Schicksalsstunde für Europa

Niemand kann – solange der Krieg um Syrien andauert – die Flüchtlingskrise „lösen“

stephan baierVon Stephan Baier

Die Tagespost, 15. Februar 2016

Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Aber wenn die Teile dies nicht mehr erkennen oder wollen, wenn sie sich dem Ganzen verweigern und auseinanderstreben, dann bleiben nur Teile übrig und der Mehrwert verglüht. Das geschieht derzeit im vereinten Europa: Niemand kann – solange der Krieg um Syrien andauert – die Flüchtlingskrise „lösen“. Doch der Vorschlag der EU-Kommission, die Lasten dieser Krise gemeinsam zu tragen und zunehmend zu ordnen, scheitert an der mangelnden Bereitschaft der EU-Mitgliedstaaten. Vor Monaten war Ungarn mit seiner schroff ablehnenden Haltung noch allein; vor Wochen schien die EU gespalten in die „Koalition der Willigen“ und den Rest; heute steht Angela Merkel recht einsam auf europäischer Flur.

Freilich, da sind noch die EU-Kommission und das kleine Luxemburg, das aktuell den Vorsitz im EU-Rat führt. Ob sie noch die Kraft aufbringen, die Zentrifugalkräfte in Europa auszugleichen und in einem Kraftakt einen neuen Kompromiss zu erzwingen, das wird sich am Freitag zeigen.

Luxemburgs Aussenminister Jean Asselborn warnt nun Polen, Tschechien, die Slowakei und Ungarn davor, zum „Verein der Abtrünnigen“ zu werden. EU-Ratspräsident Donald Tusk führt Marathongespräche, um einen Deal für Grossbritannien auszuloten. Auch Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker ist hinter den Kulissen hochaktiv. Ob all das ausreicht, das europäische Schiff noch einmal zwischen Skylla und Charybdis hindurchzusegeln, ist aber fraglich geworden. Nicht nur die Regierungschefs aus Warschau, Prag, Bratislava und Budapest vertrauen nicht mehr auf Merkels Führungsstärke und auf eine europäische Lösung. Nicht nur sie und der britische Premierminister schielen mehr auf nationale Umfragewerte und Befindlichkeiten als auf die Strategien in Brüssel und Berlin. Selbst die französische Regierung will nicht mehr im Gleichschritt mit Merkel gehen. Wenn es beim EU-Gipfel in dieser Woche nicht gelingt, zu einem tragfähigen Konsens und zu einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu finden, dann wird es ganz eng: für Angela Merkel in Berlin, aber auch für die europäische Sache insgesamt.

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