Das Drama der menschlichen Existenz
“Zu behaupten, dass die Menschheit nicht verwundet ist, wäre absurd”
Von Guido Horst
In seinem einzigen Interview als emeritierter Papst zeigt sich Benedikt XVI. sicher, „dass sich unter der Oberfläche der Selbstsicherheit und der Selbstgerechtigkeit des heutigen Menschen doch ein tiefes Wissen um seine Verwundung, um seine Unwürdigkeit Gott gegenüber verbirgt. Er wartet auf Barmherzigkeit“. Dieses Editorial ist in Tagen geschrieben, in denen viel von „Verwundungen“ zu lesen ist. Allein dreihundert Verletzte gab es bei den Anschlägen von Brüssel – und auch die Zahl der Toten war hoch. Es war nicht das erste Attentat in einer langen Folge von blutigen Gewaltakten, die zu dem sonderbaren Krieg der neuen Art gehören, den die Zeitgenossen seit Beginn des Jahrhunderts erleben. Zu behaupten, dass die Menschheit nicht verwundet ist, wäre absurd.
Das ist sie und war sie immer – wenn es auch Jahrhunderte gab, in denen die Sehnsucht nach Erlösung, nach Barmherzig und Vergebung wesentlich stärker zu spüren war als heute. Immerhin hat das weit verbreitete Empfinden, von Schuld, Sünde und der Schwäche der eigenen Natur erdrückt zu werden, einen Papst Ende des dreizehnten Jahrhundert dazu geführt, für 1300 das erste Heilige Jahr der katholischen Kirche auszurufen.
Aber heute ist es eigentlich noch offenbarer geworden, dass der nach dem Abbild Gottes geschaffene Mensch an einer inneren Verwundung leidet, die der Katechismus Erbschuld nennt. Es stimmt etwas nicht im Menschengeschlecht. Verblendung, Gewalt, Mangel an Liebe und Gottesfurcht gehören zu unserem Alltag wie in allen Zeiten. Und dennoch ersehnt jeder, so lehren es Johannes Paul II., Benedikt XVI. und jetzt vor allem Papst Franziskus, das göttliche Erbarmen. Es ist das Thema von Ostern. Gott hat sich seiner Menschengeschöpfe erbarmt und seinen einzigen Sohn gesandt, um die Welt zu erlösen. Durch Leiden, Tod und die Auferstehung. Die grosse Verwundung, die sich der Mensch durch die Sünde zugezogen hatte, wurde geheilt, das Reich Gottes kam auf Erden und breitet sich aus, auch wenn der Kampf zwischen Gut und Böse bis zum letzten Tage weitergeht. Es ist ein grosses Geheimnis, das sich nicht bis zum Letzten verstehen lässt, das aber alles erklärt, was in der Welt geschieht. Keine Utopie, keine Ideologie und auch nicht die Wissenschaften können das Drama der menschlichen Existenz so gut entschlüsseln wie der christliche Glaube. So wunderbar der Mensch in seinen besten Absichten ist, in seiner Bereitschaft zu Liebe und Grosszügigkeit, in seinen intellektuellen Fähigkeit und in seiner Schaffenskraft, so verwundet ist er auch und anfällig für das Schlimme und Böse. Die Auferstehung des Gottessohns hat diesen tiefen Spalt in der menschlichen Natur nicht geschlossen, aber überbrückt: Das Menschengeschöpf darf wieder hoffen, zu seinem Schöpfer zu kommen – für eine ganze Ewigkeit.
Das ist der Grund, warum der Christ zu Ostern glücklich sein darf. Auch wenn sich die Welt in jenem ominösen Krieg befindet, von dem unsere Titelgeschichte handelt. Und so lange die Kirche das Ostergeheimnis bewahrt, wird sie nicht untergehen. So lange ist sie stärker – auch wenn sie auf Erden den geheimnisvollen Riss der Urschuld tief in den eigenen Gliedern trägt. Felix culpa. Auch den überwindet die Osternacht.
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