Gott aus dem Gewissen verbannt
Gott aus dem Gewissen verbannt – Gewissensfreiheit – woher und wozu? (8)
Quelle
Newman: Lehrer des Gewissens
John Henry Newman: Diverse Beiträge
Gewissen, Glaube und Kirche bei John Henry Newman, der im September seliggesprochen wird.
Würzburg, 26. März 2010 (Die Tagespost.de/ZENIT.org)
John Henry Newman wird mit Recht „Kirchenvater der Neuzeit“ genannt. Zu den schönsten Texten, die er uns hinterlassen hat, zählen seine Aussagen über das Gewissen. Er deutete das Gewissen nicht als Gegenpol zur Wahrheit, wie es heute weithin üblich ist, sondern als ihr eigentlicher Anwalt im Herzen des Menschen. Wir wollen in diesem Beitrag nicht seinem persönlichen Lebensweg nachgehen, der eine eindrucksvolle Bestätigung dieser seiner Überzeugung ist, sondern einige Kerngedanken über Gewissen, Glaube und Kirche zusammenfassen. Dazu ist es notwendig, zuerst kurz auf den Gewissensbegriff einzugehen.
Der Begriff des Gewissens hat heute unterschiedliche, zum Teil auch gegensätzliche Bedeutungen. Den Grund für diese Gegensätze beschreibt Newman mit folgenden Worten: „Was das Gewissen betrifft, gibt es zwei Weisen, wie die Menschen sich dazu verhalten. Bei der einen ist das Gewissen lediglich eine Art Gefühl des eigenen Selbst, eine Neigung, die uns das eine oder das andere nahelegt. Bei der anderen ist es das Echo der Stimme Gottes. Nun hängt alles an diesem Unterschied. Der erste Weg ist nicht der des Glaubens, der zweite ist es“. In seinem berühmten „Brief an den Herzog von Norfolk“ (1874) geht Newman auf diese beiden gegensätzlichen Auffassungen über den Begriff des Gewissens näher ein.
Auf eine rein innerweltliche Deutung reduziert
Die rein innerweltliche Deutung des Gewissens skizziert er so: „Wenn die Menschen die Rechte des Gewissens verteidigen, dann meinen sie in gar keinem Sinn die Rechte des Schöpfers, noch auch die Verpflichtung des Geschöpfes Ihm gegenüber in Gedanken und in der Tat; sie verstehen darunter vielmehr das Recht, zu denken, zu sprechen, zu schreiben und zu handeln, wie es ihrem Urteil oder ihrer Laune passt… Das Gewissen hat Rechte, weil es Pflichten hat. Doch in diesem Zeitalter besteht bei einem großen Teil des Volkes das eigentliche Recht und die Freiheit des Gewissens darin, vom Gewissen zu dispensieren… Man nimmt an, jeder habe einen Freibrief dafür, eine Religion zu haben oder nicht, sich dieser oder jener anzuschließen und sie dann wieder aufzugeben… Das Gewissen ist ein strenger Mahner; aber in diesem Jahrhundert ist es durch ein falsches Bild ersetzt worden, von dem die vorausgehenden achtzehn Jahrhunderte niemals gehört hatten und das sie auch nie mit dem Gewissen hätten verwechseln können, wenn sie davon gehört hätten. Es ist das Recht auf Eigenwillen.“
Diese Beschreibung trifft genau auf unsere Zeit zu: Das Gewissen wird weithin ganz mit der persönlicher Meinung, dem subjektiven Empfinden, dem Eigenwillen verwechselt. Es wird geradezu in sein Gegenteil verkehrt und bedeutet nicht mehr Verantwortung gegenüber dem Schöpfer, sondern vollständige Unabhängigkeit, totale Autonomie und Willkür. Schnell berufen sich die Menschen auf ihr Gewissen. Meistens meinen sie damit aber bloß die Stimme des eigenen Ich, den Eigenwillen. Das Heiligtum des Gewissens wurde „desakralisiert“. Gott wurde aus dem Gewissen verbannt. Die Folgen dieser gottlosen Auffassung des Gewissens, mit der man alles rechtfertigen kann, stehen uns allen schmerzlich vor Augen.
Für Newman ist das Gewissen aber keine gänzlich autonome, sondern eine wesentlich theonome Größe – ein Heiligtum, in dem Gott sich jeder Seele ganz persönlich zuwendet. Mit den großen Lehrern der Kirche bekräftigt er, dass der Schöpfer den vernunftbegabten Geschöpfen sein eigenes Gesetz eingepflanzt hat. „Dieses Gesetz wird Gewissen genannt, insofern es in die Seelen der einzelnen Menschen aufgenommen ist. Obgleich es beim Eintritt in das intellektuelle Medium eines jeden eine Brechung erleiden kann, wird es dadurch doch nicht so beeinträchtigt, dass es seinen Charakter als göttliches Gesetz verliert, sondern es hat als solches noch das Vorrecht, Gehorsam zu fordern.“ Wir müssen dem Gewissen gehorchen, weil es den Anspruch erhebt, das Echo der Stimme Gottes zu sein. Zugleich haben wir die Pflicht, es zu bilden, damit es Gottes Gesetz möglichst rein und ohne Brechung durchscheinen lässt.
Newman selbst beschreibt die Bedeutung und die Würde des Gewissens mit herrlichen Worten, die zum Teil in den „Katechismus der Katholischen Kirche“ eingegangen sind: „Richtschnur und Maßstab der Pflicht ist weder Nutzen noch Vorteil, noch das Glück der größten Zahl, noch das Staatswohl, noch Vorteil, noch Schicklichkeit, noch Ordnung, und auch nicht das pulchrum. Das Gewissen ist weder weitsichtige Selbstsucht noch das Verlangen, mit sich selbst in Einklang zu stehen; sondern es ist ein Bote von Ihm, der sowohl in der Natur als auch in der Gnade hinter einem Schleier zu uns spricht und uns durch seine Stellvertreter lehrt und regiert. Das Gewissen ist der ursprüngliche Statthalter Christi, ein Prophet in seinen Mahnungen, ein Monarch in seiner Bestimmtheit, ein Priester in seinen Segnungen und Bannflüchen. Selbst wenn das ewige Priestertum in der Kirche aufhören könnte zu existieren, würde im Gewissen das priesterliche Prinzip fortbestehen und seine Herrschaft ausüben.“
Im Gewissen hört der Mensch nicht bloß die Stimme des eigenen Ich. Newman vergleicht das Gewissen mit einem Engel – einem Boten Gottes, der hinter einem Schleier zu uns spricht. Ja, er wagt es sogar, das Gewissen den ursprünglichen Statthalter Christi zu nennen und ihm die drei „Ämter“ des Propheten, des Königs und des Priesters zuzusprechen. Prophet ist das Gewissen, weil es uns im Voraus eingibt, ob eine Handlung gut oder böse ist. König ist es, da es uns mit Autorität auffordert: Tu dies, meide jenes! Priester ist das Gewissen, weil es uns nach einer guten Tat segnet – damit ist die beglückende Erfahrung des guten Gewissens gemeint – beziehungsweise nach einer bösen Tat verurteilt – dies ist Ausdruck des bohrenden schlechten Gewissens. Wichtig für uns ist, dass das Gewissen wesentlich mit Gott zu tun hat. Es ist ein in die Natur jedes Menschen eingeschriebenes Prinzip, das Gehorsam fordert, das gebildet werden muss und das über sich selbst hinausweist – eben hin auf Gott.
Newman ist der Auffassung, dass der Gehorsam gegenüber dem Gewissen das Herz des Menschen für den Glauben an die Offenbarung vorbereitet. In dem großartigen Vortrag „Voraussetzungen für den Glauben“ (1856) nennt er einige Argumente, die zu dieser Schlussfolgerung führen.
Er geht davon aus, dass das Gewissen eine Stimme ist, die den Menschen unerbittliche Befehle erteilt. Diese Befehle verlangen von ihnen Gehorsam. Der Gehorsam aber ist genau jene innere Haltung, die es den Menschen leicht macht, die Wahrheit der Offenbarung im Glauben anzunehmen. „Da sie mit Gehorsam beginnen, schreiten sie weiter zu einem vertrauten Erfassen des Einen Gottes und zum Glauben an Ihn. Seine Stimme in ihnen legt Zeugnis ab für Ihn, und sie glauben Seinem eigenen Selbstzeugnis! Das ist also der erste Schritt in diesen guten Voraussetzungen, die zum Glauben an das Evangelium führen.“ Der Gehorsam ist die Grundhaltung des religiösen Menschen. Wer den Gehorsam in der Fügsamkeit gegenüber der Stimme des Gewissens einübt, wird sich nicht schwer tun, im Gehorsam des Glaubens die Offenbarung anzunehmen. Warum konnte die Purpurhändlerin Lydia die Verkündigung des heiligen Paulus so rasch annehmen als die erste Europäerin, die zum Glauben fand? – Für Newman ist die Antwort klar: Weil sie gottesfürchtig lebte und schon gelernt hatte, der Stimme Gottes im Gewissen zu gehorchen. Der Zusammenklang zwischen dieser inneren Stimme und der Predigt des Apostels machte es ihr leicht, den christlichen Glauben gehorsam anzunehmen.
In einem zweiten Hinweis legt Newman dar, dass die Stimme des Gewissens zwar herrisch und befehlend ist, jedoch nicht selten leise und undeutlich spricht. Oft ist es für die Menschen schwer, die Aufrufe des Gewissens von dem zu unterscheiden, was vom Stolz und von der Eigenliebe kommt. „So weckt die Gabe des Gewissens ein Verlangen nach etwas, was es selbst nicht gänzlich zu bieten vermag. Es flößt ihnen die Idee … von einem göttlichen Gesetz ein und das Verlangen, es in ganzer Fülle, nicht in Bruchstücken oder indirekter Eingebung zu besitzen. Es weckt in ihnen einen Durst, eine Ungeduld nach der Erkenntnis jenes unsichtbaren Herrn, Lenkers und Richters, der einstweilen nur im Verborgenen zu ihnen spricht, der leise zu ihrem Herzen redet, der ihnen etwas sagt, aber nicht annähernd so viel, wie sie wünschen und brauchen… Das ist die Definition, möchte ich sagen, jedes religiösen Menschen, der von Christus nichts weiß; er hält Ausschau.“ Die Gewissensbefehle sind oft unklar und lassen deshalb den Menschen Ausschau halten. Sie wecken in ihm das Verlangen nach einer klaren und sicheren Orientierung, die von Gott kommt und nicht dem Einfluss der Sünde und des Irrtums unterworfen ist.
Noch ein anderer Gedanke führt Newman zu derselben Schlussfolgerung. „Je mehr einer seinem Gewissen zu gehorchen sucht, desto mehr ist er beunruhigt über sich selbst, weil sein Gehorsam so unvollkommen ist. Sein Pflichtgefühl vertieft sich und sein Schuldbewusstsein verfeinert sich, und er wird mehr und mehr verstehen, wie viel ihm vergeben werden muss. Aber während er so in der Selbsterkenntnis wächst, versteht er dann auch mit wachsender Klarheit, dass die Stimme des Gewissens nichts Sanftes, nichts von Erbarmen in ihrem Klang hat. Sie ist streng, ja sogar hart. Sie spricht nicht von Verzeihung, sondern von Strafe. Sie verweist ihn auf ein künftiges Gericht, sagt ihm jedoch nicht, wie er ihm entgehen könne.“ Das Gewissen ist ein strenger Meister. Es hält uns unerbittlich unsere Sünden vor Augen, kann uns aber nicht von dieser Last befreien. So weckt es in uns die Sehnsucht nach dem wahren Frieden und nach der Versöhnung mit Gott. Diese Sehnsucht findet erst in der Botschaft vom Erlöser, der uns durch sein Opfer mit Gott versöhnt hat, ihre eigentliche und endgültige Erfüllung.
Schließlich müssen wir mit Newman noch einen Schritt weitergehen. Der Gehorsam gegenüber dem Gewissen führt den Menschen zum Glauben an Gott und weckt in ihm eine Sehnsucht, die ihn zur Fülle der Wahrheit in der katholischen Kirche hindrängt.
Spräche der Papst gegen das Gewissen, beginge er Selbstmord
Newman führt dabei vor allem zwei Gedankengänge an. Zum ersten: Wenn jemand die Sendung der Kirche im Glauben angenommen hat, befiehlt ihm niemand anderer als sein eigenes Gewissen, auf die Kirche und auf den Papst zu hören. Deshalb kann Newman schreiben: „Spräche der Papst gegen das Gewissen im wahren Sinne des Wortes, dann würde er Selbstmord begehen. Er würde sich den Boden unter den Füßen wegziehen… Auf das Gewissen und seine Heiligkeit gründet sich sowohl seine Autorität in der Theorie wie auch seine tatsächliche Macht.“ Wir gehorchen also dem Papst nicht, weil irgendjemand uns dazu zwingt, sondern weil wir persönlich im Glauben davon überzeugt sind, dass er der Stellvertreter Christi auf Erden ist und der Herr selbst durch ihn die Kirche leitet und in der Wahrheit erhält.
Nach Newman kann das Gewissen nicht in eine direkte Kollision mit der verbindlichen Glaubens- und Sittenlehre der Kirche kommen. Das Gewissen hat nämlich keine Kompetenz in Fragen der offenbarten Lehre, deren unfehlbare Hüterin die Kirche ist. Newman weiß, „dass in Sachen der Lehre die ,Hoheit des Gewissens‘ nicht der entsprechende Gerichtshofs ist für das, was ich für eine gültige Aussage über den Gegenstand halten möchte“. Ob jemand eine offenbarte und von der Kirche vorgelegte Lehre annimmt, ist primär nicht eine Frage von Gewissenhaftigkeit oder Gewissenlosigkeit, sondern von Glaube oder Unglaube. Wer also meint, aus Gewissensgründen eine von der Kirche vorgelegte Wahrheit ablehnen zu müssen, ist im Irrtum: Er lässt sich nicht vom Gewissen, sondern vom Unglauben leiten. Genauer gesagt: Sein Gewissen ist nicht vom Glauben erleuchtet, sondern befindet sich in der Dunkelheit des Irrtums. Das Gewissen des gläubigen Katholiken muss aber immer ein vom Glauben durchformtes und kirchliches Gewissen sein.
Die Autorität der Kirche und des Papstes hat aber Grenzen. Sie hat nichts mit Willkür oder weltlichen Herrschaftsmodellen zu tun. Die unfehlbare Autorität der Kirche reicht so weit, wie die Offenbarung reicht. Sie bezieht sich auf die Wahrheiten des Glaubens und der Sitten. Wenn der Papst Entscheidungen im Bereich der kirchlichen Ordnung, der Disziplin oder der Verwaltung trifft, beanspruchen solche Aussagen nicht, unfehlbar zu sein. Dies gilt noch mehr, wenn der Papst zu aktuellen Tagesfragen Stellung nimmt.
Anwalt der Wahrheit und Echo der Stimme Gottes
Der gläubige Katholik wird Entscheidungen und Aussagen solcher Art im Gehorsam annehmen, um die Einheit der Kirche nicht zu gefährden. In Einzelfällen kann sein Gewissen jedoch in Fragen dieser Art zu einer Auffassung kommen, die nicht mit jener des Papstes übereinstimmt. Aber auch hier setzt Newman strenge Maßstäbe an: Ein Katholik, so schreibt er, „muss jenen niedrigen, unedlen, selbstsüchtigen, vulgären Geist seiner Natur überwinden, der schon bei der ersten Kunde von einem Befehl sich sofort dem Vorgesetzten gegenüber, der ihn gibt, in Opposition setzt und fragt, ob jener nicht sein Recht überschreite… Er darf nicht eigensinnig dazu entschlossen sein, ein Recht zu beanspruchen, zu denken, zu sagen und zu tun, was ihm gerade beliebt, und die Frage nach Wahrheit und Irrtum, nach Recht und Unrecht, die Pflicht, wenn möglich zu gehorchen, und die Neigung, zu sprechen, wie sein Oberhaupt spricht, und in allen Fällen auf der Seite seines Oberhauptes zu stehen, nicht einfach beiseite schieben. Würde diese notwendige Regel beachtet, dann kämen Zusammenstöße zwischen der Autorität des Papstes und der Autorität des Gewissens nur sehr selten vor. Auf der anderen Seite haben wir schließlich in der Tatsache, dass das Gewissen jedes Einzelnen in außergewöhnlichen Fällen frei ist, einen Garanten und eine Bürgschaft… dafür, dass kein Papst jemals imstande sein wird, wie der Einwand annimmt, für seine eigenen Zwecke ein falsches Gewissen zu schaffen.“
Im „Brief an den Herzog von Norfolk“ schließt Newman seine Ausführungen über das Gewissen mit dem oft zitierten Trinkspruch ab: „Wenn ich genötigt wäre, bei den Trinksprüchen nach dem Essen ein Hoch auf die Religion auszubringen…, dann würde ich trinken – freilich auf den Papst, jedoch zuerst auf das Gewissen und dann auf den Papst.“ Dieses Wort, das Newman wohl mit einem Augenzwinkern formuliert hat, bedeutet schlicht und einfach, dass unser Gehorsam gegenüber dem Papst kein blinder, sondern ein vom kirchlichen Gewissen gestützter Gehorsam ist. Wer im Glauben die Sendung des Papstes angenommen hat, wird ihm auch aus innerer Gewissensüberzeugung gehorchen. Insofern kommt tatsächlich zuerst das Gewissen, das vom Glauben erleuchtete Gewissen, und dann der Papst.
Der Begriff des Gewissens ist im heutigen Sprachgebrauch vieldeutig geworden. Kardinal Newman kann uns durch sein Leben und seine Lehre helfen, die wahre Bedeutung des Gewissens als Echo der Stimme Gottes neu zu erfassen und von falschen Auffassungen abzugrenzen. Newman verstand es, die Würde des Gewissens voll zur Geltung zu bringen, ohne von der objektiven Wahrheit abzuweichen. Er würde niemals sagen: Gewissen Ja! – Gott oder Glaube oder Kirche Nein!, sondern vielmehr: Gewissen Ja! – und gerade deswegen Gott und Glaube und Kirche ja! Das Gewissen ist der Anwalt der Wahrheit in unserem Herzen. Es ist „der ursprüngliche Statthalter Christi“.
[© Die Tagespost vom 20.3.2010]
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