Ein herausfordernder Gesprächspartner UPDATE

“Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt”

Die Tagespost, 17. August 2012, von René Kaufmann

“Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt” – Nur ein Zitat, das den französischen Philosophen, Theologen und Mathematiker Blaise Pascal unsterblich gemacht hat. Vor 350 Jahren, am 19. August 1662, ist er gestorben. Ein guter Anlass, um über die Modernität und Leidenschaft seines Denkens und Glaubens neu nachzudenken.

Der französische Mathematiker, Physiker, Entdecker, Logiker, Philosoph und Theologe Blaise Pascal wirkte zuerst durch Veröffentlichungen und Erfindungen im Rahmen der Mathematik und Physik. Dabei fällt schon früh eine vielfältige Konkretisierung seiner Schaffenskraft ins Auge: tritt doch von Anbeginn neben das abstrakt wissenschaftliche Interesse und die Vorliebe für die exakte und präzise, streng wissenschaftliche Darstellung der Zug zur lebenspraktischen Umsetzung und Anwendung dieses Wissens:

Was sich beispielsweise in der Erfindung einer mechanischen Rechenmaschine zeigt (der “Pascaline“), an deren Entwurf sich Pascal wohl vor allem deshalb wagte, um seinem Vater in dessen beruflicher Praxis als Steuerbeamtem ein hilfreiches Instrument für die alltäglichen Berechnungen zur Seite zu stellen.

Für seine religiöse und spirituelle Entwicklung wird die Bekanntschaft und Annäherung an Geist und Bewegung des Klosters Port-Royal prägend. Besonders intensive religiöse, mystische Erfahrungen (November 1654) – von denen sein bis zum Tode im Futteral seiner Kleidung verborgen gehaltenes Mémorial Zeugnis gibt – führen zum Anschluss an den Jansenismus, eine katholische Erneuerungsbewegung, die sich um das Kloster Port-Royal entfaltete. Sein sich danach verstärkendes Wirken im Sinne und Dienste dieser Bewegung schlägt sich beispielsweise publizistisch in den 1656–57 pseudonym erschienenen, rhetorisch glanzvollen, polemisch-ironischen Briefen in die Provinz (Lettres provinciales) nieder, in denen Pascal die Kasuistik und den ethischen Rigorismus der Jesuiten heftig kritisiert und demgegenüber die persönliche Frömmigkeit der Jansenisten verteidigt und vertritt.

Besondere rezeptionsgeschichtliche Wirkungen entfalteten seine Pensées sur la religion (Gedanken über die Religion), die nach seinem Tode unter seinen Aufzeichnungen gefunden und danach mehrfach in unterschiedlichen Zusammenstellungen publiziert wurden: Diese stellen fragmentarische Ansätze zu einer geplanten, jedoch unvollendet gebliebenen umfassenden Apologie des Christentums dar, dem grossen Projekt Pascals in seinen letzten Lebensjahren.

Was neben dem mannigfaltigen schöpferischen Wirken des so vielseitig begabten, oft kränkelnden und leidgebeugten genialen Intellektuellen, Polemiker und sensiblen Beobachter an Pascal so ungemein fasziniert und ihn bis in die Gegenwart als herausfordernden Gesprächspartner im religiösen und ausserreligiösen Diskurs attraktiv macht, ist die konsequente Rückbindung seines Fragens und Denkens an das persönliche Schicksal des Fragenden.

Von diesem her erhält das philosophisch-religiöse Fragen seine entscheidenden Impulse und auf dieses hin zielt auch sein Verlangen nach einer denkerischen Integration und Vereinigung der verschiedenen Wissens- und Lebensbereiche. Stilistisch und rhetorisch brillant vermag Pascal dies auch formal umzusetzen, sodass der Leser bei der Lektüre der Pensées nicht wirklich unbeteiligt bleiben kann und sich beständig zur eigenen Positionierung aufgefordert sieht. Diese Charakteristika gestatten es auch, in Pascal einen Vorbereiter der Existenzphilosophie, einer bestimmenden philosophischen Strömung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, zu sehen.

In mehrfacher Hinsicht wird Pascal dabei auch die Ergänzungsbedürftigkeit der so innig geliebten und betriebenen Mathematik und Naturwissenschaften deutlich. Seine radikalen, das heisst auf den Grund zielenden erkenntnistheoretischen Überlegungen berücksichtigen die Pluralität verschiedenster Wissensarten und deren nur relative, auf ihren jeweiligen spezifischen Gegenstandsbereich bezogene Gültigkeit. Sie thematisieren und problematisieren die Unfähigkeit der Wissenschaften zur Selbst(be)gründung und führen (noch weit vor Ludwig Wittgenstein) zur Einsicht, dass uns die exakten Wissenschaften trotz all ihrer Strenge, Evidenz und Präzision hinsichtlich unserer zentralen, das eigene Dasein betreffenden Fragen nicht wirklich helfen, uns dazu keine brauchbaren Auskünfte geben können.

Wissenschaften, theoretisches Wissen und die über ihre eigenen Grenzen aufgeklärte Vernunft weisen insofern ergänzungsbedürftig auf andere elementarere Instanzen: Dem Herzen und seiner “Vernünftigkeit”, seinen dem Verstand unbekannten Gründen (“logique du coeur”) räumt Pascal diese konstitutive Fundierungskraft und Begründungsmacht ein. Keineswegs zum Irrationalismus in Glaubensfragen auffordernd stellt Pascal dennoch heraus, dass es das Herz (und nicht der Verstand) sei, das Gott fühlt, und dass genau darin Glaube bestünde.

Der existenzielle Focus prägt auch sein Interesse am Menschen: In Pascals berühmter Metapher vom Menschen als dem “denkenden Schilfrohr” konzentrieren sich seine spannungsvollen, paradoxen anthropologischen Befunde. Seine religiöse Anthropologie ist dabei zugleich eine dialektische, insofern Pascal die Natur des Menschen zwischen “Grösse und Elend” ausgespannt sieht: Fragil, endlich und den elementaren Kräften der Natur ausgesetzt wie ein schwaches, zerbrechliches Schilfrohr kommen ihm als Fluch und Segen doch zudem Bewusstsein und Möglichkeiten zur Reflexion über diesen seinen Status zu. Ganz modern und gegenwärtig ist uns Pascal in diesem Blick auf unsere widerspruchsvolle Natur als endliche, vielfältig begrenzte, nach Glück, Erkenntnis und Wahrheit trachtende Wesen.

Dieser existenziellen Situation und ambivalenten Stellung des “Menschen im Kosmos” wird so auch nur eine Haltung gerecht, welche weder einseitig die Sonderstellung und Würde als animal rationale betont, noch die Nichtigkeit seiner Handlungen und Lebensvollzüge sowie seine Endlichkeit und Verlorenheit angesichts der unermesslichen, schauerlich schweigenden Weiten des leeren Universums alleine zur Grundlage einer Bestimmung des Menschen heranzieht. Ebenso wenig angemessen (wenn auch für Pascal als menschlich-allzumenschlich nachvollziehbar) erscheint ihm eine Flucht in die vielfältigen Formen der “Zerstreuung”: Bei diesen wird letztlich auf verschiedenen Wegen (so beispielsweise vermittels rast- und seelenloser Tätigkeiten und Unternehmungen, Belustigungen und Spiele) versucht, dem Gedanken an dieses (eigene) menschliche Elend auszuweichen, der Langeweile und dem Überdruss (ennui) angesichts “des natürlichen Unglücks unseres schwachen und sterblichen Zustandes, der so erbärmlich ist, dass nichts uns trösten kann, wenn wir ihn näher betrachten” zu entgehen, um so der trügerischen Illusion eines glücklichen Daseins folgen zu können. Doch gerade darin sieht Pascal “unser grösstes Unglück”, weil es uns “hauptsächlich davon abhält, an uns zu denken, und uns zugrunde richtet, ohne dass wir es merken”.

Das geforderte luzide, wache Bewusstsein hinsichtlich des eigenen Elends – bleibt es ohne Glauben – führt jedoch, so Pascal, zur Verzweiflung, so wie umgekehrt ein Glaube und eine vermeintliche Erkenntnis Gottes, welche das menschliche Elend ignoriert, zum Hochmut führen muss. Im christlichen Welt- und Menschenbild sieht Pascal beides angemessen integriert, findet sich doch darin, sowohl die durch die Schöpfung konstituierte Grösse als auch das mit dem Sündenfall einhergehende Elend, die Erlösungsbedürftigkeit der Kreatur sowie eine Heilsperspektive. Pascals Christentum kreist hierbei vor allem um die Person Jesus Christus, die sowohl Gott als auch menschliches Elend repräsentiert.

Pascals am Schicksal des Einzelnen sich entzündendes, existenzielles Fragen nach dem Menschen, seiner Stellung im Kosmos und vor Gott vermag auch heute, 350 Jahre nach seinem Tode, die Leser zu packen, zu irritieren und aus der Zerstreuung zum Ernst des eigenen Daseins in seiner Grösse und seinem Elend zu führen, wovon das Wagnis einer Lektüre seiner Pensées überzeugen wird.

BlaisePascale
Literatur zu Blaise Pascal

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