das galt auch für Schulen, die weniger Geld vom Staat erhielten und dementsprechend schlechter ausgestattet waren. Das gleiche galt für Universitäten und Krankenhäuser. “Es ist heute offenbar, dass Amerika seinen Verbindlichkeiten nicht nachgekommen ist, soweit es die schwarzen Bürger betrifft”, stellte King in seiner berühmten Rede fest. Der Farbige als Outlaw, der sehen musste, dass seine Vorfahren seit 300 Jahren in erbärmlicher Sklaverei lebten und später in grossen Käfigen, Ghettos genannt, vegetierten. Er sah die Gesichter seiner Eltern, seiner Nachbarn, seiner Geschwister und der anderen Ghettobewohner: Ein Spiegelbild seines Elends. “Meine Schüler leben jetzt, wie wir damals gelebt hatten, sie wuchsen so schnell, dass sie ihre Köpfe unversehens an die niedrige Decke ihrer tatsächlichen Möglichkeiten stiessen. Sie steckten voller Zorn”, so beschreibt Baldwin die chancenlosen Slumkinder. In Baldwins “Sonnys Blues”, erstmalig 1957 veröffentlicht, berichtet der Ich-Erzähler, ein farbiger Lehrer in Harlem, wie sein jüngerer Bruder Sonny sich in die Musik flüchtet – und später in Drogen: “Was wusste denn ich? Vielleicht hatten sie mehr davon als von Algebra.” Sie träumen davon, umgehend das Ghetto zu verlassen. Gleichzeitig erfahren sie tagtäglich, dass die Realität eine andere Sprache spricht, eine brutale, mitleidlose, und sie sehen vom Rand der Gesellschaft die Drogenszene, Prostitution, organisiertes Verbrechen. Gewalt und Drogen bestimmen fortan ihr Leben. “Alles, was sie wirklich kannten, waren zwei Arten von Dunkelheit: Die Dunkelheit ihres Lebens, die sich jetzt um sie zu schliessen begann, und die Dunkelheit der Filmleinwände, die sie blind gemacht hatte für jene andere Dunkelheit, und in der sie nun rachsüchtig träumten…” Nein, Hollywoods “American Dream of life”, er zieht hier nicht mehr, das ist ein Traum der Weissen, für die das Unrecht nur viel zu selbstverständlich scheint.
Der Farbige, das war der “Nigger”, der in den Minstrel-Shows des 19. Jahrhunderts von weissen Unterhaltungsmusikern, die ihre Gesichter schwarz färbten, böswillig veralbert wurde. Ein Albtraum, für uns Heutige kaum mehr verständlich. Aber nicht in einer Zeit, wo auch auf der anderen Seite des grossen Teiches, in Deutschland, der “Wilde” ein obskures Objekt der Begierde darstellte, wie bei Carl Hagenbeck, der 1908 mit der Eröffnung seines Tierparks in Stellingen bei Hamburg, ein Ausstellungsgelände für eine sogenannte “Völkerschau” eröffnete, wo Somalier, Äthiopier und Beduinen zur Schau gestellt wurden. Homo homini lupus. “Jetzt ist die Zeit, Gerechtigkeit für alle Kinder Gottes Wirklichkeit werden zu lassen”, sagte Dr. Martin Luther King in seiner denkwürdigen Rede an jenem 28. August.
Menschlich ging es auch nicht zu im Fall der Rosa Parks. Am 1. Dezember 1955 wurde die Afroamerikanerin in Montgomery, Alabama, festgenommen, weil sie sich während einer Busfahrt weigerte, ihren Sitzplatz für einen weissen Fahrgast aufzugeben. In Bussen durften Farbige nur in bestimmten Sitzreihen Platz nehmen, die sich in der Regel im hinteren Teil befanden, so dass die schwarzen Fahrgäste vorne beim weissen Fahrer ihr Ticket lösen, aussteigen und im hinteren Bereich wieder einsteigen mussten. Nicht selten fuhr ein Bus zu früh ab und liess die farbigen Fahrgäste stehen. In der Mitte gab es einen Bereich, der schwarzen Mitfahrern begrenzt offenstand, sobald sich ein weisser Fahrgast dorthin setzen wollte, mussten die farbigen Passagiere die gesamte Sitzreihe räumen. Aber Rosa Parks, müde von der langen, harten Arbeit, hatte wohl vor sich hingeträumt. Wir wissen es nicht, jedenfalls weigerte sie sich, die restliche Fahrzeit zu stehen. Daraufhin alarmierte der Busfahrer die Polizei. Die 42-Jährige wurde wegen Störung der öffentlichen Ruhe verhaftet und angeklagt. Kurz darauf wurde sie zu einer Strafe von zehn Dollar zuzüglich vier Dollar Gerichtskosten verurteilt.
Der Fall sorgte für erhebliches Aufsehen. Zunächst wurde ein eintägiger Boykott öffentlicher Busse für den 5. Dezember, den Tag der Gerichtsverhandlung, organisiert. Fast jeder der 42 000 farbigen Bürger Montgomerys fuhr an diesem Tag nicht mit dem Bus. Um die Aktion auszuweiten, trafen sich 50 Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung. Einer von ihnen war der damals fast gänzlich unbekannte Martin Luther King. Er hatte schon Erfahrung mit gewaltfreien Widerstandsaktionen gesammelt und hielt am Abend des 5. Dezember eine flammende Rede vor 7 000 Zuhörern, worin er zum friedlichen Protest aufrief und gleiche Rechte für alle Passagiere, sowie die Einstellung von schwarzen Busfahrern forderte. Obwohl die Stadt Montgomery durch die Boykottaktion massiv unter Druck geriet, weigerte sie sich zu handeln, bis im Dezember 1956 der oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten die Rassentrennung in Bussen für verfassungswidrig erklärte. Damit war ein ganz entscheidender Etappensieg errungen.
Noch etwas anderes geschah: Durch den Busboykott von Montgomery wurde Martin Luther King zum mächtigsten Führer der Bürgerrechtsbewegung. Unerschütterlich glaubt er an Gerechtigkeit und Aussöhnung. Inspiriert von Mahatma Gandhi will er gewaltfrei, aber mächtig gegen den Rassismus kämpfen. Und er fasziniert mit seinen charismatischen Reden die Menschen. Hunderttausende schliessen sich seinen landesweiten Protesten an. Mit Demonstrationen, Protestmärschen und Formen des zivilen Widerstandes wie Sit-ins, engagieren sie sich für die Gleichberechtigung aller Menschen. Etliche von ihnen lassen sich von Ordnungsorganen erniedrigen, misshandeln und ins Gefängnis sperren. Einige opfern sogar ihr Leben. Der Ku Klux Klan lässt seine Hassfeuer lodern. Die Gewalt der weissen Rassisten ruft in der Öffentlichkeit Abscheu hervor. Politiker sehen sich gezwungen, endlich zu reagieren. “Lasst uns nicht aus dem Kelch der Bitterkeit und des Hasses trinken, um unseren Durst nach Freiheit zu stillen”, hatte King angemahnt.
Die Bürgerrechtsbewegung erzielt grosse Erfolge. US-Präsident Lyndon B. Johnson verkündet 1964 das Gesetz, in dem die Rassentrennung aufgehoben wird. Im gleichen Jahr erhielt Martin Luther King den Friedensnobelpreis. Das gesamte Preisgeld in Höhe von 54 000 Dollar spendete er für einen Fonds seiner Bewegung. 1965 trat ein neues Wahlrecht in Kraft. Doch der eloquente Bürgerrechtler King musste betroffen einsehen, dass die Schaffung neuer Gesetze die Situation der Farbigen nicht zwingend ändern konnte. Auch die Flamme des friedlichen Protests strahlte nicht mehr so hell. Innerhalb der Bürgerrechtsbewegung bildete sich ein radikaler Flügel, die Black Muslims mit ihrem charismatischen Anführer Malcolm X und die Black Panther Party. Diese beiden gewaltbereiten Gruppierungen kamen hauptsächlich in den Grossstädten des Nordens und in Kalifornien auf, wo Kings gewaltlose Ideen sich kaum durchsetzen konnten. Grund dafür, die dramatische Perspektivlosigkeit in den Ghettos, sowie die hoffnungslose Kriminalisierung durch Gewalt und Drogen.
Fünfeinhalb Jahre nach seiner grossen Rede wird Martin Luther King erschossen. Wegen der befürchteten Unruhen rief der Funk- und Soulstar James Brown in Radio und Fernsehen zur Besonnenheit auf: “Tun wir nichts, was Dr. King zur Unehre gereicht.” James Brown nahm “Say It Loud, I’m Black and I’m Proud” auf. Der Song sollte eine der Hymnen der Bürgerrechtsbewegung werden. So wie “We shall overcome”, das die Demonstranten auf ihrem Friedensmarsch sangen, an jenem denkwürdigen 28. August 1963, an dem Martin Luther King ihnen von den Stufen des Lincoln Memorial aus zurief: “Wir halten diese Wahrheit für selbstverständlich: Alle Menschen sind gleich erschaffen. (…) Ich habe einen Traum, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben werden, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe, sondern nach ihrem Charakter beurteilt. Ich habe heute einen Traum!”
Überall, wo sich Unrecht zeigt, wird sich eine Stimme dagegen erheben. Die von Martin Luther King lässt sich nur noch auf der Bild- und Tonkonserve vernehmen. Freiheit lässt sich nicht konservieren, doch wenn das Unrecht zu gross wird, ertönt die Stimme der Gerechtigkeit. Immer und überall.
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