Die Grenzen der Solidarität

Auf der Westbalkan-Route wird derzeit Flüchtlingspolitik nach dem Sankt-Florians-Prinzip gemacht

Von Stephan Baier

Die Tagespost, 29. Februar 2016

Auf der Westbalkan-Route wird derzeit Flüchtlingspolitik nach dem Sankt-Florians-Prinzip gemacht: Noch vor Jahresfrist herrschte in Europa Konsens, Griechenland in seiner selbst verschuldeten wirtschaftlich-finanziellen Misere nicht allein zu lassen, sondern solidarisch zu handeln. Heute wächst in Europa der Konsens, Griechenland mit seiner gar nicht selbst verschuldeten Flüchtlingsmisere allein zu lassen und nicht länger solidarisch handeln zu können. Alle sehen, dass in Griechenland bald nichts mehr funktioniert: humanitär, logistisch, wirtschaftlich, politisch. Aber jeder ist sich jetzt selbst der Nächste: Mazedonien leidet an starken Spannungen zwischen den politischen Lagern wie zwischen seinen Ethnien; Serbien hat ein traumatisierendes Vierteljahrhundert hinter sich und sucht seinen Platz in Europa; Kroatien kämpft sich mühevoll aus der Rezession; Slowenien ist vom Musterland zum Schuldenstaat abgerutscht. Selbst Österreich, wo im Vorjahr rund 90 000 Asylanträge gestellt wurden, sieht sich heute überfordert – nicht zuletzt von Mahnungen aus Brüssel und Berlin, Wien dürfe weder seine (Süd-)Grenzen dicht machen noch den Flüchtlingsstrom einfach (nach Norden) „durchwinken“. Dazu kommt, dass die Slowakei, Tschechien, Polen und Ungarn gerne mithelfen, die Flüchtlinge möglichst weit von ihrem eigenen Territorium entfernt zu stoppen.

Jetzt rächt sich, dass Athen seine EU-Mitgliedschaft seit Jahrzehnten als Privileg nutzt, Politik gegen die Nachbarn zu machen: gegen die Türkei wie gegen Mazedonien. Tsipras’ Drohung, Athen werde den EU-Beitrittsprozess seiner Nachbarn blockieren, wenn diese die Westbalkan-Route blockieren, wird in Skopje sarkastisch kommentiert: „Man kann einen toten Mann nicht töten“, sagt Mazedoniens Aussenminister Poposki. Griechenland hat sich den Luxus geleistet, jahrzehntelang türkische und mazedonische Interessen zu bekämpfen, und ist jetzt ganz einsam. Fakt ist auch, dass die Kleinstaaten zwischen der türkischen Westküste und der deutschen Südgrenze das Problem allein ob seiner Grösse nicht lösen können: Die betroffenen Staaten haben zwischen zwei (Slowenien, Mazedonien) und acht Millionen Einwohner (Serbien, Österreich). Selbst Griechenland hat mit zehn Millionen weniger Einwohner als Bayern.

Mit Deutschland und der Türkei stehen am Ziel wie am Start dieser Völkerwanderung zwei wirtschaftlich und politisch potente Staaten mit mehr als 80 Millionen Einwohnern. Die Staaten zwischen ihnen sind in jeder Hinsicht kleiner, krisenanfälliger und labiler. Viel mehr als reiner Selbstschutz und Agieren nach dem Sankt-Florians-Prinzip ist aus Wien, Ljubljana, Zagreb, Belgrad, Skopje und Athen darum kaum zu erwarten. Lösungsansätze, die über die schiere Überlebensfrage hinausgehen, sind angesichts der Grössenordnung der Flüchtlingswelle nur aus Ankara und Berlin zu erwarten. Das macht das EU-Gipfeltreffen mit der Türkei am 7. März so bedeutsam. Und das gibt dem wachsenden Widerstand gegen Angela Merkels Kurs innerhalb Deutschlands sein europaweites Gewicht. Ohne Deutschland und die Türkei wird es keine europäische Solidarität in der aktuellen Flüchtlingskrise geben. Erst recht nicht in der nächsten, die dann auf Europa zukommt, wenn der Libanon und Jordanien angesichts ihrer Überforderung kollabieren.

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