Glaube ganz ohne Lametta

Warum wir Weihnachten dringend brauchen, aber anders feiern sollten

Flucht-nach-aegyptenQuelle

Von Markus Reder

Flüchtlinge ist das Wort des Jahres 2015. Doch was ist schon ein Wort angesichts der Bilder des Leids, der Schmerzen, des Terrors, die die Nachrichten Abend für Abend ins warme Wohnzimmer liefern. Kinder, die tot am Strand liegen. Tränen von Müttern, die niemand trocknet. Väter, die alles verlassen, um einer sicheren, besseren Zukunft willen. Menschenmassen haben sich auf den Weg gemacht. “Völkerwanderung” beschreibt wohl am besten, was sich da gerade ereignet. Plötzlich klopft das bislang so ferne Leid an die eigene Haustür an. Überfüllte Züge, Notunterkünfte, die aus allen Nähten platzen. Aber es gibt auch andere Bilder: Helfende Hände, Menschen, die seit Monaten bis an die Grenze der Erschöpfung arbeiten, um Flüchtlingen und Vertriebenen zu helfen und Heimatlosen ein Dach über dem Kopf zu geben.

Die Kirche kämpft in Flüchtlingsfragen für den Primat der Humanität. Diese Haltung ist nicht verhandelbar. Sie ist nicht die Frucht politischer Abwägungsprozesse oder Mehrheitsbefunde, sondern entspricht der Forderung der Heiligen Schrift. Wie ein roter Faden ziehen sich die Themen Flucht, Vertreibung, Verfolgung durch die Bücher des Alten und Neuen Testaments. In diesem “Forum“ spielt der Blick in die Bibel daher einer besondere Rolle. Alttestamentler Burkhard Zapff erläutert, warum die Flüchtlingsexistenz zum Gencode des Gottesvolkes gehört und welche Konsequenten sich für Judentum und Christentum daraus ergeben. Und der Neutestamentler Klaus Berger macht deutlich, dass Heimatlosigkeit geradezu zur Definition des Christseins gehört und was das bis heute für gläubige Christen bedeutet. Dass das Wort Gottes Christen zu Humanität und Solidarität verpflichtet, wird im Interview mit dem Hamburger Erzbischof Stefan Hesse deutlich. Hesse ist in der Deutschen Bischofskonferenz für Flüchtlingsfragen zuständig. Gegenüber dieser Zeitung betont er, dass die Bischöfe Ängste vor Identitätsverlust und Islamisierung ernst nähmen, diffuse Ängste aber nicht dazu führen dürften, die ethischen Prinzipien der Kirche in Frage zu stellen.

Die Angst ist zum ständigen Begleiter der Christen im Nahen und Mittleren Osten geworden. Nicht nur unter denen, die noch vor Ort ausharren und von den Schergen des “Islamischen Staates“ mit Terror und Tod bedroht werden. Angst macht sich breit auch unter Christen, die vor der Bestialität des IS geflohen sind, in der Hoffnung, im christlichen Europa Zuflucht und Sicherheit zu finden. Nicht wenige von ihnen müssen nun erleben, wie sie in Flüchtlingsunterkünften erneut bedrängt und schikaniert werden. Im Interview berichtet der Vorsitzende des Zentralrats Orientalischer Christen in Deutschland, Mike Malke, über solche noch immer verharmlosten Vorgänge. Professor Wolfgang Ockenfels setzt sich mit den Folgen der Massenzuwanderung aus sozialethischer Perspektive auseinander und betont, dass Humanität nicht mit politischer Naivität verwechselt werden darf. Und Bundesminister Gerd Müller (CSU) steht zu brennenden Fragen Flüchtlings- und Entwicklungspolitik Rede und Antwort.

Massenflucht, die schlimmste Christenverfolgung aller Zeiten, islamistischer Terror, der sich nach Europa bombt: Kann man unter solchen Bedingungen Weihnachten feiern? Man kann nicht nur, man muss geradezu. Allerdings anders, als es die kommerzialisierte, verkitschte und sinnentleerte Weihnachtsversion der säkularen Wohlfühlwelt vorsieht. Denn Weihnachten ist radikal anders. Gottes Sohn wird Mensch, unterwegs, in einem Stall, weil anderswo kein Platz für ihn war. Es wird nicht lange dauern, dann wird sich seine Mutter und sein Pflegevater mit dem göttlichen Kind wieder auf den Weg machen müssen und nach Ägypten fliehen. Weihnachten ist kein Fest plüschiger Sentimentalität, sondern des nackten Gottvertrauens. Weihnachten 2015 ist die Gelegenheit, das wieder neu zu entdecken. Der Weg des Gottessohnes führt von der Krippe zum Kreuz. An Weihnachten wird die ganze Andersartigkeit Gottes sichtbar. Wer Weihnachten verkitscht, mit Konsum vermüllt und mit Gefühlsduseleien verstellt, nimmt dem Fest seine radikale Tiefe und seine kosmische Dimension. Mit dem Geburtsschrei Jesu ist nichts mehr wie es einmal war. Auch wenn die Gesichte über zweitausend Jahre immer wieder einen anderen Eindruck erweckt, und Terror, Krieg, Armut und Not in der Welt auch heute Gottesferne suggerieren: Gott ist da. Rettend, heilend, versöhnend, erlösend, aber eben ganz anders als erwartet. Es gibt in dieser heillos zerfahrenen Welt einen Grund der Hoffnung: Jesus Christus. Dieses Bekenntnis ist die Grundlage jeder christlichen Kultur.

Wenn es ein wirksames Mittel gegen die um sich greifende Angst vor Identitätsverlust gibt, dann das mutige Bekenntnis der Christen zu ihrem Glauben – in Wort und Tat. Dieses Bekenntnis schulden Christen nicht nur Menschen in Not, die Hilfe und Zuflucht suchen. Sie schulden es auch einer säkularen Gesellschaft, die sich mehr und mehr der Wurzeln ihrer christlichen Kultur beraubt und dadurch Halt und Humanität verliert. In Syrien und im Irak sterben Christen für dieses Bekenntnis am Kreuz, bei uns verkommt Glaube zur Privatsache. Auch die Kirchen sind gerufen, daraus Konsequenzen zu ziehen, ihre Themenagenda kritisch zu prüfen und wieder missionarisch Kirche zu sein. Weihnachten ist keine Privatangelegenheit. Weihnachten geht alle an. Weihnachten löst die Angst.

Der Retter ist geboren.

Eine Antwort auf Glaube ganz ohne Lametta

  • Der Blick in die Bibel aber zeigt noch einen weiteren, mindestens so wichtigen, wenn nicht entscheidenderen Aspekt von Weihnachten. “Er wird sein Volk von seinen Sünden erlösen!” Wo die Erlösung aus Sünde und Schuld, nicht zuletzt der eigenen (was etwas anderes ist als die Befreiung von den Folgen des Bösen in der Welt) in der Weihnachtsbotschaft und in der Feier von Weihnachten nicht mehr zentral ist, da ist sie nicht mehr christlich, denn “das tun auch die Heiden. “Die Geburt unseres Herrn ist der erste Schritt auf seinem Kreuzweg” las ich kürzlich irgendwo. Das erinnerte mich an den Kolosserbrief: “Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Friede gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.” Weihnacht als Fest des Friedens, ja, aber bitte ohne diesen zentralen Punkt auszuklammern.

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