„Zu sagen, wir schaffen nicht alles, ist nicht herzlos”

Kapellari: „Zu sagen, wir schaffen nicht alles, ist nicht herzlos”

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Österreichs langjähriger „Europabischof“ Egon Kapellari warnt die Kirche vor Naivität im Umgang mit der Flüchtlingskrise. Die Bergpredigt mit ihrer Einladung zu bedingungsloser Nächstenliebe sei zwar ein „unverzichtbarer Zielhorizont“ christlichen und politischen Handelns, könne aber nicht „eins zu eins auf die Ebene einer Staatsverfassung heruntergebrochen werden“, sagte Kapellari im Gespräch mit Radio Vatikan. Realistisch zu sagen, „wir schaffen nicht alles“, sei nicht herzlos, „sondern eine Synthese von Glaube und Vernunft“. Zugleich forderte der Bischof von den Christen „Engagement, bis es wehtut“. Nur wer hier an seine Grenzen gehe, habe das Recht, in der Frage von Migration und Integration mitzureden.

Der emeritierte Diözesanbischof von Graz-Seckau ist derzeit auf Einladung des Ratzinger-Schülerkreises in Castel Gandolfo. In seinem Referat skizziert er an diesem Freitag vor den dort zur Jahresversammlung tagenden Theologen „fünf alte und neuer Herausforderungen für die Christen auf dem Bauplatz Europa“, so der Titel seines Vortrags. Gudrun Sailer interviewte Bischof Kapellari in Castel Gandolfo und fragte ihn nach der Prämisse, die er seinem Referat voranstellen wollte.

„Ich möchte generell sagen, dass die Kirche Europa nicht aufgeben soll und sich in Europa nicht aufgeben soll. Obwohl sie eine Weltkirche ist und weiss, dass der Leuchter des Evangeliums im Lauf der Geschichte gewandert ist. Das Wort Krise ist ein generaldiagnostisches Wort für die ganze Welt heute, für Europa und auch für die Kirche in Europa. Aber Krise ist ein doppeldeutiges Wort. Krise kann eine Chance sein zu Neuem und Besserem. Bevor die Chance sich bewährt, müssen wir die Spannungen benennen, nicht schönreden, und sie auch aushalten. Das Benennen und Aushalten ist schon ein Mindestvorgang für eine Besserung und Heilung. Zudecken und Schönreden tut das nicht.“

RV: Krisen, Herausforderungen, Chancen, Sie benennen in Ihrem Vortrag fünf davon, alte und neue: das Verdunsten des Glaubens, die Ökumene, den Lebensschutz, und die beiden im Moment wohl am bedrängendsten, zumindest aus gesamtgesellschaftlicher Sicht: Migration und Islam. Stichwort Migration und Integration: was muss aus Ihrer Sicht geschehen, auch innerhalb der Kirchen, damit der Kontinent an dieser Krise nicht zerbricht?

Kapellari: „Ich plädiere dafür, dass die Kirche auf jeder Ebene ihrer Verantwortung einen realistischen Idealismus findet und nicht einen noch so gut gemeinten „Nur-Idealismus“, den man im Jargon oft blauäugig genannt hat, und nicht grundlos. Die Bergpredigt ist ein Zielhorizont, der unverzichtbar ist. Aber er kann nicht auf die Ebene einer Staatsverfassung eins zu eins heruntergebrochen werden, sondern die Spannung zwischen einem Ideal, das bleiben muss, sonst verlieren wir unsere Identität, und der Wirklichkeit besteht und kann nicht aufgehoben werden durch einen Idealismus, der die Wirklichkeit ausser Acht lässt.

RV: Welche Schwierigkeiten sehen Sie voraus?

Kapellari: „Wenn die Zahl der Immigranten, nicht nur Flüchtlinge auch andere, die ein besseres Leben wollen, was verständlich ist, wenn die Zahl rasch grösser wird, dann gibt es eine programmierte Instabilität. Und die hält, schlicht gesagt, der Kontinent nicht aus, ausser er würde Zustände wie im Libanon oder in Jordanien aushalten. Das wollen wir nicht, und ich glaube nicht, dass es unsere Berufung ist. Daher ist ein Realismus, der sagt, wir schaffen nicht alles, nicht eine Konsequenz von Herzlosigkeit, sondern eine Synthese von Vernunft und Glauben. Andererseits sollten in dieser Frage nur solche mitreden, die wirklich selber, privat und im kleinen Kreis helfen und Not lindern, bis es ihnen wehtut. Aber dann, wenn sie das tun – man tut es ja nie genug – dann muss auch klar werden, dass die Verfassung eines Staates nicht einfach die Bergpredigt voll integrieren kann. Die Bergpredigt bleibt darüber. Bismarck soll gesagt haben, man kann mit der Bergpredigt keinen Staat regieren. Ich stimme dem zu. Ich füge aber hinzu, ohne reichlich gelebte Elemente der Bergpredigt korrumpiert und korrodiert ein Gemeinwesen und sogar die Kirche. Ideal und Wirklichkeit müssen zusammen bleiben. Und dazwischen lebt man und man darf nicht bequem leben, man muss aber Ideale haben, die geerdet sind.“

RV: Das Kernproblem der massiven Einwanderung des letzten Jahres in Europa ist der religiöse Unterschied. Das führt uns zum Thema Islam, das Sie als einen der grossen Punkte in Ihrem Referat vor dem Schülerkreis benennen. Was muss man tun, was müssen nicht nur die Christen tun, damit das Zusammenleben auf diesem Kontinent eines Tages gelingen kann?

Kapellari: „Wir haben einige Hebel, um offensives Falschtun zu erschweren. Der Islam ist so vielgestaltig, und es gibt so viele edle Muslime, der edelste, den ich kenne, ist Navid Kermani. Und es gibt viele andere, die im Rahmen ihrer gewordenen Kultur sich ungeheuer schwertun mit der westlichen Welt – und umgekehrt. Das kann man nicht in kurzer Zeit harmonisieren. Wir sind keine Festung und wollen keine Zäune und Mauern bauen, die nicht notwendig sind. Wir dürfen aber umgekehrt nicht naiv sein.“

RV: Meinen Sie mit Naivität die bewusste Ausblendung von Tatsachen, die ein Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen in Europa erschweren?

Kapellari: „Die meisten Gruppen, die heute über das Problem der Migration und Integration reden, haben eines gemeinsam, obwohl sie sehr unterschiedlich sind: sie haben eine selektive Wahrnehmung. Wenn es nicht gelingt, die Hauptakteure zu einem umfassenderen Blick auf die Wirklichkeit, auf ihrer Chancen und Gefahren zu bringen. Dann wird es nicht weitergehen, man wird aneinanderstossen und nach dem Prinzip Versuch und Irrtum vorankommen, aber man verliert Energie. Wir brauchen bei der Bevölkerung, bei der Christenheit in ihrer Mitte in Europa, einen realistischen Idealismus und keinen blauäugigen Idealismus.“

RV: Sie sprechen vor den Ratzinger-Schülern auch über Lebensschutz, ein klassisches Kerngebiet der katholischen Kirche, das Nein zu Abtreibung, Euthanasie, bestimmten Auswüchsen der Fortpflanzungsmedizin. Sie sagen, wir Christen als Lebensschützer dürfen nicht nur Grenzen ziehen, indem wir sagen, das nicht, sondern wir müssen auch Grenzen öffnen, die Leben hindern. Das ist auch Papst Franziskus ein grosses Anliegen. Was ist damit genau gemeint?

Kapellari: „Es geht um eine Blickumkehr auf das, was man tun kann oder andere bewegen möchte nicht zu tun. Weil so viele andere unsere Position des Lebensschutzes in den bekannten Themen nicht teilen, sind wir ziemlich programmiert, uns auf die Verteidigung dessen zu fixieren, was uns unverzichtbar ist. Es braucht aber auch Kraft für das andere, für das geborene Leben: gegen Hunger und Massenelend in der Welt – ohne das andere zu vergessen. Wir brauchen immer wieder Allianzen auch mit dem, was wir mit anderen gemeinsam haben, damit Leben geschützt wird, damit Menschen auf der Welt besser leben können.“

Der 80-jährige Bischof Egon Kapellari war bis zu seiner Emeritierung im letzten Jahr innerhalb der österreichischen Bischofskonferenz für Europafragen zuständig. Er äusserte sich wiederholt skeptisch über einen möglichen Beitritt der Türkei in die EU.

rv 26.08.2016 gs

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